Die Widerstände gegen die Psychoanalyse 1925-002/1926
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    DIE WIDERSTÄNDE GEGEN DIE
     

    PSYCHOANALYSE
     

    Erschien zuerst französisch in „La Revue
    Juive", 1925, dann deutsch in der „Imago“,
    Bd. XI, 1925.
     

    Wenn sich der Säugling auf dem Arm der Pflegerin
    schreiend von einem fremden Gesicht abwendet, der Fromme
    den neuen Zeitabschnitt mit einem Gebet eröffnet, aber auch
    die Erstlingsfrucht des Jahres mit einem Segensspruch begrüßt,
    wenn der Bauer eine Sense zu kaufen verweigert, welche
    nicht die seinen Eltern vertraute Fabriksmarke trägt, so ist
    die Verschiedenheit dieser Situationen augenfällig und der
    Versuch scheint berechtigt, jede derselben auf ein anderes
    Motiv zurückzuführen.
     

    Doch wäre es unrecht, das ihnen Gemeinsame zu ver-
    kennen. In allen Fällen handelt es sich um die nämliche
    Unlust, die beim Kinde elementaren Ausdruck findet, beim
    Frommen kunstvoll beschwichtigt, beim Bauern zum Motiv
    einer Entscheidung gemacht wird. Die Quelle dieser Unlust
    aber ist der Anspruch, den das Neue an das Seelenleben
    stellt, der psychische Aufwand, den es fordert, die bis zur
    angstvollen Erwartung gesteigerte Unsicherheit, die es mit
    sich bringt. Es wäre reizvoll, die seelische Reaktion auf das
    Neue an sich zum Gegenstand einer Studie zu machen, denn
     

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    unter gewissen, nicht mehr primären Bedingungen wird auch
    das gegenteilige Verhalten beobachtet, ein Reizhunger, der
    sich auf alles Neue stürzt, und darum, weil es neu ist.
     

    Im wissenschaftlichen Betrieb sollte für die Scheu vor dem
    Neuen kein Raum sein. In ihrer ewigen Unvollständigkeit
    und Unzulänglichkeit ist die Wissenschaft darauf angewiesen,
    ihr Heil von neuen Entdeckungen und neuen Auffassungen
    zu erhoffen. Um nicht zu leicht getäuscht zu werden, tut
    sie gut daran, sich mit Skepsis zu wappnen, nichts Neues
    anzunehmen, das nicht eine strenge Prüfung bestanden hat.
    Allein gelegentlich zeigt dieser Skeptizismus zwei unvermutete
    Charaktere. Er richtet sich scharf gegen das Neu-Ankommende,
    während er das bereits Bekannte und Geglaubte respektvoll.
    verschont, und er begnügt sich damit zu verwerfen, auch
    ehe er untersucht hat. Dann enthüllt er sich aber als die
    Fortsetzung jener primitiven Reaktion gegen das Neue, als
    ein Deckmantel für deren Erhaltung. Es ist allgemein bekannt,
    wie oft es sich in der Geschichte der wissenschaftlichen
    Forschung zugetragen hat, daß Neuerungen von einem
    intensiven und hartnäckigen Widerstand empfangen wurden,
    wo dann der weitere Verlauf zeigte, daß der Widerstand
    unrecht hatte und daß die Neuheit wertvoll und bedeutsam
    war. In der Regel waren es gewisse inhaltliche Momente
    des Neuen, die den Widerstand provozierten, und auf der
    anderen Seite mußten mehrere Momente zusammenwirken,
    um den Durchbruch der primitiven Reaktion zu ermöglichen.
    Einen besonders übeln Empfang hat die Psychoanalyse.
    gefunden, die der Autor vor nahezu dreißig Jahren aus den
    Funden von Josef Breuer in Wien über die Entstehung
    neurotischer Symptome zu entwickeln begann. Ihr Charakter
     

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    als Neuheit ist unbestreitbar, wenngleich sie außer diesen
    Entdeckungen reichliches Material verarbeitete, das anders-
    woher bekannt war, Ergebnisse der Lehren des großen
    Neuropathologen Charcot und Eindrücke aus der Welt.
    der hypnotischen Phänomene. Ihre Bedeutung war ursprünglich
    eine rein therapeutische, sie wollte eine neue wirksame
    Behandlung der neurotischen Erkrankungen schaffen. Aber
    Zusammenhänge, die man zunächst nicht ahnen konnte,
    ließen die Psychoanalyse weit über ihr anfängliches Ziel
    hinausgreifen. Sie erhob endlich den Anspruch, unsere Auf-
    fassung des Seelenlebens überhaupt auf eine neue Basis
    gestellt zu haben und darum für alle Wissensgebiete wichtig
    zu sein, die auf Psychologie gegründet sind. Nach einem
    Jahrzehnt völliger Vernachlässigung wurde sie plötzlich
    Gegenstand des allgemeinsten Interesses und entfesselte
    einen Sturm von entrüsteter Ablehnung.
     

    In welchen Formen der Widerstand gegen die Psycho-
    analyse Ausdruck gefunden hat, sei hier beiseite gelassen.
    Es genüge die Bemerkung, daß der Kampf um diese
    Neuerung noch keineswegs zu Ende gekommen ist. Doch
    ist bereits zu erkennen, welche Richtung er nehmen wird.
    Es ist der Gegnerschaft nicht gelungen, die Bewegung zu
    unterdrücken. Die Psychoanalyse, deren einziger Vertreter
    ich vor zwanzig Jahren war, hat seither zahlreiche bedeu-
    tende und eifrig arbeitende Anhänger gefunden, Ärzte und
    Nichtärzte, die sie als Verfahren der Behandlung von nervös
    Kranken ausüben, als Methode der psychologischen Forschung
    pflegen und als Hilfsmittel der wissenschaftlichen Arbeit
    auf den mannigfaltigsten Gebieten des geistigen Lebens
    anwenden. Unser Interesse soll sich hier nur auf die
     

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    Motivierung des Widerstandes gegen die Psychoanalyse
    richten, die Zusammengesetztheit desselben und die ver-
    schiedene Wertigkeit seiner Komponenten besonders beachten.
     

    Die klinische Betrachtung muß die Neurosen in die Nähe
    der Intoxikationen oder solcher Leiden wie die Basedowsche
    Krankheit rücken. Das sind Zustände, die durch den Über-
    schuß oder relativen Mangel an bestimmten sehr wirksamen
    Stoffen entstehen, ob sie nun im Körper selbst gebildet oder
    von außen eingeführt werden, also eigentlich Störungen des
    Chemismus, Toxikosen. Gelänge es jemandem, den oder die
    hypothetischen Stoffe, die für die Neurosen in Betracht
    kommen, zu isolieren und aufzuzeigen, so hätte sein Fund
    keinen Einspruch von Seite der Ärzte zu besorgen. Allein
    dazu führt vorläufig noch kein Weg. Wir können zunächst
    nur vom Symptombild der Neurose ausgehen, das z. B. im
    Falle der Hysterie aus körperlichen und seelischen Störungen
    zusammengesetzt ist. Nun lehrten die Experimente von
    Charcot sowie die Krankenbeobachtungen von Breuer,
    daß auch die körperlichen Symptome der Hysterie psychogen,
    d. h. Niederschläge abgelaufener seelischer Prozesse sind.
    Durch das Mittel der Versetzung in den hypnotischen
    Zustand war man imstande, die somatischen Symptome der
    Hysterie nach Willkür künstlich zu erzeugen.
     

    Diese neue Erkenntnis griff die Psychoanalyse auf und
    begann damit, sich die Frage vorzulegen, welches die Natur
    jener psychischen Prozesse sei, die so ungewöhnliche Folgen
    hinterlassen. Aber diese Forschungsrichtung war nicht nach
    dem Sinn der lebenden Ärztegeneration. Die Mediziner
    waren in der alleinigen Hochschätzung anatomischer, physi-
    kalischer und chemischer Momente erzogen worden. Für die
     

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    Die Widerstände gegen die Psychoanalyse
     

    Würdigung des Psychischen waren sie nicht vorbereitet, also
    brachten sie diesem Gleichgültigkeit und Abneigung ent-
    gegen. Offenbar bezweifelten sie, daß psychische Dinge über-
    haupt eine exakte wissenschaftliche Behandlung zulassen. In
    übermäßiger Reaktion auf eine überwundene Phase, in der
    die Medizin von den Anschauungen der sogenannten Natur-
    philosophie beherrscht wurde, erschienen ihnen Abstraktionen,
    wie die, mit denen die Psychologie arbeiten muß, als nebel-
    haft, phantastisch, mystisch; merkwürdigen Phänomenen
    aber, an welche die Forschung hätte anknüpfen können,
    versagten sie
    einfach den Glauben. Die Symptome der
    hysterischen Neurose galten als Erfolg der Simulation, die
    Erscheinungen des Hypnotismus als Schwindel. Selbst die
    Psychiater, zu deren Beobachtung sich doch die ungewöhn-
    lichsten und verwunderlichsten seelischen Phänomene drängten,
    zeigten keine Neigung, deren Details zu beachten und ihren
    Zusammenhängen nachzuspüren. Sie begnügten sich damit,
    die Buntheit der Krankheitserscheinungen zu klassifizieren
    und sie, wo immer es nur anging, auf somatische, anatomische
    oder chemische Störungsursachen zurückzuführen. In dieser
    materialistischen oder besser: mechanistischen Periode hat
    die Medizin großartige Fortschritte gemacht, aber auch das
    vornehmste und schwierigste unter den Problemen des
    Lebens in kurzsichtiger Weise verkannt.
     

    Es ist begreiflich, daß die Mediziner bei solcher Ein-
    stellung zum Psychischen keinen Gefallen an der Psycho-
    analyse fanden und ihre Aufforderung, in vielen Stücken
    umzulernen und manche Dinge anders zu sehen, nicht
    erfüllen wollten. Aber dafür, sollte man meinen, hätte die
    neue Lehre um so leichter den Beifall der Philosophen
     

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    finden müssen. Die waren ja gewohnt, abstrakte Begriffe
    böse Zungen sagten allerdings: unbestimmbare Worte
     

    zu
     

    oberst in ihre Welterklärungen einzusetzen und konnten an
    der Ausdehnung des Bereichs der Psychologie, welche die
    Psychoanalyse anbahnte, unmöglich Anstoß nehmen. Aber
    da traf sich ein anderes Hindernis. Das Psychische der
    Philosophen war nicht das der Psychoanalyse. Die Philo-
    sophen heißen in ihrer überwiegenden Mehrzahl psychisch
    nur das, was ein Bewußtseinsphänomen ist. Die Welt des
    Bewußten deckt sich ihnen mit dem Umfang des Psychischen.
    Was sonst noch in der schwer zu erfassenden „Seele" vor-
    gehen mag, das schlagen sie zu den organischen Vorbedingungen
    oder Parallelvorgängen des Psychischen. Oder strenger aus-
    gedrückt, die Seele hat keinen anderen Inhalt als die
    Bewußtseinsphänomene, die Wissenschaft von der Scele, die
    Psychologie, also auch kein anderes Objekt. Auch der Laie
    denkt nicht anders.
     

    Was kann der Philosoph also zu einer Lehre sagen, die
    wie die Psychoanalyse behauptet, das Seelische sei vielmehr
    an sich unbewußt, die Bewußtheit nur eine Qualität, die
    zum einzelnen seelischen Akt hinzutreten kann oder auch
    nicht und die eventuell an diesem nichts anderes ändert,
    wenn sie ausbleibt? Er sagt natürlich, ein unbewußtes
    Seelisches ist ein Unding, eine contradictio in adjecto, und
    will nicht bemerken, daß er mit diesem Urteil nur seine
    eigene vielleicht zu enge Definition des Seelischen
    wiederholt. Dem Philosophen wird diese Sicherheit leicht
    gemacht, denn er kennt das Material nicht, dessen Studium
    den Analytiker genötigt hat, an unbewußte Seelenakte zu
    glauben. Er hat die Hypnose nicht beachtet, sich nicht um
     

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    Träume hält er viel-
     

    die Deutung von Träumen bemüht,
     

    mehr ebenso wie der Arzt für sinnlose Produkte der während
    des Schlafes herabgesetzten Geistestätigkeit er ahnt kaum,
    daß es solche Dinge gibt wie Zwangsvorstellungen und
    Wahnideen, und wäre in arger Verlegenheit, wenn man ihm
    zumutete, sie aus seinen psychologischen Voraussetzungen zu
    erklären. Auch der Analytiker lehnt es ab zu sagen, was
    das Unbewußte ist, aber er kann auf das Erscheinungsgebiet
    hinweisen, dessen Beobachtung ihm die Annahme des Un-
    bewußten aufgedrängt hat. Der Philosoph, der keine andere
    Art der Beobachtung kennt als die Selbstbeobachtung, vermag
    ihm dahin nicht zu folgen. So erwachsen der Psychoanalyse
    aus ihrer Mittelstellung zwischen Medizin und Philosophie
    nur Nachteile. Der Mediziner hält sie für ein spekulatives
    System und will nicht glauben, daß sie wie jede andere
    Naturwissenschaft auf geduldiger und mühevoller Bearbeitung
    von Tatsachen der Wahrnehmungswelt beruht; der Philosoph,
    der sie an dem Maßstab seiner eigenen kunstvoll aufgebauten
    Systembildungen mißt, findet, daß sie von unmöglichen Vor-
    aussetzungen ausgeht, und wirft ihr vor, daß ihre erst in
    Entwicklung befindlichen obersten Begriffe der Klarheit
    und Präzision entbehren.
     

    Die erörterten Verhältnisse reichen hin, um einen unwilligen
    und zögernden Empfang der Analyse in wissenschaftlichen
    Kreisen zu erklären. Sie lassen aber nicht verstehen, wie es
    zu jenen Ausbrüchen von Entrüstung, von Spott und Hohn,
    zur Hinwegsetzung über alle Vorschriften der Logik und
    des guten Geschmacks in der Polemik kommen konnte.
    Eine solche Reaktion läßt erraten, daß andere als bloẞ
    intellektuelle Widerstände rege geworden sind, daß starke
     

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    affektive Mächte wachgerufen wurden, und wirklich ist im
    Inhalt der psychoanalytischen Lehre genug zu finden, dem
    man eine solche Wirkung auf die Leidenschaften der Menschen,
    nicht der Wissenschaftler allein, zuschreiben darf.
     

    Da ist vor allem die große Bedeutung, welche die Psycho-
    analyse den sogenannten Sexualtrieben im menschlichen
    Seelenleben einräumt. Nach der psychoanalytischen Theorie
    sind die Symptome der Neurosen entstellte Ersatzbefriedi-
    gungen von sexuellen Triebkräften, denen. eine direkte
    Befriedigung durch innere Widerstände versagt worden ist.
    Später als die Analyse über ihr ursprüngliches Arbeitsgebiet
    hinausgriff und sich auf das normale Seelenleben anwenden
    lieẞ, versuchte sie zu zeigen, daß dieselben Sexualkomponenten,
    die sich von ihren nächsten Zielen ablenken und auf anderes
    hinleiten lassen, die wichtigsten Beiträge zu den kulturellen
    Leistungen des Einzelnen und der Gemeinschaft stellen.
    Diese Behauptungen waren nicht völlig neu. Der Philosoph
    Schopenhauer hatte die unvergleichliche Bedeutung des
    Sexuallebens in Worten von unvergeßlichem Nachdruck
    betont, auch deckte sich, was die Psychoanalyse Sexualität
    nannte, keineswegs mit dem Drang nach Vereinigung der
    geschiedenen Geschlechter oder nach Erzeugung von Lust-
    empfindung an den Genitalien, sondern weit eher mit dem
    allumfassenden und alles erhaltenden Eros des Symposions
    Platos.
     

    Allein die Gegner vergaßen an diese erlauchten Vor-
    gänger; sie fielen über die Psychoanalyse her, als hätte sie.
    ein Attentat auf die Würde des Menschengeschlechtes verübt.
    Sie warfen ihr „Pansexualismus" vor, obwohl die psycho-
    analytische Trieblehre immer streng dualistisch gewesen war
     

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    und zu keiner Zeit versäumt hatte, neben den Sexualtrieben
    andere anzuerkennen, denen sie ja die Kraft zur Unter-
    drückung der Sexualtriebe zuschrieb. Der Gegensatz hatte
    zuerst geheißen: Sexual- und Ichtriebe, in späterer Wendung
    der Theorie lautet er: Eros und Todes- oder Destruktions-
    trieb. Die partielle Ableitung der Kunst, Religion, sozialer
    Ordnung von der Mitwirkung sexueller Triebkräfte wurde
    als eine Erniedrigung der höchsten Kulturgüter hingestellt
    und mit Emphase verkündet, daß der Mensch noch andere
    Interessen habe als immer nur sexuelle. Wobei man im Eifer
    übersah, daß auch das Tier andere Interessen hat, es ist
    ja der Sexualität nur anfallsweise zu gewissen Zeiten und
    nicht wie der Mensch permanent unterworfen, daß diese
    anderen Interessen beim Menschen niemals bestritten wurden,
    und daß der Nachweis der Herkunft aus elementaren
    animalischen Triebquellen an dem Wert einer kulturellen
    Errungenschaft nichts zu ändern vermag.
     

    Soviel Unlogik und Ungerechtigkeit ruft nach einer
    Erklärung. Ihr Ansatz ist nicht schwer zu finden. Die
    menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist die
    Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschränkung
    unserer Triebe. Gefesselte Sklaven tragen den Thron der
    Herrscherin. Unter den So dienstbar gemachten Trieb-
    komponenten ragen. die der Sexualtriebe im engeren
    Sinne durch Stärke und Wildheit hervor. Wehe, wenn
    sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die
    Herrin mit Füßen getreten werden. Die Gesellschaft weiß
    dies und will nicht, daß davon gesprochen wird.
     

    Aber warum nicht? Was könnte die Erörterung schaden?
    Die Psychoanalyse hat ja niemals der Entfesselung unserer
    Freud, Studien zur Psychoanalyse.
     

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    gemeinschädlichen Triebe das Wort geredet; im Gegenteil
    gewarnt und zur Besserung geraten. Aber die Gesellschaft
    will von einer Aufdeckung dieser Verhältnisse nichts hören,
    weil sie nach mehr als einer Richtung ein schlechtes Ge-
    wissen hat. Sie hat erstens ein hohes Ideal von Sittlichkeit
    aufgestellt, Sittlichkeit ist Triebeinschränkung, dessen
    Erfüllung sie von allen ihren Mitgliedern fordert, und kümmert
    sich nicht darum, wie schwer dem Einzelnen dieser Gehorsam
    fallen mag. Sie ist aber auch nicht so reich oder so gut
    organisiert, daß sie den Einzelnen für sein Ausmaß an Trieb-
    verzicht entsprechend entschädigen kann. Es bleibt also dem
    Individuum überlassen, auf welchem Wege es sich genügende
    Kompensation für das ihm auferlegte Opfer verschaffen kann,
    um sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. In ganzen ist
    er aber genötigt, psychologisch über seinen Stand zu leben,
    während ihn seine unbefriedigten Triebansprüche die Kultur-
    anforderungen als ständigen Druck empfinden lassen. Somit.
    unterhält die Gesellschaft einen Zustand von Kultur-
    heuchelei, dem ein Gefühl von Unsicherheit und ein
    Bedürfnis zur Seite gehen muß, die unleugbare Labilität.
     

    durch das Verbot der Kritik und Diskussion zu schützen. Diese
    Betrachtung gilt für alle Triebregungen, also auch für die
    egoistischen; inwiefern sie auf alle möglichen Kulturen An-
    wendung findet, nicht nur auf die bis jetzt entwickelten, soll
    hier nicht untersucht werden. Und nun kommt noch für
    die im engeren Sinne sexuellen Triebe hinzu, daß sie bei
    den meisten Menschen in unzureichender und psychologisch
    inkorrekter Weise gebändigt sind, so daß sie am ehesten
    bereit sind loszubrechen.
     

    Die Psychoanalyse deckt die Schwächen dieses Systems auf
     

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    und rät zur Änderung desselben. Sie schlägt vor, mit der
    Strenge der Triebverdrängung nachzulassen und dafür der
    Wahrhaftigkeit mehr Raum zu geben. Gewisse Triebregungen,
    in deren Unterdrückung die Gesellschaft zu weit gegangen
    ist, sollen zu einem größeren Maß von Befriedigung zu-
    gelassen werden, bei anderen soll die unzweckmäßige Methode
    der Unterdrückung auf dem Wege der Verdrängung durch
    ein besseres und gesicherteres Verfahren ersetzt werden. Infolge
    dieser Kritik ist die Psychoanalyse als „kulturfeindlich“ emp-
    funden und als „soziale Gefahr in den Bann getan worden.
    Diesem Widerstand kann keine ewige Dauer beschieden sein;
    auf die Länge kann sich keine menschliche Institution der
    Einwirkung gerechtfertigter kritischer Einsicht entziehen, aber
    bis jetzt wird die Einstellung der Menschen zur Psycho-
    analyse noch immer durch diese Angst beherrscht, welche
    die Leidenschaften entfesselt und die Ansprüche an die
    logische Argumentation herabsetzt.
     

    Durch ihre Trieblehre hatte die Psychoanalyse das Individuum
    beleidigt, insofern es sich als Mitglied der sozialen Gemein-
    schaft fühlte; ein anderes Stück ihrer Theorie konnte jeden
    Einzelnen an der empfindlichsten Stelle seiner eigenen
    psychischen Entwicklung verletzen. Die Psychoanalyse machte
    dem Märchen von der asexuellen Kindheit ein Ende, wies
    nach, daß sexuelle Interessen und Betätigungen bei den
    kleinen Kindern vom Anfang des Lebens an bestehen, zeigte,
    welche Umwandlungen sie erfahren, wie sie etwa mit dem
    fünften Jahr einer Hemmung unterliegen und dann von der
    Pubertät an in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion treten.
    Sie erkannte, daß das frühinfantile Sexualleben im sogenannten
    Ödipuskomplex gipfelt, in der Gefühlsbindung an den
     

    13'
     

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    gegengeschlechtlichen Elternteil mit Rivalitätseinstellung zum
    gleichgeschlechtlichen, eine Strebung, die sich in dieser
    Lebenszeit noch ungehemmt in direkt sexuelles Begehren
    fortsetzt. Das ist so leicht zu bestätigen, daß es wirklich nur
    einer großen Kraftanspannung gelingen konnte, es zu über-
    sehen. In der Tat hatte jeder Einzelne diese Phase durch-
    gemacht, ihren Inhalt aber dann in energischer Anstrengung
    verdrängt und zum Vergessen gebracht. Der Abscheu vor dem
    Inzest und ein mächtiges Schuldbewußtsein waren aus dieser
    individuellen Vorzeit erübrigt worden. Vielleicht war es in
    der generellen Vorzeit der Menschenart ganz ähnlich zu-
    gegangen und die Anfänge der Sittlichkeit, der Religion und
    der sozialen Ordnung waren mit der Überwindung dieser Urzeit
    auf das innigste verknüpft. An diese Vorgeschichte, die ihm
    später so unrühmlich erschien, durfte der Erwachsene dann
    nicht gemahnt werden; er begann zu toben, wenn die Psycho-
    analyse den Schleier der Amnesie von seinen Kinderjahren
    lüften wollte. So blieb nur ein Ausweg: was die Psycho-
    analyse behauptete, mußte falsch sein und diese angebliche
    neue Wissenschaft ein Gewebe von Phantasterei und Ent-
    stellungen.
     

    Die starken Widerstände gegen die Psychoanalyse waren
    also nicht intellektueller Natur, sondern stammten aus affek-
    tiven Quellen. Daraus erklärten sich ihre Leidenschaftlichkeit
    wie ihre logische Genügsamkeit. Die Situation folgte einer
    einfachen Formel: die Menschen benahmen sich gegen die
    Psychoanalyse als Masse genau wie der einzelne Neurotiker,
    den man wegen seiner Beschwerden in Behandlung genommen
    hatte, dem man aber in geduldiger Arbeit nachweisen konnte,
    daß alles so vorgefallen war, wie man es behauptete. Man
     

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    Die Widerstände gegen die Psychoanalyse
     

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    hatte es ja auch nicht selbst erfunden, sondern aus dem
    Studium anderer Neurotiker durch die Bemühung von
    mehreren Dezennien erfahren.
     

    Diese Situation hatte gleichzeitig etwas Schreckhaftes und
    etwas Tröstliches; das erstere, weil es keine Kleinigkeit war,
    das ganze Menschengeschlecht zum Patienten zu haben, das
    andere, weil schließlich sich alles so abspielte, wie es nach
    den Voraussetzungen der Psychoanalyse geschehen mußte.
    Überschaut man nochmals die beschriebenen Widerstände
    gegen die Psychoanalyse, so muß man sagen, nur ihr kleinerer
    Anteil ist von der Art, wie er sich gegen die meisten wissen-
    schaftlichen Neuerungen von einigem Belang zu erheben
    pflegt. Der größere Anteil rührt davon her, daß durch den
    Inhalt der Lehre starke Gefühle der Menschheit verletzt
    worden sind. Dasselbe erfuhr ja auch die Darwinsche
    Deszendenztheorie, welche die vom Hochmut geschaffene
    Scheidewand zwischen Mensch und Tier niederriẞ. Ich habe
    auf diese Analogie in einem früheren kurzen Aufsatz (,,Eine
    Schwierigkeit der Psychoanalyse", Imago 1917) hingewiesen.
    Ich betonte dort, daß die psychoanalytische Auffassung vom
    Verhältnis des bewußten Ichs zum übermächtigen Unbewußten
    eine schwere Kränkung der menschlichen Eigenliebe bedeute,
    die ich die psychologische nannte und an die bio-
    logische Kränkung durch die Deszendenzlehre und die
    frühere kosmologische durch die Entdeckung des Koper-
    nikus anreihte.
     

    Auch rein äußerliche Schwierigkeiten haben dazu beigetragen,
    den Widerstand gegen die Psychoanalyse zu verstärken. Es
     

    1) Ges. Schriften, Bd. X.
     

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    Sigm. Freud
     

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    ist nicht leicht, ein selbständiges Urteil in Sachen der Analyse.
    zu gewinnen, wenn man sie nicht an sich selbst erfahren
    oder an einem anderen ausgeübt hat. Letzteres kann man
    nicht, ohne eine bestimmte, recht heikle Technik erlernt zu
    haben, und bis vor kurzem gab es keine bequem zugängliche
    Gelegenheit, die Psychoanalyse und ihre Technik zu erlernen.
    Das hat sich jetzt durch die Gründung der Berliner Psycho-
    analytischen Poliklinik und Lehranstalt (1920) zum Besseren
    gewendet. Bald nachher (1922) ist in Wien ein ganz ähnliches
    Institut ins Leben gerufen worden.
     

    Endlich darf der Autor in aller Zurückhaltung die Frage
    aufwerfen, ob nicht seine eigene Persönlichkeit als Jude, der
    sein Judentum nie verbergen wollte, an der Antipathie der
    Umwelt gegen die Psychoanalyse Anteil gehabt hat. Ein
    Argument dieser Art ist nur selten laut geäußert worden;
    wir sind leider so argwöhnisch geworden, daß wir nicht
    umhin können zu vermuten, der Umstand sei nicht ganz
    ohne Wirkung geblieben. Es ist vielleicht auch kein bloẞer
    Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude
    war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es ein ziem-
    liches Maß von Bereitwilligkeit, das Schicksal der Ver-
    einsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein
    Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen.