Der Familienroman der Neurotiker 1909-003/1922
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    SZ DIE ABLÖSUNG DES KINDES VON DEN ELTERN.

    Methode, deren Ausbildung Freud zu verdanken ist. Die
    ständige Beschäftigung mit dieser Methode schiirft dem Beob-
    achter den Blick so Weit, daß er dann im Secleuleben der später
    nicht neurotisch gewordenen Menschen die gleichen 'i‘riebkräite
    in ihren feiner nuancierten Äußerungen wiederzuerkennen
    vermag. .

    Herrn ProfessorFreud, der mir seine reichen Erfahrungen
    aus der Neurosenpsychologie zur Verfügung stellte, verdanke
    ich das Folgende über das Phantasieleben des Kindes und
    des Neurotikers: _ . .

    „Die Ablösung des heranwachsenden lndividuums von
    der Autorität der Eltern ist eine der notwendigsten‚ aber
    auch sehmerzlichsten Leistungen der Entwicklung. Es ist
    durchaus notwendig, daß sie sich vollziehe, und man darf an-
    nehmen, jeder‚normul gewordene Mensch habe sie in einem
    gewissen Maß zustande gebracht. Ja, der Fortschritt der
    Gesellschaft beruht überhaupt auf dieser Gegensätzlichkeit der
    beiden Generationen. Anderseits gibt es eine Klasse von Neu-
    rotikern, in deren Zustand man die Bedingtheit erkennt, daß
    Sie an dieser Aufgabe gescheitert sind.

    ‚Für das kleine Kind sind die Eltern zunächst die einzige
    Autorität und die Quelle alles Glaubens. Ihnen, das heißt dem
    gleichgesehlechtlichen Teile, gleich zu werden, gu'oß zu werden
    wie‚Vater und Mutter ist der intensivste, folgenschwerste
    Wunsch dieser Kinderjahre. Mit der zunehmenden intellektuellen
    Entwicklung kann_es aber nicht ausbleiben, dal] das Kind all—
    mählich die Kategorien kennen lernt, in die seine Eltern gehören.
    Es lernt andere Eltern kennen, vergleicht sie mit den seinigen
    und bekommt so ein Recht, an der ihnen zugeschriebenen
    Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit zu zweifeln. Kleine
    Ereignisse im Leben des Kindes, die eine unzufriedene5timmung
    bei ihm hervorrufen, geben ihm den Anlaß, mit der Kritik
    der Eltern einzusetzen und die gewonnene Kenntnis, daß
    andere Eltern in mancher Hinsicht vorzuziehen seien, zu dieser
    Stellungnahme gegen seine Eltern zu verwerten. Aus der
    Neurosenpsycholegie wissen wir, daß dabei unter anderen die
    intensivsten Regungen sexueller Rivalitfit mitwirken. Der Gegen-

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    DIE. FANIIJENROMANE DER NEUROTIKER 8";

    stand dieser Anlässe ist offenbar das Gefühl der Zurücksetzung.
    Nur zu oft ergeben sich Gelegenheiten, bei denen' das Kind
    zurückgesetzt wird oder sich wenigstens zurückgesetzt fühlt,
    WO es die volle Liebe der Eltern vermißt, besonders aber
    bedauert, sie mit anderen Geschwistern teilen zu müssen. Die
    Empfindung, daß die eigenen Neigungen nicht voll erwidert
    werden, macht sich dann in der aus frühen Kinderjnhren oft
    bewußt erinnerten Idee Luft, man sei ein Stiefkind oder ein
    eugenommenes Kind. Viele nicht neurotisch gewordene Menschen
    entsinnen sich sehr häufig an solche Gelegenheiten, wo'sie
    — meist durch Lektüre beeinflußt — das feindselige Benehmen
    der Eltern in dieser Weise 'auffaßten und erwidertcn. Es
    zeigt sich aber hier bereits der Einfluß des Geschlechts, indem
    der Knabe bei weitem mehr Neigung zu ieindseligen Regungen
    gegen seinen Vater als gegen seine Mutter zeigt und eine viel
    intensivere Neigung, sich von jenem als von dieser freizumachen.
    Die Phantasietätigkeit der Mädchen mag sich in diesem Punkte
    viel schwächer erweisen. In diesen bewußt erinnerten Seelen-'
    regungen der Kinderjahre finden wir das Moment, welches uns
    das Verständnis des \[ythus ermöglicht '

    „Selten bewußt eiinneit, aber fast immer durch diePsyehn-
    analyse nachzuweisen, ist dann die weitere Entwicklungsstufe
    dieser beginnenden Entfremdung von den Eltern, die man mit
    dem Namen: Fumilienromune der Neurotiker bezeichnen
    kann. Es gehört nämlich durchaus zum Wesen der Neurose
    und auch jeder höheren Begabung eine ganz besondere Tätigkeit
    der Phantasie, die sich zunächst. in den kindlichen Spielen
    offenbart und die nun, ungefähr von der Zeit der Vorpubei'tät
    angefangen, sich des Themas der Familienheziehungen bemiichtigt.
    Ein charakteristisches Beispiel dieser besonderen Phantasie-
    tätigkeit ist das bekannte Tagtriiumen‘), das weit über die
    Pubertät hinaus fortgesetzt wird. Eine genaue Beobachtung
    dieser Tagträume lehrt, daß sie der Erfüllung von Wünschen,

    1) Vgl. darüber Freud: Hysterisehe Phantasien und ihre Beziehung
    zur Bisexualität, wo auch auf die Liierntur zu diesem Thema verwiesen
    ist. Die Arbeit findet sich in der zweiten Folge der „Sammlung kleiner
    Schriften zur Neurnsenlehre" (Wien und Leipzig) 1909, wieder abgedruckt.

    G'

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    81 DIE PHANTASIEN VON HOHER ABKUNFT

    der Korrektur des Lebens dienen und vornehmlich zwei Ziele
    kennen: das erotische und das ehrgeizige (hinter dem aber
    meist auch das erotische steckt). Um die angegebene Zeit be-
    schäftigt sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe-,
    die jetzt gering geschätzten Eltern loszuwerden und durch in
    der Regel sozial hüherstehende zu ersetzen. Dabei wird das
    zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die
    Bekanntschaft des Sehloßherrn oder Gutsbesitzers auf dem
    Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) nusgenützt. Solche zu-
    fällige Erlebnisse erwecken den Neid des Kindes, der dann
    den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche beide Eltern
    durch vornehmere ersetzt. In der Technik der Ausführung
    solcher Phantasien, die natürlich um diese Zeit bewußt sind,
    kommt es auf die Geschicklichkeit und das Material an, das
    dem Kinde zur Verfügung steht. Auch handelt es sich darum,
    ob die Phantasien mit einem großen oder geringen Bemühen,
    die Wahrscheinlichkeit zu erreichen, ausgearbeitet sind. Dieses
    Stadium wird zu einer Zeit erreicht, wo dem liinde die Kenntnis
    der sexuellen Bedingungen der Herkunft nnch fehlt."

    „Kommt dann die'Kenntnis der verschiedenartigen sexuellen
    Beziehungen‘von Vater und Mutter dazu, begreift das Kind,
    daß peter semper incertus est, wiihrend die Mutter certissima
    ist, so erfährt der Familienronuan eine eigeutümliehe Ein-
    schränkung; er begnügt sich nämlich damit, den Vater zu er-
    höhen, die Abkunft von der Mutter aber als etwas Unabiinderliches
    nicht weiter in Zweifel zu ziehen. Dieses zweite (sexuelle)
    Stadium des Familienromans wird auch von einem zweiten
    Motiv getragen, das dem ersten (asexuellen) Stadium fehlte,
    Mit der Kenntnis der geschlechtlichen Vorgänge entsteht die
    Neigung, sich erotische Situationen und Beziehungen auszu—
    malen, wozu „als Triebkraft die Lust tritt,‘ die Mutter, die
    Gegenstand der höchsten sexuellen Neugierde ist, in die Situation
    von geheimer Untreue und geheimen Liebesverhiiltnissen zu
    bringen. In dieser Weise werden jene ersten gleichsam asexuellen
    Phantasien auf die Höhe der jetzigen Erkenntnis gebracht.”

    „Übrigens zeigt sich das Motiv der Rache und Vergeltung,
    das früher im Vordergrunde stand, auch hier. Diese neurotischen

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    DEUTUNG UND RECHTFERTIGUNG DIESER-PHANTASIEN. 85

    Kinder sind es ja auch meist, die bei der Abgewöhnung
    sexueller Unerten von den Eltern bestraft wnrden, und die
    sich nun durch solche Phantasien an ihren Eltern reichen."

    ‚Ganz besonders sind es nacligeborene Kinder, die vor
    allem ihre Vordermänner durch derartige Dichtungen (ganz
    wie in historischen Intrigen) ihres Vorzuges bernuben, je die
    sich oft nicht scheuen, der Mutter ebensoviele Liebesverhiilt—
    nisse anzudiohten, als Konkurrenten vorhanden sind. Eine
    interessante Variante dieses Familienromnns ist es dann, wenn
    der dichtende Held für sich selbst zur Legitiiniiät zurückkehrt,
    während er die anderen Geschwister auf diese Art als illegilim
    beseitigt. Dabei kann noch ein besonderes Interesse den
    Familienroman dirigieren, der mit seiner Vielseitigkeit und
    mennigfachen Verwendbarkeit allerlei Be'strebun'gen entgegen—
    komrnt. So beseitigt der kleine Phnntust zum Beispiel auf diese
    Weise die verwandtschaitliche Beziehung zu einer Schwester,
    die ihn etwa sexuell angezogen hat."

    „Wer sich von dieser Verderbtheit des kindlichen Gemütes
    mit Sehnudern ahwendete, ja selbst die Möglichkeit solcher
    Dinge bestreiten wollte, dem sei bemerkt, daß alle diese an-
    scheinend so feindseligen Dichtungen eigentlich nicht so büsé
    gemeint sind und unter leichter Verkleidung die erhalten ge-
    bliebene ursprüngliche Zärtlichkeit des Kindes für seine Eltern
    bewahren. Es ist nur scheinbare Treulosigkeit und Undankbarkeit;
    denn wenn ninn die häufigste dieser Romanphzmtasien, den
    Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters durch großartigero
    Personen, im Detail durchgeht, so macht man die Entdeckung,
    daB diese neuen und vornehmen Eltern durchwegs niit Zügen
    ausgestattet sind, die von realen Erinnerungen im die wirklichen
    niederen Eltern herrühren, so daß das Kind den Vater
    eigentlich nicht beseitigt, sondern erhöht. Ja, das ganze'
    Bestreben, den wirklichen Vater durch einen \‘01‘j
    nehmer-en zu ersetzen, ist nur der Ausdruck der Sohn-
    sucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit,
    in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste
    Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau
    erschienen ist. Er wendet sich vom Vater, den er jetzt er-

  • S.

    ss DER FAMILIENROMAN Wim)
    kennt, zuriickyzu dem, an den er in früheren Kinderjahren
    geglaubt hat, und die Phantasie ist eigentlich nur der
    Ausdruck des Bedansrns, daß diese glückliehe Zeit
    entsehwunden ist. Die Überschätzung der frühesten Kindheits-
    jahre tritt also in diesen Phantasien wieder in ihr volles Recht.
    Ein interessanter Beitrag zu diesem Thema ergibt sich aus
    dem Studium der Träume. Die Traumdeutung lehrt nämlich,
    daß auch noch in späteren Jahren in Träumen vom Kaiser
    oder von der Kaiserin diese erlauehten Persönlichkeiten Vater
    und Mutter bedeuten‘). Die kindliche Uberschiitzung der:
    Eltern ist also auch im Traum des normalen Erwachsenen er.
    halten.”

    Wenn wir nun darungehen, diese Gesichtspunkte auf unser
    Schema anzuwenden, so gibt uns die Übereinstimmung der
    Tendenz des Familienromans und des Heldenmythus die Be-

    rechtigung, das Ich des Kindes mit dem Helden der Sage zu
    analogisieren. Erinnern wir uns, daß der Mythus durchgängig
    das Bestreben verrät, die Eltern loszuwerdeu‚ und daß derselbe
    Wunsch in den Phantasien des kindlichen Individuums zu einer
    Zeit erwacht, wo es seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit
    zu erlangen sucht. Das Ich des Kindes benimmt sich dabei wie
    der Held der Sage und eigentlich ist ja der Held immer nur
    als ein Kollektiv-Ich aufzufassen, das mit allen vorzügliehen
    Eigenschaften ausgestattet wird, ähnlich wie ja auch in der
    persönlichen dichterisehen Schöpfung der Held meist den
    Dichter selbst oder besser eine Seite seines Weseus darstellt?)

    ‚ 1) Traumdeutung, 2. Aufl„ S. 200.

    2) Der Familiennamen bildet naturgemäß ein Kli'nuioliv unserer ge-
    samten Romaniiteratnr, angefangen von den spätgrieohisehen Sehäferromanen,
    wie ‘siel in Heliodors „Aethiopikn“, in Eustathius’‚ „Isnienias und Ismene”
    iind in der Geschichte der zwei ausgesetzten Kinder „Dllphnis und Chloe"
    erzählt werden. Auch die neueren dramatischen Hirtengediclute Italiens
    gründen sich sehr häufig auf die Aussetzung von Kindern, die von den
    Pflegeeltern als Schäfer unterzogen und dann von den wirklichen Eltern mittels
    Erkennungszeiehen, die ihnen bei der Aussetzung mitgegeben wurden
    wiedererkannt werden '— Aus der späteren Literatur sei ferner die Familien-
    gesehiehte in Griminelshadsens „Simplieisslmus“ (1665), Jean Pauls

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    M31 '
    SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE

    HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR, SIGM. FREUD
    FI]NFTES HEFT

    DER MYTHUS VON DER
    GEBURT DES HELDEN

    VERSUCH EINER
    PSYCHOLOGISCHEN MYTHENDEUTUNG

    VON

    DR. OTTO RANK

    ZWEITE, WESENTLICH ERWEITERTE AUFLAGE

    LEIPZIG UND WIEN
    FRANZ DEUTICKE
    1922

    Verlags—Nr 2741

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