S.
242
Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der
Ätiologie der Neurosen.„Ich bin der Meinung, dass man meine Theorie über die
ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neurosen
am besten würdigt, wenn man ihrer Entwicklung nachgeht.
Ich habe nämlich keineswegs das Bestreben abzuleugnen, dass
sie eine Entwicklung durchgemacht und sich während derselben
verändert hat. Die Fachgenossen könnten in diesem Zugeständ-
nis die Gewähr finden, dass diese Theorie nichts anderes ist
als der Niederschlag fortgesetzter und vertiefter Erfahrungen.
Was im Gegensatze hierzu der Spekulation entsprungen ist, das
kann allerdings leicht mit einem Schlage vollständig und dann
unveränderlich auftreten.Die Theorie bezog sich ursprünglich bloss auf die als „Neur-
asthenie“ zusammengefassten Krankheitsbilder, unter denen mir
zwei, gelegentlich auch rein auftretende, Typen auffielen, die ich
als „eigentliche Neurasthenie“ und als „Angstneurose“
beschrieben habe. Es war ja immer bekannt, dass sexuelle
Momente in der Verursachung dieser Formen eine Rolle spielen
können, aber man fand dieselben weder regelmässig wirksam, noch
dachte man daran, ihnen einen Vorrang vor anderen ätiologischen
Einflüssen einzuräumen. Ich wurde zunächst von der Häufigkeit
grober Störungen in der Vita sexualis der Nervösen überrascht;
je mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu suchen, wobei
ich mir vorhielt, dass die Menschen alle in sexuellen Dingen
die Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde, das
Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen, desto
regelmässiger liessen sich solche krankmachende Momente ausS.
243
dem Sexualleben auffinden, bis mir zu deren Allgemeinheit
wenig zu fehlen schien. Man musste aber von vornherein auf
ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmässigkeiten
unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer Gesell-
schaft gefasst sein, und konnte im Zweifel bleiben, welches
Mass von Abweichung von der normalen Sexualfunktion als
Krankheitsursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte daher
auf den regelmässigen Nachweis sexueller Noxen nur weniger
Wert legen als auf eine zweite Erfahrung, die mir eindeutiger
erschien. Es ergab sich, dass die Form der Erkrankung, ob
Neurasthenie oder Angstneurose, eine konstante Beziehung zur
Art der sexuellen Schädlichkeit zeige. In den typischen Fällen
der Neurasthenie war regelmässig Masturbation oder gehäufte
Pollutionen, bei der Angstneurose waren Faktoren wie der
Coitus interruptus, die „frustrane Erregung“ u. a. nachweisbar,
an denen das Moment der ungenügenden Abfuhr der erzeugten
Libido das Gemeinsame schien. Erst seit dieser leicht zu
machenden und beliebig oft zu bestätigenden Erfahrung hatte
ich den Mut, für die sexuellen Einflüsse eine bevorzugte Stellung
in der Ätiologie der Neurosen zu beanspruchen. Es kam hinzu,
dass bei den so häufigen Mischformen von Neurasthenie und
Angstneurose auch die Vermengung der für die beiden Formen
angenommenen Ätiologien aufzuzeigen war und dass eine solche
Zweiteilung in der Erscheinungsform der Neurose zu dem polaren
Charakter der Sexualität (männlich und weiblich) gut zu
stimmen schien.Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Be-
deutung für die Entstehung der einfachen Neurosen zuwies,1
huldigte ich noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie und
Zwangsvorstellungen) einer rein psychologischen Theorie, in
welcher das sexuelle Moment nicht anders als andere emotionelle
Quellen in Betracht kam. Ich hatte im Verein mit J. Breuer
und im Anschluss an Beobachtungen, die er gut ein Dezennium
vorher an einer hysterischen Kranken gemacht hatte, den Mechanismus1 Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Sym-
ptomenkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen. Neurol. Zentralblatt, 1895.S.
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der Entstehung hysterischer Symptome mittels des Er-
weckens von Erinnerungen im hypnotischen Zustande studiert,
und wir waren zu Aufschlüssen gelangt, welche gestatteten, die
Brücke von der traumatischen Hysterie Charcot‘s zur gemeinen,
nicht traumatischen, zu schlagen.1 Wir waren zur Auffassung
gelangt, dass die hysterischen Symptome Dauerwirkungen von
psychischen Traumen sind, deren zugehörige Affektgrösse durch
besondere Bedingungen von bewusster Bearbeitung abgedrängt
worden ist und sich darum einen abnormen Weg in die Körper-
innervation gebahnt hat. Die Termini „eingeklemmter Affekt“,
„Konversion“ und „Abreagieren“ fassen das Kennzeich-
nende dieser Anschauung zusammen.Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den
einfachen Neurosen, die ja so weit gehen, dass dem Ungeübten
die diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt, konnte
es aber nicht ausbleiben, dass die für das eine Gebiet gewonnene
Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Überdies führte, von solcher
Beeinflussung abgesehen, auch die Vertiefung in den psych-
ischen Mechanismus der hysterischen Symptome zu dem gleichen Er-
gebnis. Wenn man nämlich bei dem von Breuer und mir
eingesetzten „kathartischen“ Verfahren den psychischen Traumen,
von denen sich die hysterischen Symptome ableiteten, immer
weiter nachspürte, gelangte man endlich zu Erlebnissen, welche
der Kindheit des Kranken angehörten und sein Sexualleben
betrafen, und zwar auch in solchen Fällen, in denen eine banale
Emotion nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit
veranlasst hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit
in Betracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome auf-
klären, deren Determinierung verständlich finden, noch deren
Wiederkehr verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung
sexueller Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen für
unzweifelhaft festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis heute
einer der Grundpfeiler der Theorie geblieben.Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der
lebenslangen hysterischen Neurose liege in den meist an sich1 Studien über Hysterie, 1905.
S.
245
geringfügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so
mag sie allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man aber
auf die historische Entwicklung der Lehre Rücksicht, verlegt
den Hauptinhalt derselben in den Satz, die Hysterie sei der
Ausdruck eines besonderen Verhaltens der Sexualfunktion des
Individuums, und dieses Verhalten werde bereits durch die ersten
in der Kindheit einwirkenden Einflüsse und Erlebnisse mass-
gebend bestimmt, so sind wir zwar um ein Paradoxon ärmer,
aber um ein Motiv bereichert worden, den bisher arg vernach-
lässigten, höchst bedeutsamen Nachwirkungen der Kindheits-
eindrücke überhaupt unsere Aufmerksamkeit zu schenken.Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den sexuellen
Kindererlebnissen die Ätiologie der Hysterie (und Zwangsneurose)
sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu behandeln, kehre ich
zu der Gestaltung der Theorie zurück, welche diese in einigen
kleinen, vorläufigen Publikationen der Jahre 1895 und 1896 an-
genommen hat.1 Die Hervorhebung der angenommenen ätio-
logischen Momente gestattete damals, die gemeinen Neurosen
als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie den Psychoneurosen
gegenüber zu stellen, deren Ätiologie vor Allem in den sexuellen
Erlebnissen der Vorzeit zu suchen war. Die Lehre gipfelte in
dem Satze: Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose unmöglich.Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
halte, so ist es doch nicht zu verwundern, dass ich in zehn
Jahren fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser Ver-
hältnisse über meinen damaligen Standpunkt ein gutes Stück
weit hinausgekommen bin und mich heute in der Lage glaube,
die Unvollständigkeit, die Verschiebungen und die Missverständ-
nisse, an denen die Lehre damals litt, durch eingehendere Er-
fahrung zu korrigieren. Ein Zufall des damals noch spärlichen
Materials hatte mir eine unverhältnismässig grosse Anzahl von
Fällen zugeführt, in deren Kindergeschichte die sexuelle Ver-
führung durch Erwachsene oder andere ältere Kinder die Haupt-
rolle spielte. Ich überschätzte die Häufigkeit dieser (sonst nicht1 Weitere Bemerkungen über die Abwehr Neuropsychosen, Neurol. Zentral-
blatt, 1896. – Zur Ätiologie der Hysterie, Wiener klinische Rundschau, 1896.S.
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anzuzweifelnden) Vorkommnisse, überdies da ich zu jener Zeit
nicht imstande war, die Erinnerungstäuschungen der Hysterischen
über ihre Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge
sicher zu unterscheiden, während ich seitdem gelernt habe, so
manche Verführungsphantasie als Abwehrversuch gegen die Er-
innerung der eigenen sexuellen Betätigung (Kindermasturbation)
aufzulösen. Mit dieser Aufklärung entfiel die Betonung des
„traumatischen“ Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen,
und es blieb die Einsicht übrig, dass die infantile Sexual-
betätigung (ob spontan oder provoziert) dem späteren Sexual-
leben nach der Reife die Richtung vorschreibt. Dieselbe Auf-
klärung, die ja den bedeutsamsten meiner anfänglichen Irrtümer
korrigierte, musste auch die Auffassung vom Mechanismus der
hysterischen Symptome verändern. Dieselben erschienen nun
nicht mehr als direkte Abkömmlinge der verdrängten Erinnerungen
an sexuelle Kindheitserlebnisse, sondern zwischen die Symptome
und die infantilen Eindrücke schoben sich nun die (meist in
den Pubertätsjahren produzierten) Phantasien (Erinnerungs-
dichtungen) der Kranken ein, die auf der einen Seite sich aus
und über den Kindheitserinnerungen aufbauten, auf der anderen
sich unmittelbar in die Symptome umsetzten. Erst mit der
Einführung des Elements der hysterischen Phantasien wurde
das Gefüge der Neurose und deren Beziehung zum Leben der
Kranken durchsichtig; auch ergab sich eine wirklich über-
raschende Analogie zwischen diesen unbewussten Phantasien
der Hysteriker und den als Wahn bewusst gewordenen
Dichtungen bei der Paranoia.Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexualtraumen“
in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der Sexualität“ er-
setzt. Eine zweite Abänderung der ursprünglichen Theorie lag
nicht ferne. Mit der angenommenen Häufigkeit der Verführung
in der Kindheit entfiel auch die übergrosse Betonung der ak-
zidentellen Beeinflussung der Sexualität, welcher ich bei der
Verursachung des Krankseins die Hauptrolle zuschieben wollte,
ohne darum konstitutionelle und hereditäre Momente zu leugnen.
Ich hatte sogar gehofft, das Problem der Neurosenwahl, die
Entscheidung darüber, welcher Form von Psychoneurose derS.
247
Kranke verfallen solle, durch die Einzelheiten der sexuellen
Kindererlebnisse zu lösen, und damals – wenn auch mit Zu-
rückhaltung – gemeint, dass passives Verhalten bei diesen
Szenen die spezifische Disposition zur Hysterie, aktives dagegen
die für die Zwangsneurose ergebe. Auf diese Auffassung musste
ich später völlig Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsäch-
liche den geahnten Zusammenhang zwischen Passivität und
Hysterie, Aktivität und Zwangsneurose in irgendeiner Weise
aufrecht zu halten gebietet. Mit dem Rücktritt der accidentellen
Einflüsse des Erlebens mussten die Momente der Konstitution
und Heredität wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem
Unterschiede gegen die sonst herrschende Anschauung, dass
bei mir die „sexuelle Konstitution“ an die Stelle der allgemeinen
neuropathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienenen
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) habe ich den
Versuch gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser sexuellen Kon-
stitution sowie die Zusammengesetztheit des Sexualtriebes über-
haupt und dessen Herkunft aus verschiedenen Beitragsquellen
im Organismus zu schildern.Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten Auf-
fassung der „sexuellen Kindertraumen“ entwickelte sich nun die
Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in den Ver-
öffentlichungen der Jahre 1894‑1896 angezeigt worden war. Ich
hatte bereits damals, und noch ehe die Sexualität in die ihr
gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt war, als Be-
dingung für die pathogene Wirksamkeit eines Erlebnisses ange-
geben, dass dieses dem Ich unerträglich erscheinen und ein
Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse.1 Auf diese Abwehr
hatte ich die psychische Spaltung – oder wie man damals
sagte: die Bewusstseinsspaltung – der Hysterie zurückgeführt.
Gelang die Abwehr, so war das unerträgliche Erlebnis mit seinen
Affektfolgen aus dem Bewusstsein und der Erinnerung des Ich‘s
vertrieben; unter gewissen Verhältnissen entfaltete aber das
Vertriebene als ein nun Unbewusstes seine Wirksamkeit und1 Die Abwehr Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie
der acquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser
halluzinatorischer Psychosen. Neurol. Zentralblatt, 1894.S.
248
kehrte mittels der Symptome und der an ihnen haftenden
Affekte ins Bewusstsein zurück, so dass die Erkrankung einem
Missglücken der Abwehr entsprach. Diese Auffassung hatte
das Verdienst, auf das Spiel der psychischen Kräfte einzugehen
und somit die seelischen Vorgänge der Hysterie den normalen
anzunähern, anstatt die Charakteristik der Neurose in eine
rätselhafte und weiter nicht analysierbare Störung zu verlegen.Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, dass deren sexuelle
Kindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben
der Neurotiker zu unterscheiden brauche, dass speziell die Rolle
der Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die acci-
dentellen Einflüsse noch mehr gegen den der „Verdrängung“
(wie ich anstatt „Abwehr“ zu sagen begann) zurück. Es kam
also nicht darauf an, was ein Individuum in seiner Kindheit an
sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern vor Allem auf
seine Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob es diese Eindrücke
mit der „Verdrängung“ beantwortet habe oder nicht. Bei spon-
taner infantiler Sexualbetätigung liess sich zeigen, dass dieselbe
häufig im Laufe der Entwicklung durch einen Akt der Ver-
drängung abgebrochen wurde. Das geschlechtsreife neurotische
Individuum brachte so ein Stück „Sexualverdrängung“ regel-
mässig aus seiner Kindheit mit, das bei den Anforderungen des
realen Lebens zur Äusserung kam, und die Psychoanalysen
Hysterischer zeigten, dass ihre Erkrankung ein Erfolg des Kon-
flikts zwischen der Libido und der Sexualverdrängung sei und
dass ihre Symptome den Wert von Kompromissen zwischen
beiden seelischen Strömungen haben.Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen von
der Verdrängung könnte ich diesen Teil der Theorie nicht
weiter aufklären. Es genüge, hier auf meine „Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie“ (1905) hinzuweisen, in denen ich auf die
somatischen Vorgänge, in denen das Wesen der Sexualität zu
suchen ist, ein allerdings erst spärliches Licht zu werfen ver-
sucht habe. Ich habe dort ausgeführt, dass die konstitutionelle
sexuelle Anlage des Kindes eine ungleich buntere ist, als man
erwarten konnte, dass sie „polymorph pervers“ genannt zuS.
249
werden verdient, und dass aus dieser Anlage durch Verdrängung
gewisser Komponenten das sog. normale Verhalten der Sexual-
funktion hervorgeht. Ich konnte durch den Hinweis auf die
infantilen Charaktere der Sexualität eine einfache Verknüpfung
zwischen Gesundheit, Perversion und Neurose herstellen. Die
Norm ergab sich aus der Verdrängung gewisser Partialtriebe
und Komponenten der infantilen Anlagen und der Unterordnung
der übrigen unter das Primat der Genitalzonen im Dienste der
Fortpflanzungsfunktion; die Perversionen entsprachen Störungen
dieser Zusammenfassung durch die übermächtige zwangsartige
Entwicklung einzelner dieser Partialtriebe, und die Neurose
führte sich auf eine zu weitgehende Verdrängung der libidi-
nösen Strebungen zurück. Da fast alle perversen Triebe der
infantilen Anlage als symptombildende Kräfte bei der Neurose
nachweisbar sind, sich aber bei ihr im Zustande der Verdrängung
befinden, konnte ich die Neurose als das „Negativ“ der Per-
version bezeichnen.Ich halte es der Hervorhebung wert, dass meine Anschau-
ungen über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen Wand-
lungen doch zwei Gesichtspunkte nie verleugnet oder verlassen
haben, die Schätzung der Sexualität und des Infantilismus.
Sonst sind an die Stelle accidenteller Einflüsse konstitutionelle
Momente, für die rein psychologisch gemeinte „Abwehr“ ist die
organische „Sexualverdrängung“ eingetreten. Sollte nun jemand
fragen, wo ein zwingender Beweis für die behauptete ätiologische
Bedeutung sexueller Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden
sei, da man doch diese Erkrankungen auf die banalsten Ge-
mütsbewegungen und selbst auf somatische Anlässe hin aus-
brechen sieht, auf eine spezifische Ätiologie in Gestalt beson-
derer Kindererlebnisse verzichten muss, so nenne ich die psycho-
analytische Erforschung der Neurotiker als die Quelle, aus
welcher die bestrittene Überzeugung zufliesst. Man erfährt, wenn
man sich dieser unersetzlichen Untersuchungsmethode bedient,
dass die Symptome die Sexualbetätigung der Kranken
darstellen, die ganze oder eine partielle, aus den Quellen
normaler oder perverser Partialtriebe der Sexualität. Nicht nur,
dass ein guter Teil der hysterischen Symptomatologie direktS.
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aus den Äusserungen der sexuellen Erregtheit herstammt, nicht
nur, dass eine Reihe von erogenen Zonen in der Neurose in
Verstärkung infantiler Eigenschaften sich zur Bedeutung von
Genitalien erhebt; die kompliziertesten Symptome selbst ent-
hüllen sich als die konvertierten Darstellungen von Phantasien,
welche eine sexuelle Situation zum Inhalte haben. Wer die
Sprache der Hysterie zu deuten versteht, kann vernehmen, dass
die Neurose nur von der verdrängten Sexualität der Kranken
handelt. Man wolle nur die Sexualfunktion in ihrem richtigen,
durch die infantile Anlage umschriebenen Umfange verstehen.
Wo eine banale Emotion zur Verursachung der Erkrankung
gerechnet werden muss, weist die Analyse regelmässig nach,
dass die nicht fehlende sexuelle Komponente des traumatischen
Erlebnisses die pathogene Wirkung ausgeübt hat.Wir sind unversehens von der Frage nach der Verursachung
der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens vorgedrungen.
Will man dem Rechnung tragen, was man durch die Psycho-
analyse erfahren hat, so kann man nur sagen, das Wesen dieser
Erkrankungen liege in Störungen der Sexualvorgänge, jener
Vorgänge im Organismus, welche die Bildung und Verwendung
des geschlechtlichen Libido bestimmen. Es ist kaum zu ver-
meiden, dass man sich diese Vorgänge in letzter Linie als
chemische vorstelle, so dass man in den sog. aktuellen Neurosen
die somatischen, in den Psychoneurosen ausserdem noch die
psychischen Wirkungen der Störungen im Sexualstoffwechsel
erkennen dürfte. Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxi-
kations‑ und Abstinenzerscheinungen nach gewissen Alkaloiden,
mit dem M. Basedowi und M. Addisoni drängt sich ohne
weiteres klinisch auf, und so wie man diese beiden letzteren Er-
krankungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten“ beschreiben
darf, so werden wohl auch bald die echten „Neurosen“ ihrer
Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt werden
müssen.Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was schädigend
auf die der Sexualfunktion dienenden Vorgänge einwirken kann.
In erster Linie also die Noxen, welche die Sexualfunktion selbst
betreffen, insoferne diese von der mit Kultur und Erziehung veränderlichenS.
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Sexualkonstitution als Schädlichkeiten angenommen
werden. In zweiter Linie stehen alle andersartigen Noxen und
Traumen, welche sekundär durch Allgemeinschädigung des Orga-
nismus die Sexualvorgänge in demselben zu schädigen ver-
mögen. Man vergesse aber nicht, dass das ätiologische Problem
bei den Neurosen mindestens ebenso kompliziert ist wie sonst
bei der Krankheitsverursachung. Eine einzige pathogene Ein-
wirkung ist fast niemals hinreichend; zu allermeist wird eine
Mehrheit von ätiologischen Momenten erfordert, die einander
unterstützen, die man also nicht in Gegensatz zu einander
bringen darf. Dafür ist auch der Zustand des neurotischen
Krankseins von dem der Gesundheit nicht scharf geschieden.
Die Erkrankung ist das Ergebnis einer Summation, und das
Mass der ätiologischen Bedingungen kann von irgendeiner Seite
her voll gemacht werden. Die Ätiologie der Neurosen aus-
schliesslich in der Heredität oder in der Konstitution zu suchen,
wäre keine geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die acci-
dentellen Beeinflussungen der Sexualität im Leben zur Ätiologie
erheben wollte, wenn sich doch die Aufklärung ergibt, dass das
Wesen dieser Erkrankungen nur in einer Störung der Sexualvor-
gänge im Organismus gelegen ist.“Wien, Juni 1905.
S.
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