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S.
Tegel
24. X 1928
Meine liebe Ruth
Heute Ihren Brief 12 dM erhalten –
Anlaß Ihnen endlich Bericht zu geben. – Sie
haben sich dies verdient durch den
großen Anteil an meiner Entscheidung
und durch die Richtigkeit Ihres Urteils in
den meisten Punkten.Vor drei Wochen haben Sie mich zur
Heimkehr begrüßt. Nun ich bin noch
immer hier, mein Briefpapier ist aus-
gegangen u ich möchte mir doch nicht
Neues mit dem Aufdruck: Sanatorium
Schloss Tegel machen lassen. Nein ich
rechne damit, zu Ende dieses Monats
abzureisen.Mit welchem Erfolg? Nun, nicht schlecht nicht
ideal aber das letztere ist vielleicht
überhaupt unmöglich. Die Prothese sitzt
unverrückt, das Kauen ist viel leichter,
die Sprache gut, noch wechselnd, soll all-
mälig besser und besser werden. Das
Ganze war also nicht umsonst (siehe später)
ein bedeutender Gewinn dürfte
bleiben. Viele Quälereien bin ich
gründlich los geworden, leider denkt
man daran nicht genug und läßt
sich nur von dem, was noch da ist,
beherrschen. Wenn man Leibschmerzen
hat, was hilft einem die Überlegung,
daß man nicht mehr Zahnschmerzen
hat wie früher. Meine Enttäuschung
liegt daran, daß ich hoffte, die Par-
aesthesien los zu werden, die
den Kiefer zu einer Obsession für
meine Aufmerksamkeit werden
ließen. Das ist nun nicht der Fall,
mit überflüßigen unangenehmen Empfind-
ungen bin ich noch reichlich versehen.
Schroeder meint die heftige Naseneit-
erung, die ich mitgebracht habe, trägt -
S.
die Schuld daran. Diese Eiterung besteht bei mir
intermittirend – seit 25 Jahren hat sich noch
auf dem Semmering wieder eingestellt.
Jeder Anfall dauert Monate. In früheren
JahrenSchnupfenpflegte ich diesen „Schnupfen“
mit der braven Schwiegermutter zu
vergleichen, von der der Schwiegersohn
rühmt, sie käme nur zweimal im
Jahr auf Besuch, allerdings dauert jeder
Besuch etwa sechs Monate. Diese Eiterung
ist also keine Folge des Prothesenreizes
sondern eine sorgliche Zugabe einer
gütigen Vorsehung.Ich muß jetzt eine frühere Andeutung aus-
führen. Das Ganze war doch umsonst, denn
Schr. will durchaus kein Honorar von
mir annehmen, nur die Kosten für den
Techniker u das Material!! Bei gehob-
ener Stimmung hätte ich das Ersparte alles
bei Lederer ausgegeben, aber meiner
Mittellage entsprechend habe ich mich mit
bescheidenen Einkäufen begnügt. –Genug von mir. Ich bin für alle Nach-
richten von Ihnen dankbar, mehr noch
als Ihr Brief enthält. Nur über „Technik“
sollten Sie den Amerikanern
nicht lesen. Wer nicht selbst Analytiker ist, kann
sich grade aus solchen Mitteilungen
nichts herausnehmen, für Analytiker
wäre ein Negativkurs angezeigt,
nur sagen, was man gewiß nicht
thun darf. – Lehrman erweist sichalsliebenswürdiger, gründlicher u
wertvoller als man erwarten konnte.
Marie läßt, seitdem sie fast aesthetisch
geworden ist, die alte Frage wieder
auftauchen, wozu der liebe Gott den
Frauenzim̄ern das bischen Verstand
gegeben hat. Sie war soviel netter
als sie noch frigid war. Aber er muß
es wissen!Ich grüße Sie und Mark
herzlich Ihr
Freud
Sanatorium Schloss Tegel
Berlin-Tegel 13507
Germany
14 Washington Sq.
10011 NY
United States
C19F27