• S.

    Tegel
    25. 9. 1928
    PROF. DR. FREUD 
    WIEN IX., BERGGASSE 19

    Meine liebe Ruth

    Ihr Brief mit all den genauen 
    Nachrichten über Ihr und Marks 
    Befinden u Absichten hat 
    mich sehr erfreut. Ich sehe vor-
    aus, daß die neue Situation 
    Sie dazu bringen wird, länger 
    in Amerika zu bleiben, 
    und zweifle nicht daran, 
    daß sich in dieser Zeit Ihre 
    Praxis einstellen wird. An 
    Bullitt (Lonway Mass.) möchte 
    ich nicht selbst schreiben, 
    meine aber, Sie können es 
    sehr gut thun, obwol bei seiner 
    Isolirung kaum etwas heraus-
    schauen wird. Anna hat 
    gerade gestern die Korrektur 
    Ihrer Carla für die Zeitsch 
    gelesen u abgeschickt. 
    Die Analyse hat Ihrer Ge-
    scheitheit gewiß nicht geschadet, 
    auch an Ihrer Forderung, von 
    Allem zu erfahren, nichts 
    geändert. In Anbetracht Ihrer 
    großen Verdienste um 
    die Prothesensache bin ich 
    bereit, Ihnen alle gewünsch-
    ten Auskünfte zu geben, 
    obwol ich mich jetzt in der 
    ungünstigsten Lage befinde,

  • S.

    in der des Krebses, der sie Schale 
    wechselt. Es geht mir also vorläufig 
    recht schlecht, ich konnte Tage 
    lang nicht rauchen, meine 
    Stunden nicht geben, kann 
    bald nicht kauen, bald nicht 
    ordentlich trinken, indem 
    ich ein Provisorium mit 
    einem anderen vertausche.

    28/9 Sie glauben doch nicht, daß 
    ich Zeit habe, einen längeren 
    Brief in einem Zug zu 
    schreiben? Heute ist die 
    Situation natürlich bereits 
    eine ganz andere.  Aber 
    ich will Ihnen ja die Vor-
    gänge von Anfang an 
    schildern.

    Zuerst wurden die Zähne rönt-
    genisirt (einer war noch nicht 
    entnervt!), dann abgeschliffen 
    bis auf Reste, dann Goldkappen 
    über sie gemacht, dann diese 
    zu einer Brücke vereinigt. 
    Das war das erste, langwierigste 
    u wie Schr. sagte, mühseligste 
    Stück der Arbeit.  Er bestätigte 
    auch, daß diese Zähne nicht 
    mehr lange ausgehalten 
    hätten. Während dieser Phase trug 
    ich die alte Prothese 
    an zwei provisorisch aufge-
    setzten Zähnen hängend.

  • S.

    Wenn einer dieser Zähne heraus-
    fiel, mußte ich gleich zu Schr. 
    nach Berlin (25 Minuten Auto). 
    Nun ist dieses Mittelstück fertig,
     ist aufgehäm̄ert u eingekittet 
    worden u soll bis zur Einäscherung 
    an seiner Stelle 

    Durch zwei schräg abgehende Fortsätze 
    hängt diese Brücke mit dem 
    abnehmbaren Teil der Prothese 
    zusammen [Skizze]. Dieser besteht 
    aus einer kleinen Gaumenplatte 
    aus Edelmetall, den anderen Zähnen 
    rechts u links u setzt sich rechts in 
    den Kloß (Obturator) fort. Die 
    Verbindung Brücke‑Platte 
    scheint unverschiebbar fest zu 
    sitzen. Der Kloß ist noch nicht 
    fertig, noch aus weicher Gutta-
    percha, schließt noch nicht voll-
    kom̄en ab, soll ausgebaut, 
    möglichst verkleinert und 
    hohl gemacht werden, ist aber 
    jetzt schon kleiner als an 
    der Wiener Prothese. Das 
    Ganze sieht sich sehr hoffnungsvoll 
    an.

    Schröder, der mich letzten Son̄tag 
    von mittag u abends behandelt 
    hatte, hat jetzt unter laufend 
    Entschuldigung für zwei

  • S.

    Tage Urlaub genom̄en, um nach Bremen 
    zu fahren, wo seine Mutter 80 J. 
    alt wird. Er kom̄t morgen, Samstag, 
    wieder. Wenn er meine geheimen 
    Wünsche versteht, behandelt er 
    mich am nächsten Sonntag so 
    ausgiebig, daß es mir unmög-
    lich wird, an der Einweihung 
    der neuen Wohnung für die 
    Poliklinik teilzunehmen. Ich 
    meine Schr. wird mit seiner Arbeit 
    in einer Woche fertig sein u 
    ich werde dann eine zweite 
    Woche zur Kontrolle bleiben, 
    also vor Mitte Okt. nicht in 
    Wien sein.

    Heute waren wir zuerst bei 
    Lederer, der allerdings verreist 
    ist. Er hat nichts grade Überwält-
    igendes u meine Kauflust ist 
    durch die volle Ungewiß-
    heit über die Kosten der 
    Prothese gedämpft.

    Marie hat im Verhältnis zu Löw
    hier ihre Frigidität eingebüßt. 
    Sie ist sehr glücklich. Wie bei Ihnen, 
    scheint die Zustim̄ung des 
    Vaters entscheidend gewesen 
    zu sein. Was sind das doch 
    für Dunkelheiten!

    Ich grüße Sie beide herzlich 
    u erwarte bald von Ihnen 
    zu hören. 
    Ihr 
    Freud