• S.

    PROF. DR. FREUD        WIEN IX., BERGGASSE 19
    Semmering

    28. 7. 25.

    Meine liebe Ruth

    Eben sind Ihre Blumen für Martha angekom̄en,
    herrlich, herzlich willkom̄en trotz der Ver-
    spätung. Ihre Bestellung von Paris hat
    Gebhardt wahrscheinlich nicht früher er-
    reicht. Ein Wink, die Antwort auf Ihren
    Brief von der Homeric nicht länger aufzu-
    schieben.

    Die Sorgen, die Sie sich um mich machen, dürften
    längst erledigt sein, waren es wahrscheinlich
    schon, während Sie schrieben. Alle Motive,
    die Sie vermuten, sind richtig. Schon in den
    letzten Wochen hatte ich die Empfindung,
    daß sich bei Ihnen ein durch die Kur
    angeregter Prozeß abspielt, den man
    zwar beobachten, aber nicht mehr dirigiren
    kann: Hinzu kam noch die begreifliche
    Müdigkeit des Jahresabschlußes, das Gefül
    to have done with, das nicht mehr gestört
    werden wollte, und der Vorsatz: Keine
    Beschwichtigungen geben, unbeeinflußt
    auslaufen lassen. Von meiner Seite ist
    die Sache wol klar, von Ihrer war sie nie
    zweifelhaft.

    Mark’s Unfall hat mich auch sehr betroffen.
    Ich bin überzeugt, er hat sich sehr gut dabei
    benom̄en und es ist ihm kein dauernder
    Schaden geschehen. Unvorsichtigkeit hat gewiß
    eine Rolle dabei gespielt, ob es auch
    eine analytische Bedeutung hat, werden
    wir vielleicht später erfahren. Machen
    Sie sich weiter keine Sorgen.

    Ihre Amerikawochen werden gewiß sehr
    interessant sein und Ihnen viel Klärung
    bringen. Unfähig Sie dort zu beeinflußen,
    berichte ich Ihnen im Weiteren von
    unserem Leben u Befinden hier.

  • S.

    Ein Drittel des Aufenthalts ist – allzurasch – nun
    vorüber.  Der Sommer ist weit freundlicher
    als der vorige, die Existenz hier sehr behaglich.
    Vor Karlsbad sollen Sie sich selbst von
    allen Schönheiten des Semmering über-
    zeugen. Wolf ist ein sehr geschätzter Hausge-
    nosse geworden u macht Anna lange
    Ausflüge möglich. An Besuchern hat es nicht
    gefehlt, meist brachten sie schlechtes Wetter
    mit. Meine liebste Nichte – die einzig liebe
    in Wirklichkeit – Lucy Wiener, wohnt im
    Hotel nebenan u bringt ihre Tag bei uns
    zu. Die Frauen befindentrotz gelegentlicher
    Zustände sehr wol.

    Pichler hat vor seiner Abreise eine „Roßkur"
    an meinen empfindlichen Schleimhäuten unter-
    nom̄en, die den Erfolg hatte, mich von den
    meisten der lästigen, alle Aufmerksamkeit
    aufzehrenden Sensationen zu befreien.
    Ich genieße seither mancherlei vom Leben,
    fahre nur selten in die Stadt, phantasire
    stundenlange am Schreibtisch, obwol ich
    nicht weiß, ob die Produkte dieser Tätig-
    keit autistisch bleiben oder sich an
    die Öffentlichkeit wenden werden. Eine
    Stunde „Mohrenwäsche" an dem närrischen
    jüdischen Indianer strengt mich nicht an.  Die griechische
    Prinzeßin habe ich für Oktober ange-
    kom nommen.  Meine Sprache läßt
    zu wünschen übrig, aber das kann auf
    Pichlers Rückkehr warten.

    Nun halten Sie sich recht tapfer in dieser
    für Sie wichtigen Zeit, sehen Sie Vater
    und Mutter im richtigen Licht, grüßen
    Sie sie beide von mir und geben Sie
    bald Nachricht, auch von den Terminen
    Ihrer Reise

    Ihrem
    herzlich zugethanen
    Freud