• S.

    PROF. DR. FREUD.  WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    23 Okt 10

    Lieber Freund

    Ich habe diesmal Ihre Reise neidlos gegönnt 
    nach meinem eigenen Schwelgen in Natur 
    u Antike, bin aber doch sehr froh, daß Sie 
    wieder erreichbar sind u habe Ihnen vielerlei 
    mitzutheilen.

    Zunächst wird Sie Bleuler interessiren. Der Ner-
    venanhang, den ich bei ihm genom̄en habe, hat 
    eine umfängliche Korrespondenz hervor­gerufen 
    in der ich jetzt zum Antworten bin. Es ist schwer 
    mit ihm, seine Argumente sind so dämmerig 
    daß er nicht zu fassen ist; mit der direkten 
    Aussprache seiner geheimen Motive stieße 
    man ihn aber nur vor den Kopf. Es ist lauter 
    Vorpostenkampf u indirekte Darstel­lung. Er hat 
    den Wunsch nach mündlicher Verständigg 
    ausgespro­chen u da er hinzugefügt, daß er 
    nicht abkommen könne bis etwa zu Ostern, 
    zur vermeintlichen Zeit des nächsten Kongreßes, 
    habe ich ihm angetragen, über Weihnachten 
    nach Zürich zu fahren, wenn er mir Aussicht 
    giebt, etwas in Ordnung zu bringen. Mein 
    Standpunkt ihm ge­ genüber ist der, daß er so 
    wenig unentbehrlich ist wie irgend ein 
    an­derer, daß aber sein Verlust recht 
    bedauerlich wäre u die Kluft zwi­schen uns 
    den übrigen noch erweitern würde. Daher 
    ist sein Ver­bleiben ein Opfer wert, ich weiß 
    noch nicht welches, aber nur nicht das 

  • S.

    unseres mühsam gegründeten u zu wichtigen Leist-
    ungen berufenen Vereines. Es ist ein großes 
    Misverhältnis zwischen seinen Einwendun­gen 
    gegen unseren Vorgehen u den Konsequenzen, 
    die er aus ihnen zieht. Die Kluft füllt er 
    mit Imponderabilien u Unfaßbarkeiten 
    aus. Er verhält sich aber werbend, glaubt an 
    die Sache, will sich nicht von uns trennen, 
    u das Bewußtsein, daß wir ihm für Ihre 
    Jugend Dank schuldig sind, nim̄t bei mir 
    seine Partei. Wir wollen also abwarten, 
    was aus dem Briefwechsel u der möglichen 
    Zusam̄enkunft heraus­schaut.

    Besonderen Wert legt er auf die Behandlg 
    Isserlins, der zuerst ein­geladen u dann 
    abgewiesen worden sei. Sie hätten das für 
    einen schlechten Witz erklärt, den man sich 
    mit ihm erlaubt. Da Sie gewiß nicht selbst 
    der Urheber dieses Witzes waren, ergiebt 
    sich aus dem Vor­fall ein Argument 
    mehr für die Notwendigkeit einer ein-
    heitlichen Lei­tung.

    Bl’s Apologie der ΨΑ habe ich in der Correktur 
    nicht erhalten. Er trägt mir selbst an, 
    sie durchzusehen, um Änderungen vorzu-
    schla­gen, aber ich bin ganz zufrieden damit, 
    ganz unbetheiligt zu sein, denn der 
    Mythus von der Knebelung abweichender 
    Ansichten innerhalb des ψα Lagers soll 
    durchaus keine Nahrung finden.

  • S.

    Unter uns müssen wir wol über die 
    Art des polemischen Vorgehens einig werden. Ich 
    sehe wol, daß es mit dem einfachen Ignoriren 
    nicht lange weitergeht. Das kann ich für meine 
    Person fortsetzen, aber die . ganze Gruppe braucht 
    es nicht. Mit den Hieben, die Sie im Corr.blatt 
    austeilen, habe ich mich sehr amüsirt, aber es 
    ist zu über­ legen, ob da nicht systematischer vorge-
    gangen werden soll u von welcher Stelle.

    Das Zentralblatt ist heute erschienen. Ich möchte 
    sehr gerne die drei Organe zu einem 
    Akkord vereinigen, sie gegen einander ab-
    stim̄en. Ich bin daher sehr stolz, daß Sie redakt. 
    Winke“ von mir verlan­gen, u halte mit 
    diesen nicht zurück.

    Ich meine, die Sitzungsberichte sollten im Corrbl. 
    ganz kurz sein, nur Inhaltsangaben, u im 
    Zentralbl ausführlicher, denn im ersteren kom̄en 
    sie nicht zur öff. Ken̄tnis.

    Die Kritik des Bleuler’schen Negativismus im 
    Corrbl halte ich dort für deplacirt, denn 
    wissenschaf. Äußerungen ge­hören in die beiden 
    anderen Organe. Die Arbeit verdient 
    eine Beurtei­lg von Ihrer Seite, wenn Sie 
    sie die nicht in der Zeitschrift bringen wol­len, 
    deren Herausgeber er ist (obwol nichts 
    dabei wäre), so steht Ihnen das Zentralbl 
    jederzeit, wie selbstverständlich, offen. 

  • S.

    Das nächste Heft bringt übrigens Ihren Beitrag. Üben 
    Sie nur auf dieses Blatt den Einfluß, der Ihnen 
    als Zentralpraesident zusteht, u lassen Sie sich 
    durch die Erinnerung an die Vorgänge vor 
    Ihrer Wahl bestim̄en ein Reservatrecht der 
    Wiener anzuerkennen.

    Ich meine, haben Sie einmal im Korrspzbl nicht 
    genug an persönlichen, Vereins‑ u Literatur-
    berichten, so rücken Sie nur ein „Manifest“ 
    an „Ihre Völker“ ein, das das beabsichtigte 
    Verhalten gegen die Feinde beschreibt u 
    rechtfertigt, resp. ein solches den Anderen vor-
    schreibt.

    Den Vortrag von Putnam werden Sie von ihm 
    selbst erhalten. Die ge­wünschte Notiz werden 
    Sie von Rank zugeschickt bekommen.

    Ihre wissenschaftlichen Berichte haben mich sehr 
    interessiert, so daß ich die wiedergeborene 
    Arbeit mit Span̄ung erwarte. Ich bin selbst 
    heute zu müde (vor Migraine) um Ihnen von 
    meinen bunten Thätigkeiten zu berichten, u 
    verschiebe es auf ein anderes Mal.

    Mit herzlichem Gruß an Sie und Ihr Haus 
    Ihr treuer 
    Freud