S.
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BergenI
Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie
widersprechenden Falles von Paranoia.Von Sigm. Freud.
Vor Jahren ersuchte mich ein bekannter Rechtsanwalt um Begut-
achtung eines Falles, dessen Auffassung ihm zweifelhaft erschien, Eine
junge Dame hatte sich an ihn gewendet, um Schutz gegen die Verfol-
gungen eines Mannes zu finden, der sie zu einem Liebesverhältnis be-
wogen hatte. Sie behauptete, daß dieser Mann ihre Gefügigkeit mißbraucht
hatte, um von ungesehenen Zuschauern photographische Aufnahmen ihres
zärtlichen Beisammenseins herstellen zu lassen; nun läge es in seiner
Hand, sie durch das Zeigen dieser Bilder zu beschämen und zum Auf-
geben ihrer Stellung zu zwingen, Der Rechtsfreund war erfahren genug,
das krankhafte Gepräge dieser Anklage zu erkennen, meinte aber, es
komme so viel im Leben vor, was man für unglaubwürdig halten möchte,
daß ihm das Urteil eines Psychiaters über die Sache wertvoll wäre. Er
versprach, mich ein nächstes Mal in Gesellschaft der Klägerin zu
besuchen.Ehe ich meinen Bericht fortsetze, will ich bekennen, daß ich das
Milieu der zu untersuchenden Begebenheit zur Unkenntlichkeit verändert
habe, aber auch nichts anderes als dies. Ich halte es sonst für einen Miß-
brauch, aus irgend welchen, wenn auch aus den besten Motiven, Züge
einer Krankengeschichte in der Mitteilung zu entstellen, da man un-
möglich wissen kann, welche Seite des Falles ein selbständig urteilender
Leser herausgreifen wird, und somit Gefahr läuft, diesen letzteren in
die Irre zu führen.Die Patientin, die ich nun bald darauf kennen lernte, war ein
30jähriges Mädchen von ungewöhnlicher Anmut und Schönheit, sie schien
viel jünger zu sein, als sie angab, und machte einen echt weiblichen Ein-
druck, Gegen den Arzt benahm sie sich voll ablehnend und gab sich
keine Mühe, ihr Mißtrauen zu verbergen, Offenbar nur unter dem Drucke
des mitanwesenden Rechtsfreundes erzählte sie die folgende Geschichte, die
mir ein spåter zu erwåhnendes Problem aufgab. Ihre Mienen und Affekt-
&uferungen verrieten dabei nichts von einer schamhaften Befangenheit,
wie sie der Einstellung zu dem fremden Zuhörer entsprochen hatte. SieZeitschr, f, той, Psychoanalyse, TIT/6. 21
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S.
322 Sigm. Freud.
stand ausschließlich unter dem Banne der Besorgnis, die sich aus ihrem
Erlebnis ergeben hatte.Sie war jahrelang Angestellte in einem großen Institut gewesen,
in dem sie einen verantwortlichen Posten zur eigenen Befriedigung und
zur Zufriedenheit der Vorgesetzten innehatte. Liebesbeziehungen zu
Männern hatte sie nie gesucht; sie lebte ruhig neben einer alten Mutter,
deren einzige Stütze sie war. Geschwister fehlten, der Vater war vor
vielen Jahren gestorben. In der letzten Zeit hatte sich ein männlicher
Beamter desselben Bureaus ihr genähert, ein sehr gebildeter, einnehmender
Mann, dem auch sie ihre Sympathie nicht versagen konnte. Eine Heirat
zwischen ihnen war durch äußere Verhältnisse ausgeschlossen, aber der
Mann wollte nichts davon wissen, dieser Unmöglichkeit wegen den Ver-
kehr aufzugeben. Er hielt ihr vor, wie unsinnig es sei, wegen sozialer
Konventionen auf alles zu verzichten, was sie sich beide wünschten, worauf
sie ein unzweifelhaftes Anrecht hätten, und was wie nichts anderes zur
Erhöhung des Lebens beitrüge. Da er versprochen hatte, sie nicht in Ge-
fahr zu bringen, willigte sie endlich ein, ihn in seiner Junggesellen-
wohnung bei Tage zu besuchen. Dort kam es nun zu Küssen und Um-
armungen, sie lagerten sich nebeneinander, er bewunderte ihre zum Teil
enthüllte Schönheit. Mitten in dieser Schäferstunde wurde sie durch ein
einmaliges Geräusch wie ein Pochen oder Ticken erschreckt. Es kam
von der Gegend des Schreibtisches her, welcher schräg vor dem Fenster
stand ; der Zwischenraum zwischen Tisch und Fenster war zum Teil von
einem schweren Vorhang eingenommen, Sie erzählte, daß sie den Freund
sofort nach der Bedeutung des Geråusches gefragt und von ihm die Aus-
kunft bekommen hatte, es rühre wahrscheinlich von der kleinen auf dem
Schreibtische befindlichen Stehuhr her; ich werde mir aber die Freiheit
nehmen, zu diesem Teil ihres Berichtes später eine Bemerkung zu machen.Als sie das Haus verließ, traf sie noch auf der Treppe mit zwei
Männern zusammen, die bei ihrem Anblick einander etwas zuflüsterten.
Einer der beiden Unbekannten trug einen verhüllten Gegenstand wie ein
Kästchen, Die Begegnung beschäftigte ihre Gedanken; noch auf dem
Heimwege bildete sie die Kombination, dies Kästchen könnte leicht ein
photographischer Apparat gewesen sein, der Mann, der es trug, ein Pho-
tograph, der während ihrer Anwesenheit im Zimmer hinter dem Vorhang
versteckt geblieben war, und das Ticken, das sie gehört, das Geräusch
des Abdriickens, nachdem der Mann die besonders verfångliche Situation
herausgefunden, die er im Bilde festhalten wollte. Ihr Argwohn gegen
den Geliebten war von da an nicht mehr zum Schweigen zu bringen;
sie verfolgte ihn mündlich und schriftlich mit der Anforderung, ihr Auf-
klårung und Beruhigung zu geben, und mit Vorwiirfen, erwies sich aber
unzugånglich gegen die Versicherungen, die er ihr machte, mit denen er
die Aufrichtigkeit seiner Gefühle und die Grundlosigkeit ihrer Verdüch-S.
-
į
;Mitteilung eines Falles von Paranoia. 323.
tigung vertrat. Endlich wandte sie sich an den Advokaten, erzählte ihm
ihr Erlebnis und übergab ihm die Briefe, die sie in dieser Angelegenheit
von dem Verdächtigten erhalten hatte. Ich konnte später in einige dieser
Briefe Einsicht nehmen; sie machten mir den besten Eindruck; ihr
Hauptinhalt war das Bedauern, daß ein so schönes, zärtliches Einver-
nehmen durch diese „unglückselige krankhafte Idee“ zerstört worden sei.Es bedarf wohl keiner Rechtfertigung, daß ich das Urteil des Be-
schuldigten auch zu dem meinigen machte. Aber der Fall hatte für mich
ein anderes als bloß diagnostisches Interesse. Es war in der psycho-
analytischen Literatur behauptet worden, daß der Paranoiker gegen eine
Verstärkung seiner homosexuellen Strebungen ankämpft, was im Grunde
auf eine narzißtische Objektwahl zurückweist. Es war ferner gedeutet
worden, daß der Verfolger im Grunde der Geliebte oder der ehemals
Geliebte sei. Aus der Zusammensetzung beider Aufstellungen ergibt sich
die Forderung, der Verfolger müsse von demselben Geschlecht sein wie
der Verfolgte. Den Satz von der Bedingtheit der Paranoia durch die
Homotexualität hatten wir allerdings nicht als allgemein und ausnahms-
los gültig hingestellt, aber nur darum nicht, weil unsere Beobachtungen
nicht genug zahlreich waren. Er gehörte sonst zu jenen, die infolge ge-
wisser Zusammenhänge nur dann bedeutungsvoll sind, wenn sie Allge-
meinheit beanspruchen können. In der psychiatrischen Literatur fehlte
es gewiß nicht an Fällen, in denen sich der Kranke von Angehörigen
des anderen Geschlechts verfolgt glaubte, aber es blieb ein anderer Ein-
druck, von solchen Fällen zu lesen, als einen derselben selbst vor sich
zu sehen. Was ich und meine Freunde hatten beobachten und analysieren
können, hatte bisher die Beziehung der Paranoia zur Homosexualität
ohne Schwierigkeit bestätigt. Der hier vorgeführte Fall sprach mit aller
Entschiedenheit dagegen. Das Mädchen schien die Liebe zu einem Mann
abzuwehren, indem sie den Geliebten unmittelbar in den Verfolger ver-
wandelte; vom Einfluß des Weibes, von einem Sträuben gegen eine homo-
sexuelle Bindung war nichts zu finden.Bei dieser Sachlage war es wohl das Einfachste, die Parteinahme
für eine allgemein gültige Abhängigkeit des Verfolgungswahnes von der
Homosexualität und alles, was sich weiter daran knüpfte, wieder auf-
zugeben. Man mußte wohl auf diese Erkenntnis verzichten, wenn man
sich nicht etwa durch diese Abweichung von der Erwartung bestimmen
ließ, sich auf die Seite des Rechtsfreundes zu schlagen und wie er ein
richtig gedeutetes Erlebnis anstatt einer paranoischen Kombination an-
zuerkennen. Ich sah aber einen anderen Ausweg, welcher die Entschei-
dung zunächst hinausschob. Ich erinnerte mich daran, wie oft man in
die Lage gekommen war, psychisch Kranke falsch zu beurteilen, weil
man sich nicht eindringlich genug mit ihnen beschäftigt und so zu wenig
von ihnen erfahren hatte. Ich erklärte also, es sei mir unmöglich, heute21"
S.
324 Sigm. Freud.
ein Urteil zu äußern, und bitte sie vielmehr, mich ein zweites Mal zu
besuchen, um mir die Geschichte ausführlicher und mit allen, diesmal
vielleicht übergangenen Nebenumstånden zu erzählen, Durch die Ver-
mittlung des Advokaten erreichte ich dies Zugestindnis von der sonst
unwilligen Patientin; er kam mir auch durch die Erklärung zu Hilfe,
daß bei dieser zweiten Unterredung seine Anwesenheit überflüssig sei.Die zweite Erzählung der Patientin hob die frühere nicht auf,
brachte aber solche Ergänzungen, daß alle Zweifel und Schwierigkeiten
wegfielen. Vor allem, sie hatte den jungen Mann nicht einmal, sondern
zweimal in seiner Wohnung besucht, Beim zweiten Zusammensein ereig-
nete sich die Störung durch das Geräusch, an welches sie ihren Verdacht
angeknüpft hatte; den ersten Besuch hatte sie bei der ersten Mitteilung
unterschlagen, ausgelassen, weil er ihr nicht mehr bedeutsam vorkam,
Bei diesem ersten Besuch hatte sich nichts Auffälliges zugetragen, wohl
aber am Tage nachher. Die Abteilung des großen Unternehmens, bei
welcher sie tätig war, stand unter der Leitung einer alten Dame, die sie
mit den Worten beschrieb: Sie hat weiße Haare wie meine Mutter,
Sie war es gewöhnt, von dieser alten Vorgesetzten sehr zärtlich behandelt,
auch wohl manchmal geneckt zu werden, und hielt sich für ihren be-
sonderen Liebling. Am Tage nach ihrem ersten Besuch bei dem jungen
Beamten erschien dieser in den Geschäftsräumen, um der alten Dame
etwas dienstlich mitzuteilen, und während er leise mit dieser sprach,
entstand in ihr plötzlich die Gewißheit, er mache ihr Mitteilung von
dem gestrigen Abenteuer, ja, er unterhalte längst ein Verhältnis mit ihr,
von dem sie selbst nur bisher nichts gemerkt habe. Die weißhaarige,
mütterliche Alte wisse nun alles, Im weiteren Verlauf des Tages konnte
sie aus dem Benehmen und den Äußerungen der Alten diesen ihren Ver-
dacht bekräftigen. Sie ergriff die nächste Gelegenheit, den Geliebten
wegen seines Verrates zur Rede zu stellen, Der sträubte sich natürlich
energisch gegen das, was er eine unsinnige Zumutung hieß, und es ge-
lang ihm in der Tat, sie für diesmal von ihrem Wahn abzubringen, so
daß sie einige Zeit — ich glaube einige Wochen — später vertrauens-
voll genug war, den Besuch in seiner Wohnung zu wiederholen. Das
Weitere ist uns aus der ersten Erzählung der Patientin bekannt,Was wir neu erfahren haben, macht zunächst dem Zweifel an der
krankhaften Natur der Verdächtigung ein Ende. Unschwer erkennt man,
daß die weißhaarige Vorsteherin ein Mutterersatz ist, daß der geliebte
Mann trotz seiner Jugend an die Stelle des Vaters gerückt wird, und
daß es die Macht des Mutterkomplexes ist, welche die Kranke zwingt,
ein Liebesverhältnis zwischen den beiden ungleichen Partnern, aller Un-
wahrscheinlichkeit zum Trotze, anzunehmen. Damit verflüchtigt sich aber
auch der anscheinende Widerspruch gegen die von der psychoanalytischen
Lehre genährte Erwartung, eine überstarke homosexuelle Bindung werdeFEER SE OE DE ותה
S.
Mitteilung eines Falles von Paranoia. 325
sich als die Bedingung zur Entwicklung eines Verfolgungswahnes heraus-
stellen. Der ursprüngliche Verfolger, die Instanz, deren Einfluß man sich
entziehen will, ist auch in diesem Falle nicht der Mann, sondern das
Weib. Die Vorsteherin weiß von den Liebesbeziehungen des Mädchens,
mißbilligt sie und gibt ihr diese Verurteilung durch geheimnisvolle An-
deutungen zu erkennen, Die Bindung an das gleiche Geschlecht wider-
setzt sich den Bemühungen, ein Mitglied des anderen Geschlechts zum
Liebesobjekt zu gewinnen. Die Liebe zur Mutter wird zur Wortführerin
all der Strebungen, welche in der Rolle eines „Gewissens“ das Mädchen
bei dem ersten Schritt auf dem neuen, in vielen Hinsichten gefährlichen
Weg zur normalen Sexualbefriedigung zurückhalten wollen, und sie er-
reicht es auch, die Beziehung zum Manne zu stören,Wenn die Mutter die Sexualbetätigung der Tochter hemmt oder
aufhält, so erfüllt sie eine normale Funktion, welche durch Kindheits-
beziehungen vorgezeichnet ist, starke, unbewußte Motivierungen besitzt
und die Sanktion der Gesellschaft gefunden hat. Sache der Tochter ist
es, sich von diesem Einfluß abzulösen und sich auf Grund breiter, ra-
tioneller Motivierung für ein Maß von Gestattung oder Versagung des
Sexualgenusses zu entscheiden. Verfällt sie bei dem Versuch dieser Be-
freiung in neurotische Erkrankung, so liegt ein in der Regel überstarker,
sicherlich aber unbeherrschter Mutterkomplex vor, dessen Konflikt mit der
neuen libidinösen Strömung je nach der verwendbaren Disposition in
der Form dieser oder jener Neurose erledigt wird. In allen Fällen werden
die Erscheinungen der neurotischen Reaktion nicht durch die gegen-
wärtige Beziehung zur aktuellen Mutter, sondern durch die infantilen
Beziehungen zum urzeitlichen Mutterbild bestimmt werden,Von unserer Patientin wissen wir, daß sie seit langen Jahren vater-
los war, wir dürfen auch annehmen, daß sie nicht bis zum Alter von
30 Jahren frei vom Manne geblieben wäre, wenn ihr nicht eine starke
Gefühlsbindung an die Mutter eine Stütze geboten hätte, Diese Stütze
wird ihr zur lästigen Fessel, da ihre Libido auf den Anruf einer eindring-
lichen Werbung zum Manne zu streben beginnt. Sie sucht sie abzu-
streifen, sich ihrer homosexuellen Bindung zu entledigen. Ihre Dispo-
sition — von der hier nicht die Rede zu sein braucht — gestattet, daß
dies in der Form der paranoischen Wahnbildung vor sich gehe. Die
Mutter wird also zur feindseligen, mißgünstigen Beobachterin und Ver-
folgerin. Sie könnte als solche überwunden werden, wenn nicht der
Mutterkomplex die Macht behielte, die in seiner Absicht liegende Fern-
haltung vom Manne durchzusetzen. Am Ende dieser ersten Phase des
Konflikts hat sie sich also der Mutter entfremdet und dem Manne nicht
angeschlossen. Beide konspirieren ja gegen sie. Da gelingt es der kräf-
tigen Bemühung des Mannes, sie entscheidend an sich zu ziehen, Sie
überwindet den Einspruch der Mutter und ist bereit, dem Geliebten eineS.
326 Sigm. Freud.
neue Zusammenkunft zu gewåhren. Die Mutter kommt in den weiteren
Geschehnissen nicht mehr vor; wir dtirfen aber daran festhalten, daf in
dieser Phase der geliebte Mann nicht direkt zum Verfolger geworden war,
sondern auf dem Wege über die Mutter und kraft seiner Beziehung zur
Mutter, welcher in der ersten Wahnbildung die Hauptrolle zugefallen war.Man sollte nun glauben, der Widerstand sei endgültig überwunden
und das bisher an die Mutter gebundene Mädchen habe es erreicht, einen
Mann zu lieben. Aber nach dem zweiten Beisammensein erfolgt eine neue
Wahnbildung, welche es durch geschickte Benützung einiger Zufällig-
keiten durchsetzt, diese Liebe zu verderben, und somit die Absicht des
Mutterkomplexes erfolgreich fortführt. Es erscheint uns noch immer be-
fremdlich, daß das Weib sich der Liebe zum Manne mit Hilfe eines para-
noischen Wahnes erwehren sollte. Ehe wir aber dieses Verhältnis näher
beleuchten, wollen wir den Zufälligkeiten einen Blick schenken, auf
welche sich die zweite Wahnbildung, die allein gegen den Mann ge-
richtete, stützt.Halb entkleidet auf einem Divan neben dem Geliebten liegend
hört sie ein Geräusch wie ein Ticken, Klopfen, Pochen, dessen Ursache
sie nicht kennt, das sie aber später deutet, nachdem sie auf der Treppe
des Hauses zwei Männer begegnet hat, von denen einer etwas wie ein
verdecktes Kästchen trägt. Sie gewinnt die Überzeugung, daß sie im
Auftrage des Geliebten während des intimen Beisammenseins belauscht
und photographiert wurde. Es liegt uns natürlich ferne zu denken, wenn
dies unglückselige Geräusch sich nicht ereignet hätte, wäre auch die
Wahnbildung nicht zu stande gekommen. Wir erkennen vielmehr hinter
dieser Zufälligkeit etwas Notwendiges, was sich ebenso zwanghaft durch-
setzen mußte wie die Annahme eines Liebesverhältnisses zwischen dem
geliebten Manne und der alten zum Mutterersatz erkorenen Vorsteherin,
Die Beobachtung des Liebesverkehrs der Eltern ist ein selten vermißtes
Stück aus dem Schatze unbewußter Phantasien, die man bei allen Neu-
rotikern, wahrscheinlich bei allen Menschenkindern, durch die Analyse
auffinden kann. Ich heiße diese Phantasiebildungen, die der Beobachtung
des elterlichen Geschlechtsverkehrs, die der Verführung, der Kastration
u. a. Urphantasien und werde an anderer Stelle deren Herkunft
sowie ihr Verhältnis zum individuellen Erleben eingehend unter-
suchen. Das zufällige Geräusch spielt also nur die Rolle einer Provo-
kation, welche die typische, im Elternkomplex enthaltene Phantasie von
der Belauschung aktiviert. Ja, es ist fraglich, ob wir es als ein „zufälliges“
bezeichnen sollen. Wie 0. Rank mir bemerkt hat, ist es vielmehr ein
notwendiges Requisit der Belauschungsphantasie und wiederholt entweder
das Geräusch, durch welches sich der Verkehr der Eltern verrät, oder
auch das, wodurch sich das lauschende Kind zu verraten fürchtet. Nun
erkennen wir aber mit einem Male, auf welchem Boden wir uns befinden,S.
Mitteilung eines Falles von Paranoia. 397
Der Geliebte ist noch immer der Vater, an Stelle der Mutter ist sie
selbst getreten. Die Belauschung muß dann einer fremden Person zu-
geteilt werden. Es wird uns ersichtlich, auf welche Weise sie sich von
der homosexuellen Abhängigkeit von der Mutter frei gemacht hat.
Durch ein Stiickchen Regression; anstatt die Mutter zum Liebesobjekt
zu nehmen, hat sie sich mit ihr identifiziert, ist sie selbst zur Mutter
geworden. Die Möglichkeit dieser Regression weist auf den narzifitischen
Ursprung ihrer homosexuellen Objektwahl und somit auf die bei ihr
vorhandene Disposition zur paranoischen Erkrankung hin. Man könnte
einen Gedankengang entwerfen, der zu demselben Ergebnis führt wie
diese Identifizierung: Wenn die Mutter das tut, darf ich es auch; ich
habe dasselbe Recht wie die Mutter.Man kann in der Aufhebung der Zufälligkeiten einen Schritt weiter
gehen, ohne zu fordern, daß ihn der Leser mitmache, denn das Unter-
bleiben einer tieferen analytischen Untersuchung macht es in unserem
Falle unmöglich, hier über eine gewisse Wahrscheinlichkeit hinauszu-
kommen. Die Kranke hatte in unserer ersten Besprechung angegeben,
daß sie sich sofort nach der Ursache des Geråusches erkundigt und die
Auskunft erhalten habe, wahrscheinlich habe die auf dem Schreibtisch
befindliche kleine Standuhr getickt. Ich nehme mir die Freiheit, diese
Mitteilung als eine Erinnerungståuschung aufzulösen, Es ist mir viel
glaubhafter, daß sie zunächst jede Reaktion auf das Geräusch unter-
lassen, und daß ihr dies erst nach dem Zusammentreffen mit den beiden
Männern auf der Treppe bedeutungsvoll erschienen ist. Den Erklårungs-
versuch aus dem Ticken der Uhr wird der Mann, der das Geråusch
vielleicht überhaupt nicht gehört hatte, später einmal gewagt haben, als
ihn der Argwohn des Mädchens bestürmte. „Ich weiß nicht, was du da
gehört haben kannst; vielleicht hat gerade die Standuhr getickt, wie sie
es manchmal tut.“ Solche Nachträglichkeit in der Verwertung von Ein-
drücken und solche Verschiebung in der Erinnerung sind gerade bei der
Paranoia häufig und für sie charakteristisch. Da ich aber den Mann nie
gesprochen habe und die Analyse des Mädchens nicht fortsetzen konnte,
bleibt meine Annahme unbeweisbar,Ich könnte es wagen, in der Zersetzung der angeblich realen „Zu-
fälligkeit“ noch weiter zu gehen. Ich glaube überhaupt nicht, daß die
Standuhr getickt hat, oder daß ein Geräusch zu hören war, Die Situation,
in der sie sich befand, rechtfertigte eine Empfindung von Pochen oder
Klopfen an der Clitoris. Dies war es dann, was sie nachträglich als Wahr-
nehmung von einem äußeren Objekt hinausprojizierte. Ganz Ähnliches
ist im Traume möglich. Eine meiner hysterischen Patientinnen berichtete
einmal einen kurzen Wecktraum, zu dem sich kein Material von Ein-
fällen ergeben wollte. Der Traum hieß: Es klopft, und sie wachte auf.
Es hatte niemand an die Tür geklopft, aber sie war in den NächtenS.
328 Sigm. Freud.
vorher durch die peinlichen Sensationen von Pollutionen geweckt worden
und hatte nun ein Interesse daran, zu erwachen, sobald sich die ersten
Zeichen der Genitalerregung einstellten. Es hatte an der Clitoris geklopft.
Den nämlichen Projektionsvorgang möchte ich bei unserer Paranoika an
die Stelle des zufälligen Geråusches setzen, Ich werde selbstverständlich
nicht dafür einstehen, daß mir die Kranke bei einer flüchtigen Bekannt-
schaft unter allen Anzeichen eines ihr unliebsamen Zwanges einen auf-
richtigen Bericht über die Vorgänge bei den beiden zårtlichen Zusam-
menkünften gegeben, aber die vereinzelte Clitoriskontraktion stimmt wohl
zu ihrer Behauptung, daß eine Vereinigung der Genitalien dabei nicht
stattgefunden habe, An der resultierenden Ablehnung des Mannes hat
sicherlich neben dem „Gewissen“ auch die Unbefriedigung ihren Anteil.Wir kehren nun zu der auffälligen Tatsache zurück, daß sich die
Kranke der Liebe zum Manne mit Hilfe einer paranoischen Wahnbildung
erwehrt, Den Schlüssel zum Verständnis gibt die Entwicklungsgeschichte
dieses Wahns. Dieser richtete sich ursprünglich, wie wir erwarten durften,
gegen das Weib, aber nun wurde auf dem Boden der Paranoia
der Fortschritt vom Weibe zum Manne als Objekt voll-
zogen. Ein solcher Fortschritt ist bei der Paranoia nicht gewöhnlich;
wir finden in der Regel, daß der Verfolgte an denselben Personen, also
auch an demselben Geschlecht fixiert bleibt, dem seine Liebeswahl vor
der paranoischen Umwandlung galt. Aber er wird durch die neurotische
Affektion nicht ausgeschlossen; unsere Beobachtung dürfte für viele
andere vorbildlich sein. Es gibt außerhalb der Paranoia viele ähnliche
Vorgänge, welche bisher nicht unter diesem Gesichtspunkt zusammen-
gefaßt worden sind, darunter sehr allgemein bekannte. So wird z. B.
der sogenannte Neurastheniker durch seine unbewußte Bindung an
inzestuöse Liebesobjekte davon abgehalten, ein fremdes Weib zum Objekt
zu nehmen, und in seiner Sexualbetätigung auf die Phantasie einge-
schränkt. Auf dem Boden der Phantasie bringt er aber den ihm ver-
sagten Fortschritt zu stande und kann Mutter und Schwester durch
fremde Objekte ersetzen. Da bei diesen der Einspruch der Zensur ent-
fällt, wird ihm die Wahl dieser Ersatzpersonen in seinen Phantasien
bewußt.Die Phänomene des versuchten Fortschritts, von dem neuen meist
regressiv erworbenen Boden her, stellen sich den Bemühungen zur Seite,
welche bei manchen Neurosen unternommen werden, um eine bereits
innegehabte, aber verlorene Position der Libido wieder zu gewinnen. Die
beiden Reihen von Erscheinungen sind begrifflich kaum voneinander zu
trennen, Wir neigen allzusehr zu der Auffassung, daß der Konflikt, welcher
der Neurose zu Grunde liegt, mit der Symptombildung abgeschlossen sei.
In Wirklichkeit geht der Kampf vielfach auch nach der Symptombildung
weiter, Auf beiden Seiten tauchen neue Triebanteile auf, welche ihn fort-S.
Mitteilung eines Falles von Paranoia. 329
führen, Das Symptom selbst wird zum Objekt dieses Kampfes; Strebungen
die es behaupten wollen, messen sich mit anderen, die seine Aufhebung und
die Herstellung des früheren Zustandes durchzusetzen bemüht sind. Häufig
werden Wege gesucht, um das Symptom zu entwerten, indem man das Ver-
lorene und durch das Symptom Versagte von anderen Zugängen her zu ge-
winnen trachtet. Diese Verhältnisse werfen ein klärendes Licht auf eine
Aufstellung von C. G. Jung, demzufolge eine eigentümliche psychische
Trägheit, die sich der Veränderung und dem Fortschritt widersetzt, die
Grundbedingung der Neurose ist, Diese Trägheit ist in der Tat sehr
eigentúmlich; sie ist keine allgemeine, sondern eine höchst spezialisierte,
sie ist auch auf ihrem Gebiet nicht Alleinherrscherin, sondern kämpft
mit Fortschritts- und Wiederherstellungstendenzen, die sich selbst nach
der Symptombildung der Neurose nicht beruhigen. Spürt man dem Aus-
gangspunkte dieser speziellen Trägheit nach, so enthüllt sie sich als die
Äußerung von sehr frühzeitig erfolgten, sehr schwer lösbaren Verknüp-
fungen von Trieben mit Eindrücken und den in ihnen gegebenen Objekten,
durch welche die Weiterentwicklung dieser Triebanteile zum Stillstand
gebracht wurde. Oder, um es anders zu sagen, diese spezialisierte „psy-
chische Trägheit“ ist nur ein anderer, kaum ein besserer Ausdruck für
das, was wir in der Psychoanalyse eine Fixierung zu nennen ge-
wohnt sind.S.
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