• S.

    PROF. DR. FREUD 
    WIEN IX., BERGGASSE 19
    Semmering

    2 Juli 1928

    Liebe Ruth

    Ich bin froh mit der Ruhe 
    und Untätigkeit hier bei diesem 
    herrlichen Wetter.  Ich merke erst 
    jetzt, wie sehr dieses Jahr mich her-
    genommen hat, gewiß nicht die 
    aktive Arbeit, sondern die passive 
    Behandlung darin.

    Von dem, was mich am meisten bei 
    Ihnen interessirt hätte, schreiben 
    Sie nichts. Ich könnte Rache üben 
    und Ihre Neugierde betreffs der 
    Prothese unbefriedigt lassen. Aber 
    ich bin von Natur gutmütig. Vor-
    erst noch einige Worte des Bedauerns, 
    daß ich nicht bei Ihnen in Paris 
    sein kann, nicht wie Sie die 
    Wünsche zu einemr weißgründigen 
    Lekythos erheben. Wenn ich rechne, 
    wieviel ich heuer schon für eine 
    erfolglose Prothesenbehandlung 
    ausgegeben und wieviel ich noch 
    für eine hoffentlich bessere aus-
    zugeben habe, sehe ich, daß ich in 
    Berlin höchst enthaltsam sein muß, 
    und wenn der Weg von Schloss 
    Tegel zum Kurfürstendamm (efecta) 
    mit griechischen Vasen gepflastert 
    wäre. Das will aber nicht andeuten, 
    daß die Verschwenderin mir am 
    1 August eine Probe mitbringen 
    soll. Ich verwahre mich energisch 
    dagegen.

    Also mit der Prothese steht es so: Da ich 
    keine Anforderungen mehr 
    an sie stelle, stört sie mein Behagen 
    wenig. Wenn ich einmal besser reden 
    will, setze ich die Federn ein, die 
    ich nie lang aushalte. Sonst rede 
    ich, recht und schlecht, eher schlecht

  • S.

    natürlich. Auch das Kauen geht, zwar nicht ohne
    die Hilfe von zwei bereitwilligen Händen
    Judits. Schmmerzen habe ich nicht und kann
    zumeist einen freien Sinn bewahren. 
    Im Ganzen meine ich, daß die Vor-
    teile des Aufschubs dessen Nachteile 
    doch überwiegen.

    Das Nachbarhaus ist weit interessanter als
    das Unsrige. Dort sind auch zwei Hunde
    eingetroffen, ein schwarzer Chow und 
    ein kleiner Rush Wolfsohn. Außer-
    dem aber der lang abwesende Vater, 
    ein charmanter Mensch, der jetzt normal 
    erscheint u doch als eine Art von
    Rip van Winkel sich in die neue Situat-
    ion nicht einzufügen versteht. Die
    Lage zwischen Dorothy und Ih ihrem Mann 
    ist eine recht gespannte und ohne 
    unser – Anna’s und mein – Dazwischen-
    treten hielte sie keine Woche. Ich habe 
    D. in Analyse genommen, da sie offenbar 
    von Reik wenig verändert, übrigens,
    recht brutal, abgeschüttelt wurde,
    und kann mich selbst überzeugen,
    eine wie stachlige Frucht sie ist. 
    Als ob man in eine Cactusfeige
    (ungeschält!) beißen würde / Haben Sie
    das je versucht? Ich rate ab (Ich weiß nicht,
    ob ich viel bei ihr ausrichten kann. Reik
    ist schließlich kein Patzer u hat sie durch
    3 Jahre gehabt.

    Ich bin natürlich auch sehr neugierig, wie 
    Mark sich mit seinen Problemen 
    auseinandersetzen wird. Aber davon 
    höre ich doch gewiß zur Zeit. 

    Mit herzlichen Grüßen 
    für Sie Beide
    Freud