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III.
WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE.*)
(Rede, gehalten auf dem V. psychoanalytischen Kongreß in Budapest,
September 1918.)Meine Herren Kollegen!
Sie wissen, wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit
und Abgeschlossenheit unseres Wissens und Kønnens; wir
sind, wie früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvoll-
kommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzu-
lernen und an unserem Vorgehen abzuåndern, was sich durch
Besseres ersetzen läßt.Da wir nun nach langen, schwer durchlebten Jahren der
Trennung wieder einmal zusammengetroffen sind, reizt es
mich, den Stand unserer Therapie zu revidieren, der wir ja
unsere Stellung in der menschlichen Gesellschaft danken, und
Ausschau zu halten, nach welchen neuen Richtungen sie sich
entwickeln könnte.Wir haben als unsere ärztliche Aufgabe formuliert, den
neurotisch Kranken zur Kenntnis der in ihm bestehenden
unbewußten, verdrängten Regungen zu bringen und zu diesem
Zwecke die Widerstände aufzudecken, die sich in ihm gegen
solche Erweiterung seines Wissens von der eigenen Person
stråuben. Wird mit der Aufdeckung dieser Widerstände auch
deren Überwindung gewährleistet? Gewiß nicht immer, aber*) Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, V. 1919.
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III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 147
wir hoffen, dieses Ziel zu erreichen, indem wir seine Uber-
tragung auf die Person des Arztes ausniitzen, um unsere
Überzeugung von der UnzweckmiBigkeit der in der Kind-
heit vorgefallenen Verdrångungsvorgånge und von der Un-
durchführbarkeit eines Lebens nach dem Lustprinzip zu der
seinigen werden zu lassen. Die dynamischen Verhältnisse des
neuen Konflikts, durch den wir den Kranken führen, den
wir an die Stelle des fritheren Krankheitskonflikts bei ihm
gesetzt haben, sind von mir an anderer Stelle klargelegt wor-
den. Daran weiß ich derzeit nichts zu ändern.Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken “las ver-
drängte Seelische in ihm zum Bewußtsein bringen, haben wir
Psychoanalyse genannt. Warum „Analyse“, was Zerlegung,
Zersetzung bedeutet und an eine Analogie mit der Arbeit des
Chemikers an den Stoffen denken 1806, die er in der Natur
vorfindet und in sein Laboratorium bringt? Weil eine solche
Analogie in einem wichtigen Punkte wirklich besteht. Die
Symptome und krankhaften Äußerungen des Patienten sind
wie alle seine seelischen Tåtigkeiten hochzusammengesetzter
Natur; die Elemente dieser Zusammensetzung sind im letzten
Grunde Motive, Triebregungen. Aber der Kranke weiB vondiesen elementaren Motiven nichts oder nur sehr Ungeniigen-
des. Wir lehren ihn nun die Zusammensetzung dieser hoch-
komplizierten seelischen Bildungen verstehen, führen die
Symptome auf die sie motivierenden Triebregungen zurück,
weisen diese dem Kranken bisher unbekannten Triebmotive
in den Symptomen nach, wie der Chemiker den Grundstoff,
das chemische Element, aus dem Salz ausscheidet, in dem
es in Verbindung mit anderen Elementen unkenntlich ge-
worden war. Und ebenso zeigen wir dem Kranken an seinen
nicht für krankhaft gehaltenen seelischen Äußerungen, daß107
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SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
ihm deren Motivierung nur unvollkommen bewußt war, daß
andere riebmotive bei ihnen mitgewirkt haben, die ihm un-
erkannt geblieben sind.Auch das Sexualstreben der Menschen. haben wir er-
klärt, indem wir es in seine Komponenten zerlegten, und
wenn wir einen Traum deuten, gehen wir so vor, daß wir
den Traum als Ganzes vernachlässigen und die Assoziation
an seine einzelnen Elemente anknüpfen,Aus diesem berechtigten Vergleich der ärztlichen psycho-
analytischen Tätigkeit mit einer chemischen Arbeit könnte
sich nun eine Anregung zu einer neuen Richtung unserer
Therapie ergeben. Wir haben den Kranken analysiert,
das heißt seine Seclentätigkeit in ihre elementaren Bestand-
teile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm
aufgezeigt; was lige nun näher als zu fordern, daß wir ihm
auch bei einer neuen und besseren Zusammensetzung derselben
behilflich sein müssen? Sie wissen, diese Forderung ist auch
wirklich erhoben worden. Wir haben gehórt: Nach der Ana-
lyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese desselben
folgen! Und bald hat sich daran auch die Besorgnis ge-
knüpft, man kónnte zu viel Analyse und zu wenig Synthese
geben, und das Bestreben, das Hauptgewicht der psycho-
therapeutischen Einwirkung auf diese Synthese, eine Art
Wiederherstellung des gleichsam durch die Vivisektion Zer-
stórten zu verlegen.Ich kann aber nicht glauben, meine Herren, daß uns
in dieser Psychosynthese eine neue Aufgabe zuwüchst. Wollte
ich mir gestatten, aufrichtig und unhöflich zu sein, so würde
ich sagen, es handelt sich da um eine gedankenlose Phrase.
Ich bescheide mich zu bemerken, daß nur eine inhaltsleere
Überdehnung eines Vergleiches, oder, wenn Sie wollen, eineS.
111. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 149
unberechtigte Ausbeutung einer Namengebung vorliegt. Aber
ein Name ist nur eine Etikette, zur Unterscheidung von an-
derem, ähnlichem, angebracht, kein Programm, keine Inhalts-
angabe oder Definition. Und ein Vergleich braucht das Ver-
glichene nur an einem Punkte zu tangieren und kann sich
in allen anderen weit von ihm entfernen. Das Psychische
ist etwas so einzig Besonderes, daß kein vereinzelter Ver-
gleich seine Natur wiedergeben kann. Die psychoanalytische
Arbeit bietet Analogien mit der chemischen Analyse, aber
eben solche mit dem Eingreifen des Chirurgen oder der Ein-
wirkung des Orthopäden oder der Beeinflussung des Er-
zichers, Der Vergleich mit der chemischen Analyse findet
seine Begrenzung darin, daß wir es im Seelenleben mit Stre-
bungen zu tun haben, die einem Zwang zur Vereinheitlichung
und Zusammenfassung unterliegen. Ist es uns gelungen, ein
Symptom zu zersetzen, eine Triebregung aus einem Zusammen-
hange zu befreien, so bleibt sie nicht isoliert, sondern tritt
sofort in einen neuen ein*).Ja im Gegenteil! Der neurotisch Kranke bringt uns ein
zerissenes, durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben ent-
gegen, und wåhrend wir daran analysieren, die Widerstånde‚beseitigen, wächst dieses Seelenleben zusammen, fügt die
große Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die Trieb-
regungen ein, die bisher von ihm abgespalten und 8
gebunden waren. So vollzieht sich bei dem analytisch Be-
handelten die Psychosynthese ohne unser Eingreifen, auto-
matisch und unausweichlich. Durch die Zersetzung der Sym-*) Ereignet sich doch während der chemischen Analyse etwas ganz
Ähnliches, Gleichzeitig mit den Isolierungen, die der Chemiker erzwingt.
vollziehen sich von ihm ungewollte Synthesen dank der freigewordenen
Affinitåten und der Wahlverwandtschaft der Stoffe,S.
150 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
ptome und die Aufhebung der Widerstånde haben wir die
Bedingungen fir sie geschaffen. Es ist nicht wahr, daß etwas
in dem Kranken in seine Bestandteile zerlegt ist, was nun
ruhig darauf wartet, bis wir es irgendwie zusammensetzen,Die Entwicklung unserer Therapie wird also wohl andere
Wege einschlagen, vor allem jenen, den kürzlich Ferenczi
in seiner Arbeit über „Technische Schwierigkeiten einer
Hysterieanalyse“ (Nr, | dieses Jahrganges unserer Zeitschrift)
als die „Aktivität“ des Analytikers gekennzeichnet hat.Kinigen wir uns rasch, was unter dieser Aktivität zu
verstehen ist. Wir umschrieben unsere therapeutische Auf-
gabe durch die zwei Inhalte: BewuBtmachen des Verdrängien
und Aufdeckung der Widerstände, Dabei sind wir allerdings
aktiv genug. Aber sollen wir es dem Kranken überlassen,
allein mit den ihm aufgezeigten Widerständen fertig zu
werden? Können wir ihm dabei keine andere Hilfe leisten,
als er durch den Antrieb der Übertragung erfährt? Liegi
es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch dadurch zu helfen,
daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen, welche
für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste
ist. Seine Leistung ist doch auch abhängig von einer An-
zahl von äußerlich konstellierenden Umständen, Sollen wir
uns da bedenken, diese Konstellation durch unser Eingreifen
in geeigneter Weise zu verändern? Ich meine, eine solche
Aktivität des analytisch behandelnden Arztes ist einwandfrei
und durchaus gerechtfertigt. .Sie bemerken, daß sich hier für uns ein neues Gebiet
der analytischen Technik eröffnet, dessen Bearbeitung ein-
gehende Bemühung erfordern und ganz bestimmte Vorschriften
ergeben wird, Ich werde heute nicht versuchen, Sie in diese
noch in Entwicklung begriffene Technik einzuführen, son-S.
111. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. ・ 151
dern mich damit begniigen, einen Grundsatz hervorzuheben,
dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete zu-
fallen wird. Er lautet: Die analytische Kur soll, so-
weit es möglich ist, in der Entbehrung .- Ab-
stinenz — durchgeführt werden.Wie weit, es moglich ist, dies festzustellen, bleibe einer
detaillierten Diskussion iiberlassen. Unter Abstinenz ist aber
nicht die Entbehrung einer jeglichen Befriedigung zu ver-
stehen — das wäre natürlich undurchführbar —, auch nicht,
was man im populären Sinne darunter versteht, die Jint-
haltung vom sexuellen Verkehr, sondern etwas anderes, was
mit der Dynamik der Erkrankung und der Herstellung weit
mehr zu tun hat.Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war,
die den Patienten krank gemacht hat, daß seine Symptome
ihm den Dienst von Ersatzbefriedigungen leisten. Sie können
während der Kur beobachten, daß jede Besserung seinesLeidenszustandes das Tempo der Herstellung verzögert. und
die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese=
[riebkraft können wir aber nicht verzichten; eine Verrin-
gerung derselben ist für unsere Heilungsabsicht gefáhrlich.
Welche Folgerung drängt sich uns also unabweisbar auf?
Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das
Leiden des Kranken in irgend einem wirksamen Maße kein
vorzeitiges Ende finde. Wenn es durch die Zersetzung undEntwertung der Symptome crmáBigt worden ist, müssen wir
es irgendwo anders als eine empfindliche Entbehrung wieder
aufrichten, sonst laufen wir Gefahr, niemals mehr als be-
scheidene und nicht haltbare Besserungen zu erreichen.Die Gefahr droht, soviel ich sehe, besonders von zwei
Seiten. Einerseits ist der Patient, dessen Kranksein durchS.
152 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
die Analyse erschiittert worden ist, aufs emsigste bemiiht, sich
an Stelle seiner Symptome neue Ersatzbefriedigungen zu
schaffen, denen nun der Leidenscharakter abgeht. Er bedient
sich der groBartigen Verschiebbarkeit der zum Teil frei ge-
wordenen Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vor-
lieben, Gewohnheiten, auch solche, die bereits früher be-standen haben, mit Libido zu ‘besetzen und sie zu Ersatz-
befriedigungen ‚zu erheben, Er findet immer wieder neue
solche Ablenkungen, durch welche die zum Betrieb der Kur
erforderte Energie versickert, und weiß sie eine Zeitlang ge-
heim zu halten. Man hat die Aufgabe, alle diese Abwege
aufzuspüren und jedesmal von ihm den Verzicht zu ver-
langen, so harmlos die zur Befriedigung führende Tätigkeit
auch an sich erscheinen mag. Der Halbgeheilte kann aber
auch minder harmlose Wege einschlagen, z. B. indem er,
wenn ein Mann, eine voreilige Bindung an ein Weib aufsucht.
Nebenbei bemerkt, unglückliche Ehe und körperliches Siech-
tum sind die gebråuchlichsten Ablösungen der Neurose, Sie
befriedigen insbesondere das _ SchuldbewuBtsein (Strafbe-
diirfnis), welches viele Kranke so zåhe an ihrer Neurose
festhalten läßt. Durch eine ungeschickte Ehewahl bestrafen
sie sich selbst; langes organisches Kranksein nehmen sie als
eine Strafe des Schicksals an und verzichten dann häufig
auf eine Fortführung der Neurose.Die Aktivität des Arztes muß sich in all solchen Situa-
tionen als energisches Einschreiten gegen die voreiligen Er-
satzbefriedigungen äußern. Leichter wird ihm aber die Ver-
wahrung gegen die zweite, nicht zu unterschätzende Gefahr,
von der die Triebkraft der Analyse bedroht wird. Der Kranke
sucht vor allem die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst
im Ubertragungsverhåltnis zum Arzt und kann sogar danachS.
| III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 153
streben, sich auf diesem Wege für allen ihm sonst auferlegten
Verzicht zu entschádigen, Einiges muß man ihm ja wohl
gewähren, mehr oder weniger, je nach der Natur des Falles
und der Eigenart des Kranken. Aber es ist nicht gut, wenn
es zuviel wird. Wer als Analytiker etwa aus der Fülle seines
hilfsbereiten Herzens. dem Kranken alles spendet, was ein
Mensch vom anderen erhoffen kann, der begeht denselben
ökonomischen Fehler, dessen sich unsere nicht analytischen
Nervenheilanstalten schuldig machen. Diese streben nichts
anderes an, als es dem Kranken möglichst angenehm zu
machen, damit er sich dort wohlfithle und gerne wieder dort-
hin aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht nehme,
Dabei verzichten sie darauf, ihn fiir das Leben stärker, fiir
seine eigentlichen Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In
der analytischen Kur muß jede solche Verwöhnung vermieden
werden, Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt be-
trifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten. Es ist
zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die
er am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert.
Ich glaube nicht, daß ich den Umfang der erwünschten
Aktivität des Arztes mit dem Satze: In der Kur sei die
Entbehrung aufrecht zu Kalten, erschöpft habe. Eine andere
Richtung der analytischen Aktivität ist, wie Sie sich er-
innern werden, bereits einmal ein Streitpunkt zwischen uns
und der Schweizer Schule gewesen. Wir haben es entschieden
abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsere
Hand begibt, zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal
für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrången und ihn
im Hochmut des Schôpfers zu unserem Ebenbild, an dem
wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten. Ich halte an
dieser Ablehnung auch heute noch fest und meine, daf hierS.
154 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
die Stelle für die ärztliche Diskretion ist, über die wir uns
in anderen Beziehungen hinwegsetzen miissen, habe auch er-
fahren, daß eine so weit gehende Aktivität gegen den Pa-
tienten fir die therapeutische Absicht gar nicht erforderlich
ist. Denn ich habe Leuten helfen können, mit denen mich
keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse, Erziehung, sozialen Stel-
lung und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigen-
art zu stören, Ich habe damals, zur Zeit jener Streitigkeiten,allerdings den Eindruck empfangen, daß der Einspruch un-
serer Vertreter — ich glaube, es war in erster Linie E.
Jones — allzu schroff und unbedingt ausgefallen ist. Wir
kónnen es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die
so haltlos und existenzunfåhig sind, daß man bei ihnen die
analytische Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen
muß, und auch bei den meisten anderen wird sich hie und
da eine Gelegenheit ergeben, wo der Arzt als Erzieher und
Ratgeber aufzutreten genötigt ist. Aber dies soll jedesmal
mit großer Schonung geschehen, und der Kranke soll nicht
zur Ähnlichkeit mit uns, sondern zur Befreiung und Vollen-
dung seines eigenen Wesens erzogen werden.Unser verehrter Freund J, Putnam in dem uns jetzt
so feindlichen Amerika muß es uns verzeihen, wenn wir auch
seine Forderung nicht annehmen können, die Psychoanalyse
möge sich in den Dienst einer bestimmten philosophischen
Weltanschauung stellen und diese dem Patienten zum Zwecke
seiner Veredlung aufdrángen, Ich möchte sagen, dies ist
doch nur Gewaltsamkeit, wenn auch durch die edelsten Ab-
sichten gedeckt,Eine letzte, ganz anders geartete Aktivität wird uns
durch die allmählich wachsende Einsicht aufgenótigt, daß
die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nichtS.
?
III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE, 155
durch. die nåmliche Technik erledigt werden können, Es
wäre voreilig, hierüber ausführlich zu handeln, aber an
zwei Beispielen kann ich erläutern, inwiefern dabei eine
neue Aktivität in Betracht kommt. Unsere Technik ist an
der Behandlung der Hysterie erwachsen und noch immer
auf diese Affektion eingerichtet. Aber schon die Phobien
nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten hinauszugehen.
Man wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet, bis
sich der Kranke durch die Analyse bewegen 1886, sie auf-
zugeben. Er bringt dann niemals jenes Material in die Ana-
lyse, das zur überzeugenden Lósung der Phobie unentbehrlich
ist. Man muß anders vorgehen. Nehmen Sie das Beispiel
eines Agoraphoben; es gibt zwei Klassen von solchen, eine
leichtere und eine schwerere, Die ersteren haben zwar jedes-
mal unter der Angst zu leiden, wenn sie allein auf dieStraße gehen, aber sie haben darum das Alleingehen noch
nicht aufgegeben; die anderen schützen sich vor der Angst,indem sie auf das Alleingehen verzichten. Bei diesen letzteren
hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den Einfluf
der Analyse bewegen kann, sich. wieder wie Phobiker des
ersten Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen
und während dieses Versuches mit der Angst zu kämpfen.
Man bringt es also zunächst dahin, die Phobie so weit zu
ermåfigen, und erst wenn dies durch die Forderung des
Arztes erreicht ist, wird der Kranke jener Einfälle und Er-
innerungen habhaft, welche die Lösung der Phobie ermóg-
lichen,Noch weniger angezeigt scheint ein passives Zuwarten
bei den schweren Fällen von Zwangshandlungen, die ja im
allgemeinen zu einem „asymptotischen* Heilungsvorgang, zu
einer unendlichen Behandlungsdauer neigen, deren AnalyseS.
156 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
immer in Gefahr ist, sehr viel zu Tage zu fördern und nichts
zu ändern, Es scheint mir wenig zweifelhaft, daß die richtige
Technik hier nur darin bestehen kann, abzuwarten, bis dieKur selbst zum Zwang geworden ist, und dann mit diesem
Gegenzwang den Krankheitszwang gewaltsam zu unterdrücken,
Sie verstehen aber, daß ich Ihnen in diesen zwei Fällen nur
Proben der neuen Entwicklungen vorgelegt habe, denen unsere
Therapie entgegengeht.Und nun möchte ich zum Schlusse eine Situation ins
Auge fassen, die der Zukunft angehört, die vielen von Ihnen
phantastisch erscheinen wird, die aber doch verdient, sollte
ich meinen, daß man sich auf sie in Gedanken vorbereitet.
Sie wissen, daß unsere therapeutische Wirksamkeit keine sehr
intensive ist. Wir sind nur cine Handvoll Leute, und jeder
von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem
Jahr nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen. Gegen
das Übermaf von neurotischem Elend, das es in der Welt
gibt und vielleicht nicht zu. geben braucht, kommt das, was
wir davon wegschaffen kónnen, quantitativ kaum in Betracht.
AuBerdem sind wir durch die Bedingungen unserer Existenz
auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft einge-
schränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei
dieser Wahl durch.alle Vorurteile von der Psychoanalyse ab-
gelenkt werden. Für die breiten Volksschichten, die unge-
heuer schwer unter den Neurosen leiden, kónnen wir derzeit
nichts tun.Nun lassen Sie uns annehmen, durch irgend eine Orga-
nisation gelànge es uns, unsere Zahl so weit zu vermehren,
daB wir zur Behandlung von gróferen Menschenmassen aus-
reichen. Anderseits läßt sich vorhersehen: Irgend einmal wird
das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen,S.
IIL WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. 157
daß der Arme ein chensolches Anrecht auf seelische Hilfe-
leistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische,
Und daß die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder be-drohen als die Tuberkulose und ebensowenig wie diese der
ohnmächtigen Fürsorge des Einzelnen aus dem Volke iiber-
lassen werden können, Dann werden also Anstalten oder
Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanaly-
tisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die
sich sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter
der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die
Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neu-
rose bevorsteht, durch Analyse widerstands- und leistungs-
fähig zu erhalten, Diese Behandlungen werden unentgeltliche
sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als
lringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen
en Termin noch länger hinausschieben, es ist wahrscheinlich,
aß private Wohltätigkeit mit solchen Instituten den Anlang
machen wird; aber irgend einmal wird es dazu kommen müssen,
Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere
Technik den neuen Bedingungen anzupassen, Ich zweifle nicht
aran, daß die Triftigkeit unserer psychologischen Annahmen
auch auf den Ungebildeten Eindruck machen wird, aber wir
werden den einfachsten und greifbarsten Ausdruck unserer
theoretischen Lehren suchen müssen. Wir werden wahrschein-
ich die Erfahrung machen, daß der Arme noch. weniger zum
Verzicht auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil
das schwere Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und
das Kranksein ihm einen Anspruch mehr auf soziale Hilfe
bedeutet. Möglicherweise werden wir oft nur dann etwas
leisten können, wenn wir die seelische Hilfeleistung mit ma-
terieller Unterstützung nach Art des Kaiser Josefs ver-S.
(Rede, gehalten auf dem V. Psychoanalyitschen Kongreß in Budapest, September 1918)
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