S.
ÜBER LIBIDINOSE TYPEN
Von
Sigm. Freud
Aus dem XVII. Band (1931) der Internationalen Zeit-
schrift für Psychoanalyse". (Jährlich vier Hefte im Ge-
samtumfang von etwa 600 Seiten. M. 28-.)
Unsere Beobachtung zeigt uns, daß die einzelnen
menschlichen Personen das allgemeine Bild des Men-
schen in einer kaum übersehbaren Mannigfaltigkeit ver-
wirklichen. Wenn man dem berechtigten Bedürfnis nach-
gibt, in dieser Menge einzelne Typen zu unterscheiden,
so wird man von vorneherein die Wahl haben, nach
welchen Merkmalen und von welchen Gesichtspunkten
man diese Sonderung vornehmen soll. Körperliche Eigen-
schaften werden für diesen Zweck gewiß nicht weniger
brauchbar sein als psychische; am wertvollsten werden
solche Unterscheidungen sein, die ein regelmäßiges Bei-
sammensein von körperlichen und seelischen Merkmalen
versprechen.
Es ist fraglich, ob es uns bereits jetzt möglich ist,
Typen von solcher Leistung herauszufinden, wie es
später einmal auf einer noch unbekannten Basis gewiß
gelingen wird. Beschränkt man sich auf die Bemühung,
bloß psychologische Typen aufzustellen, so haben die
Verhältnisse der Libido den ersten Anspruch, der Ein-
teilung als Grundlage zu dienen. Man darf fordern, daß
diese Einteilung nicht bloß aus unserem Wissen oder
unseren Annahmen über die Libido abgeleitet sei, sondern
daß sie sich auch in der Erfahrung leicht wiederfinden
lasse und daß sie ihr Teil dazu beitrage, die Masse
unserer Beobachtungen für unsere Auffassung zu klären.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese libidinösenS.
Typen auch auf psychischem Gebiet nicht die einig
möglichen zu sein brauchen, und daß man, von anderen
Eigenschaften ausgehend, vielleicht eine game Reihe
anderer psychologischer Typen aufstellen kann. Für alle
solche Typen muß gelten, daß sie nicht mit Krankheits-
bildern zusammenfallen dürfen. Sie sollen im Gegenteil
alle die Variationen umfassen, die nach unserer prall:-
tisch gerichteten Schätzung in die Breite des Nurmnlen
fallen. Wohl aber können sie sich in ihren extremen
Ausbildungen den Krankheitsbildern annähern und sol-
cherart die vermeintliche Kluft zwischen dem Normalen
und dem Pathologisehen ausfüllen helfen.Nun lassen sich je nach der vorwiegenden Unterbrin—
gung der Libido in den Provinzen des seelischen Appumta
drei libidinöse Haupttypen unterscheiden. Deren Namen-
gebung ist nicht ganz leicht; in Anlehnung an unsere
Tiefenpsychologie möchte ich sie als den erotischen,
den narzißtischen und den Zwangstypus be-
zeichnen.Der erotische Typus ist leicht zu charakterisieren.
Die Erotiker sind Personen, deren Hauptinteresse —- der
relativ größte Betrag ihrer Libido — dem Liebesleben
angewendet ist. Lieben, besonders aber Geliebtwerden. ist
ihnen das Wichtigste. Sie werden von der Angst vor
dem Liebesverlnst beherrscht und sind darum besonders
abhängig von den anderen, die ihnen die Liebe Versagen
können. Dieser Typus ist auch in seiner reinen Form
recht häufig. Variationen desselben ergeben sich je nach
der Vermengung mit einem andern Typus und dem
gleichzeitigen Ausmaß von Aggression. Sozial wie lm]-
turell vertritt dieser Typus die elementaren Triehan-
sprüche des Es, dem die andern psychischen Instanzen
gefügig geworden sind.10
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Der zweite Typus, dem ich den zunächst befremd-
lichen Namen Zwangstypus gegeben habe, zeichnet
sich durch die Vorherrschaft des Über—Ichs aus, das
sich unter hoher Spannung vom Ich absondert. Er wird
von der Gewissensangst beherrscht an Stelle der Angst
vor dem Liebesverlust, zeigt eine sozusagen innere Ab—
hängigkeit anstatt der äußeren, entfaltet ein hohes Maß
von Selbständigkeit und wird sozial zum eigentlichen,
vorwiegend konservativen Träger der Kultur.Der dritte, mit gutem Recht n a rz i L') tisch geheißene
Typus ist wesentlich negativ charakterisiert. Keine Spam»
nung zwischen Ich und Über-Ich, — man würde von
diesem Typus her kaum zur Aufstellung, eines Über—
lchs gekommen sein, — keine Ubermacht der erotischen
Bedürfnisse, das Hauptinteresse auf die Selbsterhallung
gerichtet, unabhängig und wenig eingeschüchtert. Dem
Ich ist ein großes Maß von Aggression verfügbar, das
sich auch in Bereitschaft zur Aktivität kundgibt; im
Liebesleben wird das Lieben vor dem Geliebtwerdcn be—
vorzugt. Menschen dieses Typus importieren den anderen
als „l’ersönlichkeiten", sind besonders geeignet, anderen
als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu über—
nehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu ge-
ben oder das Bestehende zu schädigen.Diese reinen Typen werden dem Verdacht der Ablei-
tung aus der Theorie der Libido kaum entgehen. Man fühlt
sich aber auf dem sicheren Boden der Erfahrung, wenn
man sich nun den gemischten Typen zuwendet, die um
so viel häufiger zur Beobachtung kommen als die reinen.
Diese neuen Typen, der erotisch-z wnngha fte,
der erotisch—nnrzißtische und der ne Miß—
tische Zwangstypus, scheinen in der Tat eine gute
Unterbringung der individuellen psychischen Strukturen,."
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wie wir sie durch die Analyse kennen gelernt haben. zu
gestalten. Es sind längst vertraute Charakterhilder. auf
die man bei der Verfolgung dieser Mischtypen gerät.
Beim erotischen Zwangstypus scheint die (beh—
macht des Trieblebens durch den Einfluß des Über-Ich.
eingeschränkt; die Abhängigkeit gleichzeitig von rezenten
menschlichen Objekten und von den Relikten der Eltern,
Erzieher und Vorbilder erreicht bei diesem Typus den
höchsten Grad. Der erotisch-narzil$tische ist viel—
leicht jener, dem man die größte Häufigkeit zusprechetl
muß. Er vereinigt Gegensätze, die sich in ihm gegenseitig
ermäßigen können; man kann an ihm im Verglehll mit
den beiden anderen erotischen Typen lernen. daß Aggro.—
sion und Aktivität mit der Vorherrschaft des Narzißmu.
zusammengehen. Der narzißtische Zwengstyplll
endlich ergibt die kulturell wertvollste Variation, indem
er zur äußeren Unabhängigkeit und Beachtung der Ge-
wissensforderung die Fähigkeit zur kraftvollen Betäti—gung hinzufügt und das Ich gegen das Über-Ich ver-
stärkt.Men könnte meinen, einen Scherz zu machen, wenn
man die Frage aufwirft, warum ein anderer theoretisch
möglicher Mischtypus hier keine Erwähnung findet. mim—
licb der erotisch-zwanghal't-narzißtische.
Aber die Antwort auf diesen Scherz ist ernsthaft: weil
ein solcher Typus kein Typus mehr wäre, sondern die
absolute Norm, die ideale Harmonie, bedeuten würde.
Man wird dabei inne, daß das Phänomen des Typus
eben dadurch entsteht, daß von den drei Hauptverwalt—
dungen der Libido im seelischen Haushalt eine oder zwei
auf Kosten der anderen begünstigt worden sind.Man kann sich auch die Frage vorlegen. welches du
Verhältnis dieser libidinösen Typen zur Pathologie ist,12
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ob einige von ihnen zum Übergang in die Neurose beson-
ders disp0niert sind. und dann, welche Typen zu wel-
chen Formen führen. Die Antwort wird lauten, daß die
Aufstellung dieser libidinösen Typen kein neues Licht
auf die Genese der Neurosen wirft. Nach dem Zeugnis
der Erfahrung sind alle diese Typen ohne Neurose
lebensfähig. Die reinen Typen mit dem unbestrittenen
Übergewicht einer einzelnen seelischen Instanz scheinen
die größere Aussicht zu haben, als reine Charakterbilder
aufzutreten, während man von den gemischten Typen
erwarten könnte, daß sie für die Bedingungen der Neu-
rose einen günstigeren Boden bieten. Doch meine ich,
man sollte über diese Verhältnisse nicht ohne besonders
gerichtete, sorgfältige Nachprüfung entscheiden.Daß die erotischen Typen im Falle der Erkrankung
Hysterie ergeben, wie die Zwangstypen Zwangsneurose,
scheint ja leicht zu ernten, ist aber auch an der zuletzt
betonten Unsicherheit beteiligt. Die narzißtischen Typen,
die bei ihrer sonstigen Unabhängigkeit der Versagung
von seiten der Außenwelt ausgesetzt sind, enthalten eine
besondere Disposition zur Psychose, wie sie auch wesent-
liche Bedingungen des Verbrechertums beistellen.Die ätiologischen Bedingungen der Neurose sind be—
kanntlich noch nicht sicher erkannt. Die Veranlassungen
der Neurose sind Versagungen und innere Konflikte,
Konflikte zwischen den drei großen psychischen Instan-
zen, Konflikte innerhalb des Libidohaushalts infolge der
bisexuellen Anlage, zwischen den erotischen und aggres—
siven Triebkomponenten. Was diese dem normalen psy-
chischen Ablauf zugehörigen Vorgänge pathogen macht,
bemüht sich die Neurosenpsychologie zu ergründen.13
AlmanachDerPsychoanalyse1933
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