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S.
17.XI.11
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Sohn
Sie verlangen einen raschen Bescheid auf Ihren affektiven Brief, und ich möchte heute gerne etwas arbeiten, bin ich von guten Nachrichten froh, die ich Ihnen unten mitteilen werde. Also er wird kurz ausfallen, Ihnen nicht viel Neues sagen. Ich kenne natürlich Ihre +Komplexbeschwerden* und gestehe gerne zu, daß ich einen selbständigen Freund lieber hätte, aber wenn Sie solche Schwierigkeiten machen, muß ich Sie schon als Sohn annehmen. Ihr Befreiungskampf brauchte sich nicht in solchen Alternativen von Auflehnung und Unterwerfung zu vollziehen. Ich glaube, Sie leiden auch ein wenig an der Komplexfurcht, die sich an die Jungsche Komplexmythologie angeknüpft hat. Der Mensch soll seine Komplexe nicht ausrotten wollen, sondern sich ins Einvernehmen mit ihnen setzen, sie sind die berechtigten Dirigenten seines Benehmens in der Welt.
Übrigens sind SieA wissenschaftlich auf dem besten Weg, sich selbständig zu machen. Zum Beweis Ihre Okkultismusstudien, die vielleicht aus diesem Bestreben einen Zuschuß von Übereifer erhalten. Schämen Sie sich sonst nicht, meistenteils einer Meinung mit mir zu sein, und verlangen Sie von mir persönlich nicht mehr, als ich gern hergebe. Man muß froh sein, wenn ein Mensch ausnahmsweise mit sich allein fertig wird. Sie kennen gewiß die gute Definition: Was einem nicht zukommt, ist Rebach.1
Nun die Nachrichten:
Karger2 braucht für 1912 die vierte Auflage des Alltagslebens.
Unser Franzose in Poitiers, der seit Januar geschwiegen hat, schickt mir heute Brief, Beitrag fürs Zentralblatt (Homosexualität und Paranoia mit Beziehung auf zwei Ihnen bekannte Autoren des Jahrbuchs)3 und Abdruck eines trefflichen Artikels in den Gaz[ettes] des Hopitaux (S. 1845, 84. Jahrg., Nr. nicht ersichtlich). Er heißt >Le +Rapport affectiv* dans la cure des Psychonévroses<.4 Er ist ganz auf der Höhe und zeichnet einen Aufsatz von Ferenczi ganz besonders aus. Suchen Sie ihn sofort zu lesen. Ich werde ihm schreiben, daß er Ihnen eine Nummer schicken soll.
Nun leben Sie wohl und beruhigen Sie sich.
Mit väterlichem Gruß
Ihr Freud
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A In der Handschrift: sie.
1 Rebbach oder Reibach, aus dem Jiddischen in die Wiener Umgangssprache übergegangener Begriff: Verdienst, Gewinn.
2 Der Berliner Verleger von Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Freud 1901b).
3 Morichau-Beauchant, >Homosexualität und Paranoia<; Zentralblatt, 1912, 2: S. 174-176.
Pierre Ernest René Morichau-Beauchant (1873-1951), Professor für klinische Medizin an der École de Médecine in Poitiers, hatte schon Ende 1910 einen Brief an Freud geschrieben, in dem er sich als dessen Schüler bezeichnet hatte (Freud/Jung, 3.12.1910, Briefwechsel, S. 417; vgl. auch Freud 1914d, S. 72). Er trat im Jänner 1912 der Züricher Gruppe bei (Freud/Jung, 23.1.1912, S. 535). Durch seine Arbeiten "hielt die Psychoanalyse *offiziellen+ Einzug auf nationalem [französischem] Boden" [unsere Übersetzung] (Elisabeth Roudinesco, La bataille de cent
ans, Histoire de la psychanalyse en France, Vol 1: 1885-1939, Paris 1982, S. 234).
4 >Le *Rapport Affectif+ dans la cure des psychonévroses<; Gazette des Hôpitaux, 84, Nr. 129 (14.11.1911): S. 1845-1849. Ferenczi zitierte diese Arbeit zustimmend in >Zähmung eines wilden Pferdes< (1913, 104; Schriften I, S. 134).
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S.
Berggasse 19
Wien 1090
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