• S.

    PROF. DR. FREUD   WIEN, IX., BERGGASSE 19.

    10. 3. 10.

    Dear Dr Putnam

    Herzlichen Dank für Brief und zweiten Artikel. 
    You gave us a very good character and 
    we will take pains to deserve it.

    Ihre Bemerkungen über das Wortemißver-
    ständnis im Streit um das Unbewußte 
    haben mich sehr erleichtert. Es ist ja wirklich 
    kaum möglich, dass man anders urtheilt, 
    wenn man die selben Phänomene studirt. 
    Bei den Philosophen ist es etwas anderes; 
    sie reden vom Ubw u kennen es nicht; 
    sie haben also ein Recht es zu bestreiten. 
    Aber wie will man eine Traumanalyse 
    machen u es doch verleugnen!

    Ich darf die Bemerkung wagen, dass ich von 
    Anfang an auf dem konsequenten Stand-
    punkt von Bergson in dieser Sache stehe.  Er ist 
    auch der meinige, u ich sehe die Verwirrung 
    nicht so arg, wenn man nur von dem 
    alten Sinn von „Bw“ absehen will, sich an die 
    Thatsachen hält, das für bw erklärt, was man 
    weiß, und „ubw“ das, was man, obwol es aktiv 
    ist, nicht weiß. Dass der Name Ubw blos negativ 
    ist, thut doch nichts zur Sache; Namen brauchen 
    nicht passend zu sein, u uns bleibt im Fortschritt 
    der Wissenschaft nichts übrig, als den neuen 

  • S.

    Wein in die alten Schläuche einzufüllen.

    Über das Thema der Religion mit Ihnen zu 
    sprechen, wäre mir bei Ihrer Toleranz u 
    Aufgeklärtheit ein grosser Genuß.Vielleicht 
    findet sich die Gelegenheit beim nächsten 
    Kongreß, da wir Sie alle zu diese nicht 
    erwarten dürfen.  Ich fürchte, es wird doch 
    nur wider eine from̄e Wunscherfüllung.  
    Der „gerechte Gott“ und die „gütige Natur“ sind 
    doch wider nur die höchsten Sublimirungen 
    unseres Elternkomplexes, und unsere infantile 
    Hilflosigkeit die letzte Wurzel der Religion. 
    Was man im Leben sieht, macht nicht den Eindruck, 
    als gäbe es auch eine sittliche Weltordnung. 
    Aber das ist von der Psychoanalyse unab-
    hängig, man kann diese Religion auf sie 
    propfen oder nicht; ich möchte sie nicht prinzipiell 
    in den Dienst einer positiven Lehre stellen.

    Die zweite Auflage der Sexualtheorie (un-
    verändert) geht in den nächsten Tagen an Sie 
    ab. Ich grüße Sie herzlich u danke Ihnen 
    für alle Förderung unserer Sache. 
    Ihr 
    Freud