S.
Vorwort.
Meine seit dem Jahre 1895 fortgesetzten Untersuchungen über
die Ätiologie und den psychischen Mechanismus der neurotischen
Erkrankungen, die anfänglich nur geringe Beachtung bei den Fach-
genossen gefunden hatten, sind endlich zur Anerkennung von seiten
einer Anzahl von ärztlichen Forschern gelangt und haben auch die
Aufmerksamkeit auf das psychoanalytische Untersuchungs- und
Heilverfahren gelenkt, dessen Anwendung ich meine Ergebnisse ver-
danke. Herr Dr. W. Stekel, einer der ersten Kollegen, die ich in
die Kenntnis der Psychoanalyse einführen konnte, und gegenwärtig
selbst durch vieljährige Ausübung mit deren Technik vertraut, unter-
nimmt es nun, ein Kapitel aus der Klinik dieser Neurosen auf Grund
meiner Anschauungen zu bearbeiten und seine mit der psycho-
analytischen Methode gewonnenen Erfahrungen für ärztliche Leser
darzustellen. Wenn ich in dem eben dargelegten Sinne bereitwillig
die Verantwortung für seine Arbeit übernehme, so scheint es doch
billig, daß ich ausdrücklich erkläre, mein direkter Einfluß auf das
vorliegende Buch über die nervösen Angstzustände sei ein sehr
geringer gewesen. Die Beobachtungen und alle Einzelheiten der Auf-
fassung und Deutung sind sein Eigentum; nur die Bezeichnung
„Angsthysterie“ geht auf meinen Vorschlag zurück.
Ich darf sagen, daß Dr. Stekels Werk auf reicher Erfahrung
fußt, und daß es dazu bestimmt ist, andere Ärzte anzuregen, unsere
Ansichten über die Ätiologie dieser Zustände durch eigene Bemühung
zu bestätigen. Es eröffnet oft unerwartete Einblicke in die Wirklich-
keiten des Lebens, die sich hinter den neurotischen Symptomen zu
verbergen pflegen, und wird die Kollegen wohl überzeugen, daß es
für ihr Verständnis wie für ihr therapeutisches Wirken nicht gleich-
gültig sein kann, welche Stellung sie zu den hier gegebenen Winken
und Aufklärungen einnehmen wollen.
Wien, im März 1908.
Prof. Freud.
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