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S.
Wien am 8 Mai 1913A
Lieber Freund
Ich lege Ihnen heute den vergessenen Brief Maeders bei. Nach Nachrichten von Jones haben wir von Jung Arges zu erwarten und dürfen uns auf den Zusammenbruch der Organisation zum Kongreß gefaßt machen. Natürlich hat alles, was von unseren Wahrheiten wegstrebt, den öffentlichen Beifall für sich. Es ist ganz gut möglich, daß man uns diesmal wirklich begräbt, nachdem man uns so oft vergeblich das Grablied gesungen hat. An unserem Schicksal wird es viel ändern, an dem der Wissenschaft nichts. Wir sind im Besitz der Wahrheit; ich bin so sicher wie vor fünfzehn Jahren.
Wenn Jones kommt, werden wir überlegen, wie uns zu wehren. Sie werden daran mehr beteiligt sein als ich, der ich in der Polemik nie etwas geleistet. Ich pflege stumm abzulehnen und meiner Wege zu gehen.
Unter diesen Verhältnissen wird auf Ihre Kritik der Jungschen Libidoarbeit besonderes Gewicht fallen. Ich habe schon gedacht, ob ich nicht eine Seite dazugeben soll, die das leichtfertige Mißverständnis meiner Äußerung über die Libido in der Schreberarbeit beleuchtetB. Was meinen Sie dazu?
Ich arbeite an dem letzten Abschnitt der Totemarbeit, die gerade zurechtkommt, um den Riß klafterlang zu erweitern; Lesen und Nachbessern wird aber noch die Zeit bis zum 15. Juni in Anspruch nehmen. Seit der Traumdeutung habe ich nichts mit ähnlicher Überzeugung geschrieben; ich kann also das Schicksal des Aufsatzes vorherahnen.
Von Ihrer Gesundheit möchte ich gerne das beste hören. Unsere Sommerpläne laufen so: Marienbad zu viert (die Frauen1 und Anna) bis 14. August, dann drei Wochen S. Martino di Castrozza, dann München, Reise mit unbekanntem Ziel. Ich habe den Meinigen versprochen, daß ich heuer eine gedankenfreie Zeit halten werde. Ich glaube, es wird notwendig sein, denn diese Aufregungen zerstören innerlich, auch wenn sie nicht neurotisch machen. Ich möchte Sie aber gerne in S. Martino sehen, wo es ganz herrlich sein soll, von wo wir dann nach München reisen können. Wenn Sie wollen, entschließen Sie sich bald, denn es ist dort wenig Zimmerraum.
Ich grüße Sie und Frau G. herzlich, lege Ihnen ein betrübendes Schriftstück, das ich von Abraham bekommen2, bei.
Ihr getreuer
Freud
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A Siehe Brief 358 Fer, Anm. A.
B In der Handschrift: beleuchten.
1 Freuds Frau Martha und seine Schwägerin Minna Bernays.
2 Es könnte sich um ein "widerspruchsvolles Zeugs" (Freud/Abraham, Briefwechsel, S. 138) von Bleuler (möglicherweise >Der Sexualwiderstand<; Jahrbuch, 1913, 5: S. 442-452) handeln, das Abraham am 5. Mai an Freud geschickt hatte.
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S.
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