S.
Die Widerstände gegen die
Psychoanalyse
von
Sigm. Freud
Aus dem in Vorbereitung befindlichen
XI. Band der „Gesammelten Schriften".
(Die Arbeit erschien zuerst französisch
in „La Revue Juive", 1925.)
Wenn sich der Säugling auf dem Arm der Pflegerin
schreiend von einem fremden Gesicht abwendet,
Fromme den neuen Zeitabschnitt mit einem Gebet er-
öffnet, aber auch die Erstlingsfrucht des Jahres mit einem
Segensspruch begrüßt, wenn der Bauer eine Sense zu
kaufen verweigert, welche nicht die seinen Eltern ver-
traute Fabriksmarke trägt, So ist die Verschiedenheit
dieser Situationen augenfällig und der Versuch scheint
berechtigt, jede derselben auf ein anderes Motiv zurück-
zuführen.
der
Doch wäre es unrecht, das ihnen Gemeinsame zu ver-
kennen. In allen Fällen handelt es sich um die nämliche
Unlust, die beim Kinde elementaren Ausdruck findet, beim
Frommen kunstvoll beschwichtigt, beim Bauern zum Motiv
einer Entscheidung gemacht wird. Die Quelle dieser Un-
lust aber ist der Anspruch, den das Neue an das Seelen-
leben stellt, der psychische Aufwand, den es fordert, die
bis zur angstvollen Erwartung gesteigerte Unsicherheit,
die es mit sich bringt. Es wäre reizvoll, die seelische
Reaktion auf das Neue an sich zum Gegenstand einer
Studie zu machen, denn unter gewissen nicht mehr pri-
mären Bedingungen wird auch das gegenteilige Verhalten
beobachtet, ein Reizhunger, der sich auf alles Neue stürzt,
und darum, weil es neu ist.
9
S.
Im wissenschaftlichen Betrieb sollte für die Scheu vor
dem Neuen kein Raum sein. In ihrer ewigen Unvoll-
ständigkeit und Unzulänglichkeit ist die Wissenschaft dar-
auf angewiesen, ihr Heil von neuen Entdeckungen und
neuen Auffassungen zu erhoffen. Um nicht zu leicht ge-
täuscht zu werden, tut sie gut daran, sich mit Skepsis zu
wappnen, nichts Neues anzunehmen, das nicht eine strenge
Prüfung bestanden hat. Allein gelegentlich zeigt dieser
Skeptizismus zwei unvermutete Charaktere. Er richtet sich
scharf gegen das Neu-Ankommende, während er das bereits
Bekannte und Geglaubte respektvoll verschont, und er be-
gnügt sich damit zu verwerfen, auch ehe er untersucht
hat. Dann enthüllt er sich aber als die Fortsetzung jener
primitiven Reaktion gegen das Neue, als ein Deckmantel
für deren Erhaltung. Es ist allgemein bekannt, wie oft
es sich in der Geschichte der wissenschaftlichen Forschung
zugetragen hat, daß Neuerungen von einem intensiven und
hartnäckigen Widerstand empfangen wurden, wo dann der
weitere Verlauf zeigte, daß der Widerstand unrecht hatte
und daß die Neuheit wertvoll und bedeutsam war. In der
Regel waren es gewisse inhaltliche Momente des Neuen,
die den Widerstand provozierten, und auf der anderen
Seite mußten mehrere Momente zusammenwirken, um den
Durchbruch der primitiven Reaktion zu ermöglichen.
Einen besonders übeln Empfang hat die Psychoana-
lyse gefunden, die der Autor vor nahezu dreißig Jahren
aus den Funden von Josef Breuer in Wien über die
Entstehung neurotischer Symptome zu entwickeln begann.
Ihr Charakter als Neuheit ist unbestreitbar, wenngleich
sie außer diesen Entdeckungen reichliches Material ver-
arbeitete, das anderswoher bekannt war, Ergebnisse der
Lehren des großen Neuropathologen Charcot und Ein-
drücke aus der Welt der hypnotischen Phänomene. Ihre
Bedeutung war ursprünglich eine rein therapeutische, sie
10
S.
wollte eine neue wirksame Behandlung der neurotischen
Erkrankungen schaffen. Aber Zusammenhänge, die man,
zunächst nicht aḥnen konnte, ließen die Psychoanalyse
weit über ihr anfängliches Ziel hinausgreifen. Sie erhob
endlich den Anspruch, unsere Auffassung des Seelenlebens
überhaupt auf eine neue Basis gestellt zu haben, und
darum für alle Wissensgebiete wichtig zu sein, die auf
Psychologie gegründet sind. Nach einem Jahrzehnt völliger
Vernachlässigung wurde sie plötzlich Gegenstand des all-
gemeinsten Interesses und - entfesselte einen Sturm von
entrüsteter Ablehnung.
In welchen Formen der Widerstand gegen die Psycho-
analyse Ausdruck gefunden hat, sei hier beiseite gelassen.
Es genüge die Bemerkung, daß der Kampf um diese Neue-
rung noch keineswegs zu Ende gekommen ist. Doch ist
bereits zu erkennen, welche Richtung er nehmen wird.
Es ist der Gegnerschaft nicht gelungen, die Bewegung zu
unterdrücken. Die Psychoanalyse, deren einziger Vertreter
ich vor zwanzig Jahren war, hat seither zahlreiche be-
deutende und eifrig arbeitende Anhänger gefunden, Ärzte
und Nichtärzte, die sie als Verfahren der Behandlung von
nervös Kranken ausüben, als Methode der psychologischen
Forschung pflegen und als Hilfsmittel der wissenschaft-
lichen Arbeit auf den mannigfaltigsten Gebieten des
geistigen Lebens anwenden. Unser Interesse soll sich hier
nur auf die Motivierung des Widerstandes gegen die
Psychoanalyse richten, die Zusammengesetztheit desselben
und die verschiedene Wertigkeit seiner Komponenten be-
sonders beachten.
Die klinische Betrachtung muß die Neurosen in die
Nähe der Intoxikationen oder solcher Leiden wie die
Basedowsche Krankheit rücken. Das sind Zustände, die
durch den Überschuß oder relativen Mangel an bestimmten
sehr wirksamen Stoffen entstehen, ob sie nun im Körper
11
S.
selbst gebildet oder von außen eingeführt werden, also
eigentlich Störungen des Chemismus, Toxikosen. Gelänge
es jemandem, den oder die hypothetischen Stoffe, die für
die Neurosen in Betracht kommen, zu isolieren und auf-
zuzeigen, so hätte sein Fund keinen Einspruch von Seite
der Ärzte zu besorgen. Allein dazu führt vorläufig noch
kein Weg. Wir können zunächst nur vom Symptombild
der Neurose ausgehen, das z. B. im Falle der Hysterie
aus körperlichen und seelischen Störungen zusammen-
gesetzt ist. Nun lehrten die Experimente von Charcot
sowie die Krankenbeobachtungen von Breuer, daß auch die
körperlichen Symptome der Hysterie psychogen, d. h.
Niederschläge abgelaufener seelischer Prozesse sind. Durch
das Mittel der Versetzung in den hypnotischen Zustand
war man imstande, die somatischen Symptome der Hysterie
nach Willkür künstlich zu erzeugen.
Diese neue Erkenntnis griff die Psychoanalyse auf und
begann damit, sich die Frage vorzulegen, welches die
Natur jener psychischen Prozesse sei, die so ungewöhn-
liche Folgen hinterlassen. Aber diese Forschungsrichtung
war nicht nach dem Sinn der lebenden Ärztegeneration.
Die Mediziner waren in der alleinigen Hochschätzung
anatomischer, physikalischer und chemischer Momente er-
zogen worden. Für die Würdigung des Psychischen waren
sie nicht vorbereitet, also brachten sie diesem Gleich-
gültigkeit und Abneigung entgegen. Offenbar bezweifelten
sie, daß psychische Dinge überhaupt eine exakte wissen-
schaftliche Behandlung zulassen. In übermäßiger Reaktion
auf eine überwundene Phase, in der die Medizin von den
Anschauungen der sogenannten Naturphilosophie beherrscht
wurde, erschienen ihnen Abstraktionen, wie die, mit denen
die Psychologie arbeiten muß, als nebelhaft, phantastisch,
mystisch; merkwürdigen Phänomenen aber, an welche die
Forschung hätte anknüpfen können, versagten sie einfach
12
S.
den Glauben. Die Symptome der hysterischen Neurose
galten als Erfolg der Simulation, die Erscheinungen des
Hypnotismus als Schwindel. Selbst die Psychiater, zu deren
Beobachtung sich doch die ungewöhnlichsten und ver-
wunderlichsten seelischen Phänomene drängten, zeigten
keine Neigung, deren Details zu beachten und ihren Zu-
sammenhängen nachzuspüren. Sie begnügten sich damit,
die Buntheit der Krankheitserscheinungen zu klassifizieren
und sie, wo immer es nur anging, auf somatische, ana-
tomische oder chemische Störungsursachen zurückzuführen.
In dieser materialistischen oder besser: mechanistischen
Periode hat die Medizin großartige Fortschritte gemacht,
aber auch das vornehmste und schwierigste unter den
Problemen des Lebens in kurzsichtiger Weise verkannt.
Es ist begreiflich, daß die Mediziner bei solcher Ein-
stellung zum Psychischen keinen Gefallen an der Psycho-
analyse fanden und ihre Aufforderung, in vielen Stücken
umzulernen und manche Dinge anders zu sehen, nicht
erfüllen wollten. Aber dafür, sollte man meinen, hätte die
neue Lehre um so leichter den Beifall der Philosophen
finden müssen. Die waren ja gewohnt, abstrakte Begriffe
böse Zungen sagten allerdings: unbestimmbare Worte -
zu oberst in ihre Welterklärungen einzusetzen und konnten
an der Ausdehnung des Bereichs der Psychologie, welche
die Psychoanalyse anbahnte, unmöglich Anstoß nehmen.
Aber da traf sich ein anderes Hindernis. Das Psychische
der Philosophen war nicht das der Psychoanalyse. Die
Philosophen heißen in ihrer überwiegenden Mehrzahl
psychisch nur das, was ein Bewußtseinsphänomen ist. Die
Welt des Bewußten deckt sich ihnen mit dem Umfang
des Psychischen. Was sonst noch in der schwer zu er-
fassenden „Seele" vorgehen mag, das schlagen sie zu den
organischen Vorbedingungen oder Parallelvorgängen des
Psychischen. Oder strenger ausgedrückt, die Seele hat
13
S.
keinen anderen Inhalt als die Bewußtseinsphänomene, die
Wissenschaft von der Seele, die Psychologie, also auch kein
anderes Objekt. Auch der Laie denkt nicht anders.
Was kann der Philosoph also zu einer Lehre sagen, die
wie die Psychoanalyse behauptet, das Seelische sei viel-
mehr an sich unbewußt, die Bewußtheit nur eine Quali-
tät, die zum einzelnen seelischen Akt hinzutreten kann
oder auch nicht und die eventuell an diesem nichts anderes
ändert, wenn sie ausbleibt? Er sagt natürlich, ein unbe-
wußtes Seelisches ist ein Unding, eine contradictio in ad-
jecto, und will nicht bemerken, daß er mit diesem Urteil
nur seine eigene - vielleicht zu enge Definition des
Seelischen wiederholt. Dem Philosophen wird diese Sicher-
heit leicht gemacht, denn er kennt das Material nicht,
dessen Studium den Analytiker genötigt hat, an unbewußte
Seelenakte zu glauben. Er hat die Hypnose nicht beachtet,
sich nicht um die Deutung von Träumen bemüht, —
Träume hält er vielmehr ebenso wie der Arzt für sinn-
lose Produkte der während des Schlafes herabgesetzten
Geistestätigkeit er ahnt kaum, daß es solche Dinge
gibt wie Zwangsvorstellungen und Wahnideen, und wäre
in arger Verlegenheit, wenn man ihm zumutete, sie aus
seinen psychologischen Voraussetzungen zu erklären. Auch
der Analytiker lehnt es ab zu sagen, was das Unbewußte
ist, aber er kann auf das Erscheinungsgebiet hinweisen,
dessen Beobachtung ihm die Annahme des Unbewußten
aufgedrängt hat. Der Philosoph, der keine andere Art der
Beobachtung kennt als die Selbstbeobachtung, vermag ihm
dahin nicht zu folgen. So erwachsen der Psychoanalyse
aus ihrer Mittelstellung zwischen Medizin und Philosophie
nur Nachteile. Der Mediziner hält sie für ein spekulatives
System und will nicht glauben, daß sie wie jede andere
Naturwissenschaft auf geduldiger und mühevoller Bear-
beitung von Tatsachen der Wahrnehmungswelt beruht;
14
S.
der Philosoph, der sie an dem Maßstab seiner eigenen
kunstvoll aufgebauten Systembildungen mißt, findet, daß
sie von unmöglichen Voraussetzungen ausgeht und wirft
ihr vor, daß ihre - erst in Entwicklung befindlichen
obersten Begriffe der Klarheit und Präzision entbehren.
Die erörterten Verhältnisse reichen hin, um einen un-
willigen und zögernden Empfang der Analyse in wissen-
schaftlichen Kreisen zu erklären. Sie lassen aber nicht ver-
stehen, wie es zu jenen Ausbrüchen von Entrüstung, von
Spott und Hohn, zur Hinwegsetzung über alle Vorschriften
der Logik und des guten Geschmacks in der Polemik
kommen konnte. Eine solche Reaktion läßt erraten, daß
andere als bloẞ intellektuelle Widerstände rege geworden
sind, daß starke affektive Mächte wachgerufen wurden, und
wirklich ist im Inhalt der psychoanalytischen Lehre genug
zu finden, dem man eine solche Wirkung auf die Leiden-
schaften der Menschen, nicht der Wissenschaftler allein,
zuschreiben darf.
Da ist vor allem die große Bedeutung, welche die
Psychoanalyse den sogenannten Sexualtrieben im mensch-
lichen Seelenleben einräumt. Nach der psychoanalytischen
Theorie sind die Symptome der Neurosen entstellte Ersatz-
befriedigungen von sexuellen Triebkräften, denen eine
direkte Befriedigung durch innere Widerstände versagt
worden ist. Später, als die Analyse über ihr ursprüng-
liches Arbeitsgebiet hinausgriff und sich auf das normale
Seelenleben anwenden ließ, versuchte sie zu zeigen, daß
dieselben Sexualkomponenten, die sich von ihren nächsten
Zielen ablenken und auf anderes hinleiten lassen, die
wichtigsten Beiträge zu den kulturellen Leistungen des
Einzelnen und der Gemeinschaft stellen. Diese Behaup-
tungen waren nicht völlig neu. Der Philosoph Schopen-
hauer hatte die unvergleichliche Bedeutung des Sexual-
lebens in Worten von unvergeßlichem Nachdruck betont,
15
S.
auch deckte sich, was die Psychoanalyse Sexualität nannte,
keineswegs mit dem Drang nach Vereinigung der geschie-
denen Geschlechter oder nach Erzeugung von Lustempfin-
dung an den Genitalien, sondern weit eher mit dem all-
umfassenden und alles erhaltenden Eros des Symposions
Platos.
Allein die Gegner vergaßen an diese erlauchten Vor-
gänger; sie fielen über die Psychoanalyse her, als hätte
sie ein Attentat auf die Würde des Menschengeschlechtes
verübt. Sie warfen ihr „Pansexualismus“ vor, obwohl die
psychoanalytische Trieblehre immer streng dualistisch ge-
wesen war und zu keiner Zeit versäumt hatte, neben den
Sexualtrieben andere anzuerkennen, denen sie ja die Kraft
zur Unterdrückung der Sexualtriebe zuschrieb. Der Gegen-
satz hatte zuerst geheißen: Sexual- und Ich-Triebe, in
späterer Wendung der Theorie lautet er: Eros und Todes-
oder Destruktionstrieb. Die partielle Ableitung der Kunst,
Religion, sozialer Ordnung von der Mitwirkung sexueller
Triebkräfte wurde als eine Erniedrigung der höchsten
Kulturgüter hingestellt und mit Emphase verkündet, daß
der Mensch noch andere Interessen habe als immer nur
sexuelle. Wobei man im Eifer übersah, daß auch das Tier
andere Interessen hat, es ist ja der Sexualität nur an-
fallsweise zu gewissen Zeiten und nicht wie der Mensch
permanent unterworfen, - daß diese anderen Interessen
beim Menschen niemals bestritten wurden, und daß der
Nachweis der Herkunft aus elementaren animalischen
Triebquellen an dem Wert einer kulturellen Errungen-
schaft nichts zu ändern vermag.
Soviel Unlogik und Ungerechtigkeit ruft nach einer
Erklärung. Ihr Ansatz ist nicht schwer zu finden. Die
menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist
die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschrän-
kung unserer Triebe. Gefesselte Sklaven tragen den Thron
16
S.
der Herrscherin. Unter den so dienstbar gemachten Trieb-
komponenten ragen die der Sexualtriebe -
im engeren
Sinne durch Stärke und Wildheit hervor. Wehe, wenn
sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die
Herrin mit Füßen getreten werden. Die Gesellschaft weiß
dies und will nicht, daß davon gesprochen wird.
Aber warum nicht? Was könnte die Erörterung scha-
den? Die Psychoanalyse hat ja niemals der Entfesselung
unserer gemeinschädlichen Triebe das Wort geredet; im
Gegenteil gewarnt und zur Besserung geraten. Aber die
Gesellschaft will von einer Aufdeckung dieser Verhältnisse
nichts hören, weil sie nach mehr als einer Richtung ein
schlechtes Gewissen hat. Sie hat erstens ein hohes Ideal
von Sittlichkeit aufgestellt, Sittlichkeit ist Triebein-
schränkung, dessen Erfüllung sie von allen ihren Mit-
gliedern fordert, und kümmert sich nicht darum, wie
schwer dem Einzelnen dieser Gehorsam fallen mag. Sie
ist aber auch nicht so reich oder so gut organisiert, daß
sie den Einzelnen für sein Ausmaß an Triebverzicht ent-
sprechend entschädigen kann. Es bleibt also dem Indi-
viduum überlassen, auf welchem Wege es sich genügende
Kompensation für das ihm auferlegte Opfer verschaffen
kann, um sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Im
ganzen ist er aber genötigt, psychologisch über seinen
Stand zu leben, während ihn seine unbefriedigten Trieb-
ansprüche die Kulturanforderungen als ständigen Druck
empfinden lassen. Somit unterhält die Gesellschaft einen
Zustand von Kulturheuchelei, dem ein Gefühl von
Unsicherheit und ein Bedürfnis zur Seite gehen muß, die
unleugbare Labilität durch das Verbot der Kritik und
Diskussion zu schützen. Diese Betrachtung gilt für alle
Triebregungen, also auch für die egoistischen; inwiefern
sie auf alle möglichen Kulturen Anwendung findet, nicht
nur auf die bis jetzt entwickelten, soll hier nicht unter-
17
2
S.
sucht werden. Und nun kommt noch für die im engeren
Sinne sexuellen Triebe hinzu, daß sie bei den meisten
Menschen in unzureichender und psychologisch inkorrekter
Weise gebändigt sind, so daß sie am ehesten bereit sind
loszubrechen.
Die Psychoanalyse deckt die Schwächen dieses Systems
auf und rät zur Änderung desselben. Sie schlägt vor, mit
der Strenge der Triebverdrängung nachzulassen und dafür
der Wahrhaftigkeit mehr Raum zu geben. Gewisse Trieb-
regungen, in deren Unterdrückung die Gesellschaft zu
weit gegangen ist, sollen zu einem größeren Maß von
Befriedigung zugelassen werden, bei anderen soll die un-
zweckmäßige Methode der Unterdrückung auf dem Wege
der Verdrängung durch ein besseres und gesicherteres Ver-
fahren ersetzt werden. Infolge dieser Kritik ist die Psycho-
analyse als „kulturfeindlich“ empfunden und als „soziale
Gefahr in den Bann getan worden. Diesem Wider-
stand kann keine ewige Dauer beschieden sein; auf die
Länge kann sich keine menschliche Institution der Ein-
wirkung gerechtfertigter kritischer Einsicht entziehen, aber
bis jetzt wird die Einstellung der Menschen zur Psycho-
analyse noch immer durch diese Angst beherrscht, welche
die Leidenschaften entfesselt und die Ansprüche an die
logische Argumentation herabsetzt.
Durch ihre Trieblehre hatte die Psychoanalyse das
Individuum beleidigt, insofern es sich als Mitglied der
sozialen Gemeinschaft fühlte; ein anderes Stück ihrer
Theorie konnte jeden Einzelnen an der empfindlichsten
Stelle seiner eigenen psychischen Entwicklung verletzen.
Die Psychoanalyse machte dem Märchen von der asexu-
ellen Kindheit ein Ende, wies nach, daß sexuelle Inter-
essen und Betätigungen bei den kleinen Kindern vom
Anfang des Lebens an bestehen, zeigte, welche Umwand-
lungen sie erfahren, wie sie etwa mit dem fünften Jahr
18
S.
einer Hemmung unterliegen und dann von der Pubertät
an in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion treten. Sie
erkannte, daß das frühinfantile Sexualleben im sogenannten
Ödipus-Komplex gipfelt, in der Gefühlsbindung an den
gegengeschlechtlichen Elternteil mit Rivalitätseinstellung
zum gleichgeschlechtlichen, eine Strebung, die sich in
dieser Lebenszeit noch ungehemmt in direkt sexuelles Be-
gehren fortsetzt. Das ist so leicht zu bestätigen, daß es
wirklich nur einer großen Kraftanspannung gelingen
konnte, es zu übersehen. In der Tat hatte jeder Einzelne
diese Phase durchgemacht, ihren Inhalt aber dann in
energischer Anstrengung verdrängt und zum Vergessen ge-
bracht. Der Abscheu vor dem Inzest und ein mächtiges
Schuldbewußtsein waren aus dieser individuellen Vorzeit
erübrigt worden. Vielleicht war es in der generellen Vor-
zeit der Menschenart ganz ähnlich zugegangen und die
Anfänge der Sittlichkeit, der Religion und der sozialen
Ordnung waren mit der Überwindung dieser Urzeit auf
das innigste verknüpft. An diese Vorgeschichte, die ihm
später so unrühmlich erschien, durfte der Erwachsene
dann nicht gemahnt werden; er begann zu toben, wenn
die Psychoanalyse den Schleier der Amnesie von seinen
Kinderjahren lüften wollte. So blieb nur ein Ausweg: was
die Psychoanalyse behauptete, mußte falsch sein und diese
angebliche neue Wissenschaft ein Gewebe von Phan-
tasterei und Entstellungen.
Die starken Widerstände gegen die Psychoanalyse waren
also nicht intellektueller Natur, sondern stammten aus
affektiven Quellen. Daraus erklärten sich ihre Leiden-
schaftlichkeit wie ihre logische Genügsamkeit. Die Situ-
ation folgte einer einfachen Formel: die Menschen be-
nahmen sich gegen die Psychoanalyse als Masse genau
wie der einzelne Neurotiker, den man wegen seiner Be-
schwerden in Behandlung genommen hatte, dem man aber
19
2*
S.
in geduldiger Arbeit nachweisen konnte, daß alles so vor-
gefallen war, wie man es behauptete. Man hatte es ja
auch nicht selbst erfunden, sondern aus dem Studium
anderer Neurotiker durch die Bemühung von mehreren
Dezennien erfahren.
Diese Situation hatte gleichzeitig etwas Schreckhaftes
und etwas Tröstliches; das erstere, weil es keine Kleinig-
keit war, das ganze Menschengeschlecht zum Patienten zu
haben, das andere, weil schließlich sich alles so abspielte,
wie es nach den Voraussetzungen der Psychoanalyse ge-
schehen mußte.
Überschaut man nochmals die beschriebenen Wider-
stände gegen die Psychoanalyse, so muß man sagen, nur
ihr kleinerer Anteil ist von der Art, wie er sich gegen
die meisten wissenschaftlichen Neuerungen von einigem
Belang zu erheben pflegt. Der größere Anteil rührt davon
her, daß durch den Inhalt der Lehre starke Gefühle der
Menschheit verletzt worden sind. Dasselbe erfuhr ja auch
die Darwinsche Deszendenztheorie, welche die vom Hoch-
mut geschaffene Scheidewand zwischen Mensch und Tier
niederriẞ. Ich habe auf diese Analogie in einem früheren
kurzen Aufsatz („Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“,
Imago 1917) hingewiesen. Ich betonte dort, daß die psycho-
analytische Auffassung vom Verhältnis des bewußten Ichs
zum übermächtigen Unbewußten eine schwere Kränkung
der menschlichen Eigenliebe bedeute, die ich die psycho-
logische nannte und an die biologische Kränkung
durch die Deszendenzlehre und die frühere kosmologische
durch die Entdeckung des Kopernikus anreihte.
Auch rein äußerliche Schwierigkeiten haben dazu bei-
getragen, den Widerstand gegen die Psychoanalyse zu ver-
stärken. Es ist nicht leicht, ein selbständiges Urteil in
Sachen der Analyse zu gewinnen, wenn man sie nicht
an sich selbst erfahren oder an einem anderen ausgeübt
20
S.
hat. Letzteres kann man nicht, ohne eine bestimmte, recht
heikle Technik erlernt zu haben, und bis vor kurzem gab
es keine bequem zugängliche Gelegenheit, die Psychoana-
lyse und ihre Technik zu erlernen. Das hat sich jetzt
durch die Gründung der Berliner Psychoanalytischen Poli-
klinik und Lehranstalt (1920) zum Besseren gewendet. Bald
nachher (1923) ist in Wien ein ganz ähnliches Institut
ins Leben gerufen worden.
Endlich darf der Autor in aller Zurückhaltung die
Frage aufwerfen, ob nicht seine eigene Persönlichkeit als
Jude, der sein Judentum nie verbergen wollte, an der
Antipathie der Umwelt gegen die Psychoanalyse Anteil
gehabt hat. Ein Argument dieser Art ist nur selten
laut geäußert worden; wir sind leider so argwöhnisch
geworden, daß wir nicht umhin können zu vermuten, der
Umstand sei nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Es ist
vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter
der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu be-
kennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwillig-
keit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition
auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden ver-
trauter ist als einem anderen.
»Die Ausnahmen<<
von
Sigm. Freud
Aus Einige Charaktertypen aus der psycho-
analytischen Arbeit" (Ges. Schriften, Bd. X).
Die psychoanalytische Arbeit sieht sich immer wieder
vor die Aufgabe gestellt, den Kranken zum Verzicht auf
einen naheliegenden und unmittelbaren Lustgewinn zu
21
AlmanachDerPsychoanalyseI1926
9
–21