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S.
21.4.12
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Ich benütze noch eine späte Stunde am Sonntag abend, um Ihnen zu schreiben. Nicht um Ihnen zu antworten, denn die schwankende Situation, von der Sie berichten, verträgt keine Einmengung, die nicht ein dringender Rat wäre, und zu dem kann ich mich trotz eines reizenden Briefes von Frau G.1, auf den sie keine Antwort wünscht, nicht entschließen. Es ist gewiß nicht Mangel an Anteilnahme, auch nicht Angst vor Verantwortung, aber Achtung vor den Rechten des anderen und Sorge, das Schicksal unserer Freundschaft mit etwas anderem, Unbestimmbaren zu verknüpfen.
Die Zeit seit unserer Trennung ist mir in schwerer Arbeit bei Unmöglichkeit der Konzentration vergangen, so daß ich Ihnen nichts Gescheites zu erzählen weiß. Auch von auswärts habe ich wenig, bis auf einen Zeitungsausschnitt, an dem Sie gewiß am meisten interessieren wird, daß ich den Betreffenden, der mich so gut kennt, selbst gar nicht kenne.2 (Bitte um Rücksendung.)
An Jung habe ich erst heute wieder geschrieben. Von Pfister sind bessere Nachrichten [da]; er scheint sich zu halten.3 Die Photographie, die er beigelegt, zeigt ein reizendes Mädchengesicht, zu dem ihm der Zugang freilich zunächst verschlossen ist, weil er versprochen hat, die Scheidung um ein halbes Jahr aufzuschieben. Bleuler soll (nach einem Bericht von Binswanger) für Breslau vorgeschlagen werden4, was natürlich von größtem Interesse für die weitere Zukunft der -A sein könnte, doch steht die Sache noch nicht fest. Sie wissen, daß Bonhoeffer5 aus Breslau als Ziehens6 Nachfolger nach Berlin geht. Von der äußeren Politik der -A habe ich im ganzen keinen günstigen Eindruck.
Mein Aufsatz in der Imago ist bereits zweimal nachgedruckt worden, im +Pan* und im N[euen] W[iener] Journal.7 Er ist das Unbelebteste, was ich je geschrieben, nur durch Anfängerschaft und durch den auf ihn folgenden Tabuartikel zu entschuldigen. Imago scheint eine günstige Aufnahme beim Publikum zu finden.
Ich grüße Sie herzlich und erwarte Ihre weiteren Nachrichten.
Ihr Freud
2 Bei einer Sitzung der Neurological Section of the Academy of Medicine am 4.4.1912 hatte Moses Allen Starr (1854-1932), Professor für Neurologie an der Columbia University, New York, erklärt, er habe Freud gut gekannt
und gemeint, die Psychoanalyse sei Resultat von Freuds ausschweifendem Leben (>Attack on Freud's Theory<; New York Times vom 5.4.1912). Freuds Reaktion in einem Brief vom 25.6.1912 an Putnam: "Seine Auskünfte über meine jungen Jahre haben mich sehr amüsiert. Ich wollte er hätte recht damit gehabt" (Hale, Putnam, S. 365).
3 Pfisters Stellung als Pastor war gefährdet gewesen (siehe Freud/Jung, 25.2. und 10.3.1912, Briefwechsel, S. 539 und 546f.).
4 Bleuler war für eine Professur in Breslau als Nachfolger Bonhoeffers im Gespräch. Binswanger hatte Bonhoeffer, seinen ehemaligen Lehrer, dort besucht und Freud in einem Brief vom 5.3.1912 darüber berichtet (Erinnerungen, S. 52).
5 Karl Bonhoeffer (1868-1948), Professor der Psychiatrie in Breslau, später in Berlin, wo noch heute die "Karl Bonhoeffer Heilstätten" nach ihm benannt sind. Vater des 1945 von der SS ermordeten Theologen Dietrich Bonhoeffer.
6 Theodor Ziehen (1862-1950), bis 1912 Professor der Psychiatrie und Neurologie in Berlin, ab 1917 in Halle. Ziehen hatte als erster den Begriff "Komplex" verwendet (vgl. Freud/Jung, 11.9.1907, Briefwechsel, S. 94).
7 Der erste Essay von Totem und Tabu (1912-13a): >Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker: Die Inzestscheu< (Imago, 1912, 1: S. 17-33); leicht gekürzt nachgedruckt in der Wiener Wochenschrift Pan vom 11. und 18.4.1912 und der Tageszeitung Neues Wiener Journal vom 18.4.1912.
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