Vorwort 1908-061/1908
S.

Vorwort.

Meine seit dem Jahre 1893 fortgesetzten Untersuchungen
über die Ätiologie und den psychischen Mechanismus der neu—
rotischen Erkrankungen, die anfänglich nur geringe Beachtung
bei den Fachgenossen gefunden hatten, sind endlich zur Aner—
kennung von seiten einer Anzahl von ärztlichen Forschern gelangt
und haben auch die Aufmerksamkeit auf das psychoanalytische
Untersuchungs- und Heilverfahren gelenkt, dessen Anwendung
ich meine Ergebnisse verdanke. Herr Dr. W. Stekel, einer der
ersten Kollegen, die ich in die Kenntnis der Psychoanalyse ein-
führen konnte, und gegenwärtig selbst durch vieljährige Ausübung
mit deren Technik vertraut, unternimmt es nun, ein Kapitel aus
der Klinik dieser Neurosen auf Grund meiner Anschauungen zu
bearbeiten und seine mit der psychoanalytischen Methode gewon-
nenen Erfahrungen für ärztliche Leser darzustellen. Wenn ich
in dem eben dargelegten Sinne bereitwillig die Verantwortung
für seine Arbeit übernehme, so scheint es doch billig, daß ich
ausdrücklich erkläre. mein direkter Einfluß auf das vorliegende
Buch über die nervösen Angstzustände sei ein sehr geringer
gewesen. Die Beobachtungen und alle Einzelheiten der Auffassung
und Deutung sind sein Eigentum; nur die Bezeichnung „Angst—
hysterie“ geht auf meinen Vorschlag zurück.

Ich darf sagen, daß Dr. Stekels Werk auf reicher Erfahrung
fußt, und daß es dazu bestimmt ist, andere Ärzte anzuregen
unsere Ansichten über die Ätiologie dieser Zustände durch eigene
Bemiihung zu bestätigen. Es eröffnet oft unerwartete Einblicke
in die Wirklichkeiten des Lebens, die sich hinter den neurotischen
Symptomen zu verbergen pflegen, und wird die Kollegen wohl
überzeugen, daß es für ihr Verständnis wie für ihr therapeutisches
Wirken nicht gleichgültig sein kann, welche Stellung sie zu den
hier gegebenen Winken und Aufklärungen einnehmen wollen,

Wien, im März 1908.
Prof. Freud.