Die Verneinung 1925-003/1926
  • S.

    DIE VERNEINUNG
     

    Erschien zuerst in der „Imago" Bd. XI,
     

    1925.
     

    Die Art, wie unsere Patienten ihre Einfälle während der
    analytischen Arbeit vorbringen, gibt uns Anlaß zu einigen
    interessanten Beobachtungen. „Sie werden jetzt denken, ich
    will etwas Beleidigendes sagen, aber ich habe wirklich nicht
    diese Absicht." Wir verstehen, das ist die Abweisung eines
    eben auftauchenden Einfalles durch Projektion. Oder „Sie
    fragen, wer diese Person im Traume sein kann. Die Mutter
    ist es nicht." Wir berichtigen: Also ist es die Mutter. Wir
    nehmen uns die Freiheit, bei der Deutung von der Ver-
    neinung abzusehen und den reinen Inhalt des Einfalls
    herauszugreifen. Es ist so, als ob der Patient gesagt hätte:
    ,,Mir ist zwar die Mutter zu dieser Person eingefallen, aber
    ich habe keine Lust, diesen Einfall gelten zu lassen."
     

    Gelegentlich kann man sich eine gesuchte Aufklärung über
    das unbewußte Verdrängte auf eine sehr bequeme Weise
    verschaffen. Man fragt: Was halten Sie wohl für das Aller-
    unwahrscheinlichste in jener Situation? Was, meinen Sie, ist
    Ihnen damals am fernsten gelegen? Geht der Patient in die
    Falle und nennt das, woran er am wenigsten glauben kann,
    so hat er damit fast immer das Richtige zugestanden. Ein
    hübsches Gegenstück zu diesem Versuch stellt sich oft beim
     

  • S.

    Sigm. Freud
     

    200
     

    Zwangsneurotiker her, der bereits in das Verständnis seiner
    Symptome eingeführt worden ist.,,Ich habe eine neue Zwangs-
    vorstellung bekommen. Mir ist sofort dazu eingefallen, sie
    könnte dies Bestimmte bedeuten. Aber nein, das kann ja
    nicht wahr sein, sonst hätte es mir nicht einfallen können."
    Was er mit dieser der Kur abgelauschten Begründung ver-
    wirft, ist natürlich der richtige Sinn der neuen Zwangs-
    vorstellung.
     

    Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann
    also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung,
    daß er sich verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art,
    das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine
    Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme
    des Verdrängten. Man sieht, wie sich hier die intellektuelle
    Funktion vom affektiven Vorgang scheidet. Mit Hilfe der
    Verneinung wird nur die eine Folge des Verdrängungs-
    vorganges rückgängig gemacht, daß dessen Vorstellungsinhalt
    nicht zum Bewußtsein gelangt. Es resultiert daraus eine Art
    von intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand
    des Wesentlichen an der Verdrängung.' Im Verlauf der
    analytischen Arbeit schaffen wir oft eine andere, sehr wichtige
    und ziemlich befremdende Abänderung derselben Situation.
    Es gelingt uns, auch die Verneinung zu besiegen und die
    volle intellektuelle Annahme des Verdrängten durchzusetzen,
     

    der Verdrängungsvorgang selbst ist damit noch nicht
    aufgehoben.
     

    1) Derselbe Vorgang liegt dem bekannten Vorgang des „Berufens" zugrunde.
    "Wie schön, daß ich meine Migräne so lange nicht gehabt habe!" Das ist
    aber die erste Ankündigung des Anfalls, dessen Herannahen man bereits ver-
    spürt, aber noch nicht glauben will.
     

  • S.

    Die Verneinung
     

    201
     

    Da es die Aufgabe der intellektuellen Urteilsfunktion ist,
    Gedankeninhalte zu bejahen oder zu verneinen, haben uns
    die vorstehenden Bemerkungen zum psychologischen Ursprung
    dieser Funktion geführt. Etwas im Urteil verneinen, heißt
    im Grunde: das ist etwas, was ich am liebsten verdrängen
    möchte. Die Verurteilung ist der intellektuelle Ersatz der
    Verdrängung, ihr Nein ein Merkzeichen derselben, ein Ur-
    sprungszertifikat etwa wie das „made in Germany". Vermittels
    des Verneinungssymbols macht sich das Denken von den
    Einschränkungen der Verdrängung frei und bereichert sich
    um Inhalte, deren es für seine Leistung nicht entbehren
    kann.
     

    Die Urteilsfunktion hat im wesentlichen zwei Entscheidungen
    zu treffen. Sie soll einem Ding eine Eigenschaft zu- oder
    absprechen, und sie soll einer Vorstellung die Existenz in
    der Realität zugestehen oder bestreiten. Die Eigenschaft, über
    die entschieden werden soll, könnte ursprünglich gut oder
    schlecht, nützlich oder schädlich gewesen sein. In der Sprache
    der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: das will ich
    essen oder will es ausspucken, und in weitergehender Über-
    tragung: das will ich in mich einführen und das aus mir
    ausschließen. Also: es soll in mir oder außer mir sein. Das
    ursprüngliche Lust-Ich will, wie ich an anderer Stelle aus-
    geführt habe, alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte
    von sich werfen. Das Schlechte, das dem Ich Fremde, das
    Außenbefindliche ist ihm zunächst identisch."
     

    Die andere der Entscheidungen der Urteilsfunktion, die
    über die reale Existenz eines vorgestellten Dinges, ist ein
     

    1) Vgl. hiezu die Ausführungen in Triebe und Triebschicksale". (Ges.
    Schriften Bd. V.)
     

  • S.

    Sigm. Freud
     

    202
     

    Interesse des endgültigen Real-Ichs, das sich aus dem
    anfänglichen Lust-Ich entwickelt. (Realitätsprüfung.) Nun
    handelt es sich nicht mehr darum, ob etwas Wahrgenom-
    menes (ein Ding) ins Ich aufgenommen werden soll oder
    nicht, sondern ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhandenes
    auch in der Wahrnehmung (Realität) wiedergefunden werden
    kann. Es ist, wie man sieht, wieder eine Frage des Außen
    und Innen. Das Nichtreale, bloß Vorgestellte, Subjektive,
    ist nur innen, das andere, Reale, auch im Draußen vor-
    handen. In dieser Entwicklung ist die Rücksicht auf das
    Lustprinzip beiseite gesetzt worden. Die Erfahrung hat gelehrt,
    es ist nur nicht wichtig, ob ein Ding (Befriedigungsobjekt)
    die „gute" Eigenschaft besitzt, also die Aufnahme ins Ich
    verdient, sondern auch, ob es in der Außenwelt da ist, so
    daß man sich seiner nach Bedürfnis bemächtigen kann. Um
    diesen Fortschritt zu verstehen, muß man sich daran erinnern,
    daß alle Vorstellungen von Wahrnehmungen stammen, Wieder-
    holungen derselben sind. Ursprünglich ist also schon die
    Existenz der Vorstellung eine Bürgschaft für die Realität
    des Vorgestellten. Der Gegensatz zwischen Subjektivem und
    Objektivem besteht nicht von Anfang an. Er stellt sich erst
    dadurch her, daß das Denken die Fähigkeit besitzt, etwas einmal
    Wahrgenommenes durch Reproduktion in der Vorstellung
    wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen
    nicht mehr vorhanden zu sein braucht. Der erste und nächste
    Zweck der Realitätsprüfung ist also nicht, ein dem Vor-
    gestellten entsprechendes Objekt in der realen Wahrnehmung
    zu finden, sondern es wiederzufinden, sich zu über-
    zeugen, daß es noch vorhanden ist. Ein weiterer Beitrag zur
    Entfremdung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven
     

  • S.

    Die Verneinung
     

    203
     

    rührt von einer andern Fähigkeit des Denkvermögens her.
    Die Reproduktion der Wahrnehmung in der Vorstellung ist
    nicht immer deren getreue Wiederholung; sie kann durch
    Weglassungen modifiziert, durch Verschmelzungen verschiedener
    Elemente verändert sein. Die Realitätsprüfung hat dann zu
    kontrollieren, wie weit diese Entstellungen reichen. Man
    erkennt aber als Bedingung für die Einsetzung der Realitäts-
    prüfung, daß Objekte verloren gegangen sind, die einst reale
    Befriedigung gebracht hatten.
     

    Das Urteilen ist die intellektuelle Aktion, die über die
    Wahl der motorischen Aktion entscheidet, dem Denkaufschub
    ein Ende setzt und vom Denken zum Handeln überleitet.
    Auch über den Denkaufschub habe ich bereits an anderer
    Stelle gehandelt. Er ist als eine Probeaktion zu betrachten,
    ein motorisches Tasten mit geringen Abfuhraufwänden.
    Besinnen wir uns: wo hatte das Ich ein solches Tasten vor-
     

    her geübt, an welcher Stelle die Technik erlernt, die es
    jetzt bei den Denkvorgängen anwendet? Dies geschah am
    sensorischen Ende des seelischen Apparats, bei den Sinnes-
    wahrnehmungen. Nach unserer Annahme ist ja die Wahr-
    nehmung kein rein passiver Vorgang, sondern das Ich schickt
    periodisch kleine Besetzungsmengen in das Wahrnehmungs-
    system, mittels deren es die äußeren Reize verkostet, um
    sich nach jedem solchen tastenden Vorstoß wieder zurück-
    zuziehen.
     

    Das Studium des Urteils eröffnet uns vielleicht zum
    erstenmal die Einsicht in die Entstehung einer intellek-
    tuellen Funktion aus dem Spiel der primären Triebregungen.
    Das Urteilen ist die zweckmäßige Fortentwicklung der
    ursprünglich nach dem Lustprinzip erfolgten Einbeziehung
     

  • S.

    Sigm. Freud
     

    204
     

    ins Ich oder Ausstoßung aus dem Ich. Seine Polarität scheint
    der Gegensätzlichkeit der beiden von uns angenommenen
    Triebgruppen zu entsprechen. Die Bejahung als Ersatz
    der Vereinigung gehört dem Eros an, die Verneinung
    dem Destruktionstrieb.
     

    Nachfolge der Ausstoßung
    Die allgemeine Verneinungslust, der Negativismus, mancher
    Psychotiker ist wahrscheinlich als Anzeichen der Triebent-
    mischung durch Abzug der libidinösen Komponenten zu
    verstehen. Die Leistung der Urteilsfunktion wird aber erst
    dadurch ermöglicht, daß die Schöpfung des Verneinungs-
    symbols dem Denken einen ersten Grad von Unabhängigkeit
    von den Erfolgen der Verdrängung und somit auch vom
    Zwang des Lustprinzips gestattet hat.
     

    Zu dieser Auffassung der Verneinung stimmt es sehr gut,
    daß man in der Analyse kein „Nein" aus dem Unbewußten
    auffindet und daß die Anerkennung des Unbewußten von
    seiten des Ichs sich in einer negativen Formel ausdrückt.
    Kein stärkerer Beweis für die gelungene Aufdeckung des
    Unbewußten, als wenn der Analysierte mit dem Satze: Das
    habe ich nicht gedacht, oder: Daran habe ich
    nicht (nie) gedacht, darauf reagiert.