Wege der psychoanalytischen Therapie 1919-001/1922
  • S.

    III.

    WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE.*)

    (Rede, gehalten auf dem V. psychoanalytischen Kongreß in Budapest,
    September 1918.)

    Meine Herren Kollegen!

    Sie wissen, wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit
    und Abgeschlossenheit unseres Wissens und Kønnens; wir
    sind, wie früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvoll-
    kommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzu-
    lernen und an unserem Vorgehen abzuåndern, was sich durch
    Besseres ersetzen läßt.

    Da wir nun nach langen, schwer durchlebten Jahren der
    Trennung wieder einmal zusammengetroffen sind, reizt es
    mich, den Stand unserer Therapie zu revidieren, der wir ja
    unsere Stellung in der menschlichen Gesellschaft danken, und
    Ausschau zu halten, nach welchen neuen Richtungen sie sich
    entwickeln könnte.

    Wir haben als unsere ärztliche Aufgabe formuliert, den
    neurotisch Kranken zur Kenntnis der in ihm bestehenden
    unbewußten, verdrängten Regungen zu bringen und zu diesem
    Zwecke die Widerstände aufzudecken, die sich in ihm gegen
    solche Erweiterung seines Wissens von der eigenen Person
    stråuben. Wird mit der Aufdeckung dieser Widerstände auch
    deren Überwindung gewährleistet? Gewiß nicht immer, aber

    *) Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, V. 1919.

  • S.

    III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 147

    wir hoffen, dieses Ziel zu erreichen, indem wir seine Uber-
    tragung auf die Person des Arztes ausniitzen, um unsere
    Überzeugung von der UnzweckmiBigkeit der in der Kind-
    heit vorgefallenen Verdrångungsvorgånge und von der Un-
    durchführbarkeit eines Lebens nach dem Lustprinzip zu der
    seinigen werden zu lassen. Die dynamischen Verhältnisse des
    neuen Konflikts, durch den wir den Kranken führen, den
    wir an die Stelle des fritheren Krankheitskonflikts bei ihm
    gesetzt haben, sind von mir an anderer Stelle klargelegt wor-
    den. Daran weiß ich derzeit nichts zu ändern.

    Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken “las ver-
    drängte Seelische in ihm zum Bewußtsein bringen, haben wir
    Psychoanalyse genannt. Warum „Analyse“, was Zerlegung,
    Zersetzung bedeutet und an eine Analogie mit der Arbeit des
    Chemikers an den Stoffen denken 1806, die er in der Natur
    vorfindet und in sein Laboratorium bringt? Weil eine solche
    Analogie in einem wichtigen Punkte wirklich besteht. Die
    Symptome und krankhaften Äußerungen des Patienten sind
    wie alle seine seelischen Tåtigkeiten hochzusammengesetzter
    Natur; die Elemente dieser Zusammensetzung sind im letzten
    Grunde Motive, Triebregungen. Aber der Kranke weiB von

    diesen elementaren Motiven nichts oder nur sehr Ungeniigen-

    des. Wir lehren ihn nun die Zusammensetzung dieser hoch-
    komplizierten seelischen Bildungen verstehen, führen die
    Symptome auf die sie motivierenden Triebregungen zurück,
    weisen diese dem Kranken bisher unbekannten Triebmotive
    in den Symptomen nach, wie der Chemiker den Grundstoff,
    das chemische Element, aus dem Salz ausscheidet, in dem
    es in Verbindung mit anderen Elementen unkenntlich ge-
    worden war. Und ebenso zeigen wir dem Kranken an seinen
    nicht für krankhaft gehaltenen seelischen Äußerungen, daß

    107

  • S.

    SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.

    ihm deren Motivierung nur unvollkommen bewußt war, daß
    andere riebmotive bei ihnen mitgewirkt haben, die ihm un-
    erkannt geblieben sind.

    Auch das Sexualstreben der Menschen. haben wir er-
    klärt, indem wir es in seine Komponenten zerlegten, und
    wenn wir einen Traum deuten, gehen wir so vor, daß wir
    den Traum als Ganzes vernachlässigen und die Assoziation
    an seine einzelnen Elemente anknüpfen,

    Aus diesem berechtigten Vergleich der ärztlichen psycho-
    analytischen Tätigkeit mit einer chemischen Arbeit könnte
    sich nun eine Anregung zu einer neuen Richtung unserer
    Therapie ergeben. Wir haben den Kranken analysiert,
    das heißt seine Seclentätigkeit in ihre elementaren Bestand-
    teile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm
    aufgezeigt; was lige nun näher als zu fordern, daß wir ihm
    auch bei einer neuen und besseren Zusammensetzung derselben
    behilflich sein müssen? Sie wissen, diese Forderung ist auch
    wirklich erhoben worden. Wir haben gehórt: Nach der Ana-
    lyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese desselben
    folgen! Und bald hat sich daran auch die Besorgnis ge-
    knüpft, man kónnte zu viel Analyse und zu wenig Synthese
    geben, und das Bestreben, das Hauptgewicht der psycho-
    therapeutischen Einwirkung auf diese Synthese, eine Art
    Wiederherstellung des gleichsam durch die Vivisektion Zer-
    stórten zu verlegen.

    Ich kann aber nicht glauben, meine Herren, daß uns
    in dieser Psychosynthese eine neue Aufgabe zuwüchst. Wollte
    ich mir gestatten, aufrichtig und unhöflich zu sein, so würde
    ich sagen, es handelt sich da um eine gedankenlose Phrase.
    Ich bescheide mich zu bemerken, daß nur eine inhaltsleere
    Überdehnung eines Vergleiches, oder, wenn Sie wollen, eine

  • S.

    111. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 149

    unberechtigte Ausbeutung einer Namengebung vorliegt. Aber
    ein Name ist nur eine Etikette, zur Unterscheidung von an-
    derem, ähnlichem, angebracht, kein Programm, keine Inhalts-
    angabe oder Definition. Und ein Vergleich braucht das Ver-
    glichene nur an einem Punkte zu tangieren und kann sich
    in allen anderen weit von ihm entfernen. Das Psychische
    ist etwas so einzig Besonderes, daß kein vereinzelter Ver-
    gleich seine Natur wiedergeben kann. Die psychoanalytische
    Arbeit bietet Analogien mit der chemischen Analyse, aber
    eben solche mit dem Eingreifen des Chirurgen oder der Ein-
    wirkung des Orthopäden oder der Beeinflussung des Er-
    zichers, Der Vergleich mit der chemischen Analyse findet
    seine Begrenzung darin, daß wir es im Seelenleben mit Stre-
    bungen zu tun haben, die einem Zwang zur Vereinheitlichung
    und Zusammenfassung unterliegen. Ist es uns gelungen, ein
    Symptom zu zersetzen, eine Triebregung aus einem Zusammen-
    hange zu befreien, so bleibt sie nicht isoliert, sondern tritt
    sofort in einen neuen ein*).

    Ja im Gegenteil! Der neurotisch Kranke bringt uns ein
    zerissenes, durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben ent-
    gegen, und wåhrend wir daran analysieren, die Widerstånde

    ‚beseitigen, wächst dieses Seelenleben zusammen, fügt die
    große Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die Trieb-
    regungen ein, die bisher von ihm abgespalten und 8
    gebunden waren. So vollzieht sich bei dem analytisch Be-
    handelten die Psychosynthese ohne unser Eingreifen, auto-
    matisch und unausweichlich. Durch die Zersetzung der Sym-

    *) Ereignet sich doch während der chemischen Analyse etwas ganz
    Ähnliches, Gleichzeitig mit den Isolierungen, die der Chemiker erzwingt.
    vollziehen sich von ihm ungewollte Synthesen dank der freigewordenen
    Affinitåten und der Wahlverwandtschaft der Stoffe,

  • S.

    150 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.

    ptome und die Aufhebung der Widerstånde haben wir die

    Bedingungen fir sie geschaffen. Es ist nicht wahr, daß etwas
    in dem Kranken in seine Bestandteile zerlegt ist, was nun
    ruhig darauf wartet, bis wir es irgendwie zusammensetzen,

    Die Entwicklung unserer Therapie wird also wohl andere
    Wege einschlagen, vor allem jenen, den kürzlich Ferenczi
    in seiner Arbeit über „Technische Schwierigkeiten einer
    Hysterieanalyse“ (Nr, | dieses Jahrganges unserer Zeitschrift)
    als die „Aktivität“ des Analytikers gekennzeichnet hat.

    Kinigen wir uns rasch, was unter dieser Aktivität zu
    verstehen ist. Wir umschrieben unsere therapeutische Auf-
    gabe durch die zwei Inhalte: BewuBtmachen des Verdrängien
    und Aufdeckung der Widerstände, Dabei sind wir allerdings
    aktiv genug. Aber sollen wir es dem Kranken überlassen,
    allein mit den ihm aufgezeigten Widerständen fertig zu
    werden? Können wir ihm dabei keine andere Hilfe leisten,
    als er durch den Antrieb der Übertragung erfährt? Liegi
    es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch dadurch zu helfen,
    daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen, welche
    für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste
    ist. Seine Leistung ist doch auch abhängig von einer An-
    zahl von äußerlich konstellierenden Umständen, Sollen wir
    uns da bedenken, diese Konstellation durch unser Eingreifen
    in geeigneter Weise zu verändern? Ich meine, eine solche
    Aktivität des analytisch behandelnden Arztes ist einwandfrei
    und durchaus gerechtfertigt. .

    Sie bemerken, daß sich hier für uns ein neues Gebiet
    der analytischen Technik eröffnet, dessen Bearbeitung ein-
    gehende Bemühung erfordern und ganz bestimmte Vorschriften
    ergeben wird, Ich werde heute nicht versuchen, Sie in diese
    noch in Entwicklung begriffene Technik einzuführen, son-

  • S.

    111. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. ・ 151

    dern mich damit begniigen, einen Grundsatz hervorzuheben,
    dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete zu-
    fallen wird. Er lautet: Die analytische Kur soll, so-
    weit es möglich ist, in der Entbehrung .- Ab-
    stinenz — durchgeführt werden.

    Wie weit, es moglich ist, dies festzustellen, bleibe einer
    detaillierten Diskussion iiberlassen. Unter Abstinenz ist aber
    nicht die Entbehrung einer jeglichen Befriedigung zu ver-
    stehen — das wäre natürlich undurchführbar —, auch nicht,
    was man im populären Sinne darunter versteht, die Jint-
    haltung vom sexuellen Verkehr, sondern etwas anderes, was
    mit der Dynamik der Erkrankung und der Herstellung weit
    mehr zu tun hat.

    Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war,
    die den Patienten krank gemacht hat, daß seine Symptome
    ihm den Dienst von Ersatzbefriedigungen leisten. Sie können
    während der Kur beobachten, daß jede Besserung seines

    Leidenszustandes das Tempo der Herstellung verzögert. und
    die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese

    =

    [riebkraft können wir aber nicht verzichten; eine Verrin-
    gerung derselben ist für unsere Heilungsabsicht gefáhrlich.
    Welche Folgerung drängt sich uns also unabweisbar auf?
    Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das
    Leiden des Kranken in irgend einem wirksamen Maße kein
    vorzeitiges Ende finde. Wenn es durch die Zersetzung und

    Entwertung der Symptome crmáBigt worden ist, müssen wir

    es irgendwo anders als eine empfindliche Entbehrung wieder
    aufrichten, sonst laufen wir Gefahr, niemals mehr als be-
    scheidene und nicht haltbare Besserungen zu erreichen.

    Die Gefahr droht, soviel ich sehe, besonders von zwei
    Seiten. Einerseits ist der Patient, dessen Kranksein durch

  • S.

    152 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.

    die Analyse erschiittert worden ist, aufs emsigste bemiiht, sich
    an Stelle seiner Symptome neue Ersatzbefriedigungen zu
    schaffen, denen nun der Leidenscharakter abgeht. Er bedient
    sich der groBartigen Verschiebbarkeit der zum Teil frei ge-
    wordenen Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vor-
    lieben, Gewohnheiten, auch solche, die bereits früher be-

    standen haben, mit Libido zu ‘besetzen und sie zu Ersatz-

    befriedigungen ‚zu erheben, Er findet immer wieder neue
    solche Ablenkungen, durch welche die zum Betrieb der Kur
    erforderte Energie versickert, und weiß sie eine Zeitlang ge-
    heim zu halten. Man hat die Aufgabe, alle diese Abwege
    aufzuspüren und jedesmal von ihm den Verzicht zu ver-
    langen, so harmlos die zur Befriedigung führende Tätigkeit
    auch an sich erscheinen mag. Der Halbgeheilte kann aber
    auch minder harmlose Wege einschlagen, z. B. indem er,
    wenn ein Mann, eine voreilige Bindung an ein Weib aufsucht.
    Nebenbei bemerkt, unglückliche Ehe und körperliches Siech-
    tum sind die gebråuchlichsten Ablösungen der Neurose, Sie
    befriedigen insbesondere das _ SchuldbewuBtsein (Strafbe-
    diirfnis), welches viele Kranke so zåhe an ihrer Neurose
    festhalten läßt. Durch eine ungeschickte Ehewahl bestrafen
    sie sich selbst; langes organisches Kranksein nehmen sie als
    eine Strafe des Schicksals an und verzichten dann häufig
    auf eine Fortführung der Neurose.

    Die Aktivität des Arztes muß sich in all solchen Situa-
    tionen als energisches Einschreiten gegen die voreiligen Er-
    satzbefriedigungen äußern. Leichter wird ihm aber die Ver-
    wahrung gegen die zweite, nicht zu unterschätzende Gefahr,
    von der die Triebkraft der Analyse bedroht wird. Der Kranke
    sucht vor allem die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst
    im Ubertragungsverhåltnis zum Arzt und kann sogar danach

  • S.

    | III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 153

    streben, sich auf diesem Wege für allen ihm sonst auferlegten
    Verzicht zu entschádigen, Einiges muß man ihm ja wohl
    gewähren, mehr oder weniger, je nach der Natur des Falles
    und der Eigenart des Kranken. Aber es ist nicht gut, wenn
    es zuviel wird. Wer als Analytiker etwa aus der Fülle seines
    hilfsbereiten Herzens. dem Kranken alles spendet, was ein
    Mensch vom anderen erhoffen kann, der begeht denselben
    ökonomischen Fehler, dessen sich unsere nicht analytischen
    Nervenheilanstalten schuldig machen. Diese streben nichts
    anderes an, als es dem Kranken möglichst angenehm zu
    machen, damit er sich dort wohlfithle und gerne wieder dort-
    hin aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht nehme,
    Dabei verzichten sie darauf, ihn fiir das Leben stärker, fiir
    seine eigentlichen Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In
    der analytischen Kur muß jede solche Verwöhnung vermieden
    werden, Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt be-
    trifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten. Es ist
    zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die
    er am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert.
    Ich glaube nicht, daß ich den Umfang der erwünschten
    Aktivität des Arztes mit dem Satze: In der Kur sei die
    Entbehrung aufrecht zu Kalten, erschöpft habe. Eine andere
    Richtung der analytischen Aktivität ist, wie Sie sich er-
    innern werden, bereits einmal ein Streitpunkt zwischen uns
    und der Schweizer Schule gewesen. Wir haben es entschieden
    abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsere
    Hand begibt, zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal
    für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrången und ihn
    im Hochmut des Schôpfers zu unserem Ebenbild, an dem
    wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten. Ich halte an
    dieser Ablehnung auch heute noch fest und meine, daf hier

  • S.

    154 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.

    die Stelle für die ärztliche Diskretion ist, über die wir uns
    in anderen Beziehungen hinwegsetzen miissen, habe auch er-
    fahren, daß eine so weit gehende Aktivität gegen den Pa-
    tienten fir die therapeutische Absicht gar nicht erforderlich
    ist. Denn ich habe Leuten helfen können, mit denen mich
    keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse, Erziehung, sozialen Stel-
    lung und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigen-
    art zu stören, Ich habe damals, zur Zeit jener Streitigkeiten,

    allerdings den Eindruck empfangen, daß der Einspruch un-

    serer Vertreter — ich glaube, es war in erster Linie E.
    Jones — allzu schroff und unbedingt ausgefallen ist. Wir
    kónnen es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die
    so haltlos und existenzunfåhig sind, daß man bei ihnen die
    analytische Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen
    muß, und auch bei den meisten anderen wird sich hie und
    da eine Gelegenheit ergeben, wo der Arzt als Erzieher und
    Ratgeber aufzutreten genötigt ist. Aber dies soll jedesmal
    mit großer Schonung geschehen, und der Kranke soll nicht
    zur Ähnlichkeit mit uns, sondern zur Befreiung und Vollen-
    dung seines eigenen Wesens erzogen werden.

    Unser verehrter Freund J, Putnam in dem uns jetzt
    so feindlichen Amerika muß es uns verzeihen, wenn wir auch
    seine Forderung nicht annehmen können, die Psychoanalyse
    möge sich in den Dienst einer bestimmten philosophischen
    Weltanschauung stellen und diese dem Patienten zum Zwecke
    seiner Veredlung aufdrángen, Ich möchte sagen, dies ist
    doch nur Gewaltsamkeit, wenn auch durch die edelsten Ab-
    sichten gedeckt,

    Eine letzte, ganz anders geartete Aktivität wird uns
    durch die allmählich wachsende Einsicht aufgenótigt, daß
    die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nicht

  • S.

    ?

    III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE, 155

    durch. die nåmliche Technik erledigt werden können, Es
    wäre voreilig, hierüber ausführlich zu handeln, aber an
    zwei Beispielen kann ich erläutern, inwiefern dabei eine
    neue Aktivität in Betracht kommt. Unsere Technik ist an
    der Behandlung der Hysterie erwachsen und noch immer
    auf diese Affektion eingerichtet. Aber schon die Phobien
    nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten hinauszugehen.
    Man wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet, bis
    sich der Kranke durch die Analyse bewegen 1886, sie auf-
    zugeben. Er bringt dann niemals jenes Material in die Ana-
    lyse, das zur überzeugenden Lósung der Phobie unentbehrlich
    ist. Man muß anders vorgehen. Nehmen Sie das Beispiel
    eines Agoraphoben; es gibt zwei Klassen von solchen, eine
    leichtere und eine schwerere, Die ersteren haben zwar jedes-
    mal unter der Angst zu leiden, wenn sie allein auf die

    Straße gehen, aber sie haben darum das Alleingehen noch
    nicht aufgegeben; die anderen schützen sich vor der Angst,

    indem sie auf das Alleingehen verzichten. Bei diesen letzteren
    hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den Einfluf
    der Analyse bewegen kann, sich. wieder wie Phobiker des
    ersten Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen
    und während dieses Versuches mit der Angst zu kämpfen.
    Man bringt es also zunächst dahin, die Phobie so weit zu
    ermåfigen, und erst wenn dies durch die Forderung des
    Arztes erreicht ist, wird der Kranke jener Einfälle und Er-
    innerungen habhaft, welche die Lösung der Phobie ermóg-
    lichen,

    Noch weniger angezeigt scheint ein passives Zuwarten
    bei den schweren Fällen von Zwangshandlungen, die ja im
    allgemeinen zu einem „asymptotischen* Heilungsvorgang, zu
    einer unendlichen Behandlungsdauer neigen, deren Analyse

  • S.

    156 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.

    immer in Gefahr ist, sehr viel zu Tage zu fördern und nichts
    zu ändern, Es scheint mir wenig zweifelhaft, daß die richtige
    Technik hier nur darin bestehen kann, abzuwarten, bis die

    Kur selbst zum Zwang geworden ist, und dann mit diesem

    Gegenzwang den Krankheitszwang gewaltsam zu unterdrücken,
    Sie verstehen aber, daß ich Ihnen in diesen zwei Fällen nur
    Proben der neuen Entwicklungen vorgelegt habe, denen unsere
    Therapie entgegengeht.

    Und nun möchte ich zum Schlusse eine Situation ins
    Auge fassen, die der Zukunft angehört, die vielen von Ihnen
    phantastisch erscheinen wird, die aber doch verdient, sollte
    ich meinen, daß man sich auf sie in Gedanken vorbereitet.
    Sie wissen, daß unsere therapeutische Wirksamkeit keine sehr
    intensive ist. Wir sind nur cine Handvoll Leute, und jeder
    von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem
    Jahr nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen. Gegen
    das Übermaf von neurotischem Elend, das es in der Welt
    gibt und vielleicht nicht zu. geben braucht, kommt das, was
    wir davon wegschaffen kónnen, quantitativ kaum in Betracht.
    AuBerdem sind wir durch die Bedingungen unserer Existenz
    auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft einge-
    schränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei
    dieser Wahl durch.alle Vorurteile von der Psychoanalyse ab-
    gelenkt werden. Für die breiten Volksschichten, die unge-
    heuer schwer unter den Neurosen leiden, kónnen wir derzeit
    nichts tun.

    Nun lassen Sie uns annehmen, durch irgend eine Orga-
    nisation gelànge es uns, unsere Zahl so weit zu vermehren,
    daB wir zur Behandlung von gróferen Menschenmassen aus-
    reichen. Anderseits läßt sich vorhersehen: Irgend einmal wird
    das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen,

  • S.

    IIL WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 157

    daß der Arme ein chensolches Anrecht auf seelische Hilfe-
    leistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische,
    Und daß die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder be-

    drohen als die Tuberkulose und ebensowenig wie diese der

    ohnmächtigen Fürsorge des Einzelnen aus dem Volke iiber-
    lassen werden können, Dann werden also Anstalten oder
    Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanaly-
    tisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die
    sich sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter
    der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die
    Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neu-
    rose bevorsteht, durch Analyse widerstands- und leistungs-
    fähig zu erhalten, Diese Behandlungen werden unentgeltliche
    sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als
    lringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen
    en Termin noch länger hinausschieben, es ist wahrscheinlich,
    aß private Wohltätigkeit mit solchen Instituten den Anlang
    machen wird; aber irgend einmal wird es dazu kommen müssen,
    Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere
    Technik den neuen Bedingungen anzupassen, Ich zweifle nicht
    aran, daß die Triftigkeit unserer psychologischen Annahmen
    auch auf den Ungebildeten Eindruck machen wird, aber wir
    werden den einfachsten und greifbarsten Ausdruck unserer
    theoretischen Lehren suchen müssen. Wir werden wahrschein-
    ich die Erfahrung machen, daß der Arme noch. weniger zum
    Verzicht auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil
    das schwere Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und
    das Kranksein ihm einen Anspruch mehr auf soziale Hilfe
    bedeutet. Möglicherweise werden wir oft nur dann etwas
    leisten können, wenn wir die seelische Hilfeleistung mit ma-
    terieller Unterstützung nach Art des Kaiser Josefs ver-