Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse 1906-002/1906.2
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    SONDERABDRUCK
    AUS DEM

    ARCHIV rúr KRIMINALANTHROPOLOGIE ‏פאס‎ KRIMINALISTIK

    HERAUSGEGEBEN VON Pror. Dr, HANS GROSS m GRAZ.

    BAND 26.

    Pror. Dr. SIGM, FREUD

    in Wien.

    Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse.

    Abkürzung für Zitate: H. Groß Archiv

    LEIPZIG,
    VERLAG VON F. C. W. VOGEL.
    1906.

    Ausgegeben am 21. Dezember 1906.

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    Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse.
    (Vortrag gehalten in Prof. Löffler’s Seminar im Juni 1906)

    vou
    Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien.

    Die wachsende Einsicht in die Unzuverlüssigkeit der Zeugenaus-
    sage, welche doch gegenwärtig die Grundlage so vieler Verurteilungen
    in Straffållen bildet, hat bei Ihnen allen, künftigen Richtern und Ver-
    | teidigern, das Interesse für ein neues Untersuehungsverfahren gesteigert,
    welches den Angeklagten selbst nötigen soll, seine Schuld oder Un-

    schuld durch objektive Zeichen zu erweisen. Dieses Verfahren be-
    | steht in einem psychologischen Experiment und ist auf psychologische
    — Arbeiten begründet; es hängt innig mit gewissen Anschauungen zu-
    sammen, die in der medizinischen Psychologie erst kürzlich zur Geltung
    gekommen sind. Ich weiß, daß Sie damit beschäftigt sind, die Hand-
    habung und Tragweite dieser neuen Methode zunächst in Versuchen,
    die man „Phantomübungen“ nennen könnte, zu prüfen, und bin bereit-
    willig der Aufforderung Ihres Vorsitzenden, Prof. Löffler gefolgt,
    Ihnen die Beziehungen dieses Verfahrens zur Psychologie ausführ-
    licher auseinander zu setzen,

    Ihnen allen ist das Gesellschafts- und Kinderspiel bekannt, in dem
    der eine dem andern ein beliebiges Wort zuruft, zu. welchem dieser
    ein zweites Wort fügen soll, das mit dem ersten ein zusammengesetztes
    Wort ergibt.. Z. В. Dampf — Schiff; also Dampfschiff. Nichts anderes
    als eine Modifikation dieses Kinderspiels ist der von der Wundt’schen
    Schule in die Psychologie eingeführte Assoziationsversuch, der bloß
    auf eine Bedingtheit jenes Spieles verzichtet hat. Er besteht also
    darin, daß man einer Person ein Wort zuruft — das Reizwort —,
    worauf sie möglichst rasch mit einem zweiten Wort antwortet, das
    ihr dazu einfällt, der sogenannten „Reaktion“, ohne daß sie in der
    Wahl dieser Reaktion durch irgend etwas beengt worden wäre. Die
    Zeit, die zur Reaktion verbraucht wird, und das Verhältnis von Reiz-

    Archiv für Kriminalanthropologie. XXVI. 0

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    2 L FREUD

    wort und Reaktion, das sehr mannigfaltig sein kann, sind die Gegen-
    stånde der Beobachtung. Man kann nun nicht behaupten, daB bei
    diesen Versuchen zuniichst viel herausgekommen ist. Begreiflieh, denn
    sie waren ohne sichere Fragestellung gemacht, und es fehlte an einer
    Idee, die auf die Ergebnisse anzuwenden wäre, Sinnvoll und frucht-
    bar wurden sie erst, als Bleuler in Zürich und seine Schüler, ins-
    besondere Jung, sich mit solchen , Assoziationsexperimenten“ zu be-
    schäftigen begannen. Wert erbielten ihre Versuche aber durch die
    Voraussetzung, daß die Reaktion auf das Reizwort nichts zufälliges
    sein konne, sondern durch einen beim Reagierenden vorhandenen
    Vorstellungsinhalt determiniert sein müsse,

    Man hat sich gewöhnt, einen solchen Vorstellungsinhalt, der im- 」
    stande ist die Reaktion auf das Reizwort zu beeinflussen, einen ,Kom-
    plex“ zu heißen. Die Beeinflussung geht entweder so vor sich,
    indem das Reizwort den Komplex direkt streift, oder indem es letzterem
    gelingt, sich durch Mittelglieder mit dem Reizwort in Verbindung zu
    setzen. Diese Determinierung der Reaktion ist eine sehr merkwürdige
    Tatsache; sie können die Verwunderung darüber in der Literatur —
    de: Gegenstandes unverhohlen ausgedriiekt finden. Aber an ihrer
    . Richtigkeit i ist nicht zu zweifeln, denn Sie können in der Regel den 1
    Tussenden Komplex nachweisen und die sonst unverstindlichen
    en aus ihm verstehen, wenn Sie die reagierende Person selbst
    nach den Gründen ihrer Reaktion befragen. Beispiele wie die auf |
    Seite ⑥ und ⑧ 一 ⑨ der Jung'schen Abhandlung!) sind sehr geeignet, |
    uns am Zufall und an der angeblichen Willkür im seelischen Ge- |
    schehen zweifeln zu machen. \ 1
    | Nun werfen Sie mit mir einen Blick auf die Vorgeschichte des
    E Bleuler-Jung'sehen Gedankens von der Determinierung der Reaktion
    durch den Komplex bei der examinierten Person. Im Jahre 1901 -
    habe ich in einer Abhandlung 2) dargetan, daß eine ganze Reihe von |
    Aktionen, die man für unmotiviert hielt, vielmehr strenge determiniert
    sind, und um soviel die psychische Willkür einschränken geholfen. |
    Ich habe die kleinen Fehlleistungen des Vergessens, Versprechens, |

    Verschreibens, Verlegens zum Gegenstand genommen und gezeigt, daß,
    wenn ein Mensch sich verspricht, nieht der Zufall, auch nieht allein 」
    Artikulationssehwierigkeiten und Lautähnlichkeiten dafür verantwort- |
    lich zu machen sind, sondern daß jedesmal ein stórender Vorstellungs-

    i 1) Jung. Die psychologische Diagnose des Tatbestandes, 1906. (Juristisch-
    - psychiatrische Grenzfragen IV, 2). 3
    E 2) Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Monatsschrift f. Psychiatrie und |
    Neuroiogie, Bd. X (1904 als Buch erschienen bei S. Karger, Berlin). 3

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    Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse, 3

    inhalt — Komplex — nachweisbar ist, welcher die intendierte Rede
    in seinem Sinne, anscheinend zum Fehler, abändert. Ich habe ferner
    die kleinen, anscheinend absichtslosen und zufälligen Handlungen der
    Menschen, ihr Tändeln, Spielen usw. in Betracht gezogen und sie als
    „Symptomhandlungen* entlarvt, die mit einem verborgenen Sinn in
    Beziehung stehen und diesem einen unauffålligen Ausdruck verschaffen
    sollen. Es hat sich mir ferner ergeben, dab man sich nicht einmal
    einen Vornamen willkürlich einfallen lassen kann, der sich nicht als
    durch einen mächtigen Vorstellungskomplex bestimmt erwiese; ja daß
    Zahlen, die man anscheinend willkürlich wählt, sich auf einen solchen’
    verborgenen Komplex zurückführen lassen. Mein Kollege Dr.
    Alfred Adler hat einige Jahre später diese befremdendste meiner
    Aufstellungen durch einige schöne Beispiele belegen kónnen!) , Hat
    man sich nun an solche Auffassung der Bedingtheit im psychischen
    Leben gewöhnt, so ergibt sich als eine berechtigte Ableitung aus den
    Resultaten der Psychopathologie des Alltagslebens, daß auch die Ein-
    fälle der Person beim Assoziationsexperimente nicht willkürlich, sondern

    durch einen in ihr wirksamen Vorstellungsinhalt bedingt sein mögen.

    * Nun, meine Herren, kehren wir zum Assoziationsexperiment zu-

    | riick! In den bisher betrachteten Fällen war es die examinierte Per-
    son, die uns über die Herkunft der Reaktionen aufklärte, und diese
    Bedingung macht den Versuch eigentlich für die Rechtspflege un-
    interessant, Wie aber, wenn wir die Versuchsanordnungen abändern,
    etwa ‘wie man eine Gleichung mit mehreren Größen nach der einen
    oder der anderen auflösen, das a oder das b in ihr zum gesuchten x
    machen kann? Bisher war uns Prüfern der Komplex unbekannt, wir
    prüften mit beliebig gewählten Reizworten, und die Versuchsperson
    denunzierte uns den Komplex, der durch die Reizworte zur Außerung
    gebracht worden war. Machen wir es nun anders, nehmen wir einen
    uns bekannten Komplex her, reagieren auf ihn mit absichtlich ge-
    wählten Reizworten, wälzen das x auf die Seite der reagierenden Per-
    son, ist es dann möglich, aus dem Ausfall der Reaktionen zu ent-
    scheiden, ob die examinierte Person den gewählten Komplex gleich-
    falls in sich trågt? Sie sehen ein, diese Versuchsanordnung entspricht
    genau dem Falle des Untersuchungsrichters, der erfahren möchte, ob
    ein gewisser ihm bekannter Tatbestand auch dem Angeklagten als
    Täter bekannt ist. Es scheint, daß Wertheimer und Klein,
    zwei Schiiler des Strafrechtslehrers Hans Grof in Prag, zuerst diese

    1) Adler, Drei Psycho - Analysen von Zahleneinfållen und obsedierenden
    - Zahlen. Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift von Bresler, 1905, Nr. 25.
    ① キ

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    4 I. FREUD

    für Sie bedeutsame Abänderung der Versuchsordnung vorgenommen |
    haben. !)

    Sie wissen bereits aus Ihren eigenen Versuchen, daß sich bei
    solcher Fragestellung an den Reaktionen viererlei Anhaltspunkte zur
    Entseheidung der Frage ergeben, ob die examinierte Person den.
    Komplex besitzt; auf den Sie mit den Reizworten reagieren. Ich will |
    Ihnen dieselben der Reihe nach aufzählen: 1. Der ungewöhnliche |
    Inhalt der Reaktion, der ja Aufklärung fordert; 2. die Verlüngerung ョ
    der Reaktionszeit, indem es sich herausstellt, daß Reizworte, welche -
    den Komplex getroffen haben, erst nach deutlicher Verspätung (oft.
    das Mehrfaehe der sonstigen Reaktionszeit) mit der Reaktion beant- |
    wortet werden; 3. der Irrtum bei der Reproduktion. Sie wissen, |
    welche merkwürdige Tatsache damit gemeint ist. Wenn man eine
    kurze Zeit nach dem Abschluß des Versuches mit einer längeren Reihe
    von Reizwórtern dieselben dem Examinierten nochmals vorlegt, so
    wiederholt er die nämlichen Reaktionen wie beim ersten Mal. Nur
    bei denjenigen Reizworten, welche den Komplex direkt getroffen haben,
    ersetzt er die frühere Reaktion leicht dureh eine andere. 4. Die Tat-
    sache der Perseveration (vielleicht sagten wir besser: Nachwirkung). |
    ] ommt nämlich häufig vor, daß die Wirkung der Erweckung des
    5 durch ein ihn betreffendes („kritisches“) Reizwort, also
    2 Verlängerung der Reaktionszeit, anhält und noch die Reak-
    tionen auf die nächsten nicht kritischen Worte verändert, Wo nun |
    alle oder mehrere dieser Anzeichen zusammentreffen, da hat sich der
    uns bekannte Komplex als beim Angerufenen störend vorhanden er-
    wiesen. Sie verstehen diese Störung in der Weise, daß der beim
    Angerufenen vorhandene Komplex mit Affekt besetzt und befähigt ist,
    der Aufgabe des Reagierens Aufmerksamkeit zu entziehen, finden also |
    in dieser Störung einen „psychischen Selbstverrat.“ 1

    Ich weiß, dab Sie gegenwärtig mit den Chancen und Schwierig-
    keiten dieses Verfahrens, welches den Beschuldigten zum objektiven
    Selbstverrat bringen soll, beschäftigt sind, und lenke Ihre Aufmerk-
    samkeit darum auf die Mitteilung, daB ein ganz analoges Aufdeckungs- |
    verfahren für verborgenes oder verheimlichtes Seelisches seit linger
    als einem Dezennium auf einem anderen Gebiete in Übung ist. Es
    soll meine Aufgabe sein, Ihnen die Ähnlichkeit und die Verschieden-
    heit der Verhältnisse hier und dort vorzufiihren.

    Dies Gebiet ist ein von dem Thrigen wohl recht verschiedenes.
    Ich meine nämlich die Therapie gewisser ,Nervenkrankheiten“ der

    1) Nach Jung. Le.

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    Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse, 5

    sogenannten Psychoneurosen, für welche Sie Hysterie und Zwangs-
    vorstellen als Muster nehmen können. Das Verfahren heißt dort
    Psychoanalyse und ist von mir aus dem zuerst von J. Breuer!) in
    Wien geübten- ,kathartischen“ Heilverfahren entwickelt worden. Um
    Ihrer Verwunderung zu begegnen, muß ich eine Analogie zwischen
    dem Verbrecher und dem Hysteriker durchführen. Bei beiden handelt,
    es sich um ein Geheimnis, um etwas Verborgenes. Aber, um nicht
    paradox zu werden, muß ich auch gleich den Unterschied hervor-
    heben. Beim Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er
    weiß und vor Ihnen verbirgt, beim Hysteriker um ein Geheimnis, das
    auch er selbst nicht weiß, das sich vor ihm selbst verbirgt. Wie ist das
    möglich? Nun, wir wissen durch mühevolle Erforschungen, daß alle
    diese Erkrankungen darauf beruhen, daß solche Personen es zustande
    gebracht haben, gewisse stark affektbesetzte Vorstellungen und Er-
    innerungen und die auf sie gebauten Wünsche so zu verdrängen, daß
    sie in ihrem Denken keine Rolle spielen, in ihrem Bewußtsein nicht
    auftreten und somit ihnen selbst geheim bleiben. Aus diesem ver-
    drängten psychischen Material, aus diesen „Komplexen* rühren aber
    die somatischen und psychischen Symptome her, welche ganz nach
    Art eines bösen Gewissens die Kranken quälen. Der Unterschied
    zwischen dem Verbrecher und dem Hysteriker ist also in diesem
    einen Punkte fundamental.

    Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nåmliche wie die des
    Untersuchungsrichters; wir sollen das verborgene Psychische aufdecken
    und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden,
    von denen uns also jetzt die Herren Juristen einige nachahmen werden.

    Es wird Sie für Ihre Arbeit interessieren zu hören, in welcher
    Weise wir Árzte bei der Psychoanalyse vorgehen. Nachdem der Kranke
    ein erstes mal seine Geschiehte erzühlt hat, fordern wir ihn auf, sicb
    ganz seinen Einfüllen zu überlassen und ohne jeden kritischen Rück-
    halt vorzubringen, was ihm in den Sinn kommt. Wir gehen also von
    der Voraussetzung aus, die er gar nicht teilt, daß diese Einfälle nieht
    willkürliehe, sondern durch die Beziehung zu seinem Geheimnisse,
    seinem ,Komplex^ bestimmt sein werden, sozusagen als Abkómmlinge
    dieses Komplexes aufgefaBt werden können. Sie sehen, es ist die
    nämliche Voraussetzung, mit deren Hilfe Sie die Assoziationsexperi-
    mente deutbar gefunden haben. Der Kranke aber, dem man die Be-
    folgung der Regel aufträgt, alle seine Einfälle mitzuteilen, scheint nicht
    imstande zu*sein, dies zu tun. Er hält doch bald diesen, bald jenen.

    1) J. Breuer und 5. Freud. Studien über Hysterie, 1895.

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    3

    Dire: Mirror

    6 I. FrEUD

    Einfall zuriick und bedient sich dabei verschiedener Motivierungen,
    entweder: das sei ganz unwichtig, oder: es gehöre nicht dazu, oder:
    es sei überhaupt ganz sinnlos. Wir verlangen dann, daß er den Bin- |
    fall trotz dieser Tino deen mitteile und verfolge; denn gerade die
    sich geltend machende Kritik ist uns ein Beweis fiir die Zugehörig-
    keit des Einfalls zum „Komplex“, den wir aufzudecken suchen. In |
    solchem Verhalten der Kranken erblicken wir eine Äußerung des in —
    ihm vorhandenen „Widerstandes“, der uns während der ganzen
    Dauer der Behandlung nieht verläßt. Ich will nur kurz andeuten |
    daß der Begriff des Widerstandes für unser Verständnis der Krank- |
    heitsgenese wie des Heilungsmechanismus die größte Bedeutung ge-

    wonnen hat. E

    Eine derartige Kritik der Einfälle beobachten Sie nun bei Ihren
    Versuchen nicht direkt; dafür sind wir bei der Psychoanalyse in der |
    Lage, alle Ihnen auffülligen Zeichen eines Komplexes zu beobachten. |
    Wenn der Kranke es nieht mehr wagt, die ihm gegebene Regel zu -
    verletzen, so merken wir doch, daß er zeitweilig in der Reproduktion |
    der Einfülle stockt, zogert, Pausen macht. Jede solche Zógerung ist
    uns eine dS des Widerstandes und dient uns als Anzeichen der
    igkeit zum » Komplex." Ja, sie ist uns das wichtigste Zeichen.
    solcher Bedeutung, ganz wie Ihnen die analoge Verlängerung der 」
    Reaktionszeit. Wir sind gewöhnt, die Zögerung in diesem Sinne zu.
    deuten, auch wenn der Inhalt des zurückgehaltenen Einfalles gar
    keinen Anstoß zu bieten scheint, wenn der Kranke versichert, er könne |
    sich gar nicht denken, warum er zögern sollte, ihn mitzuteilen. Die |
    Pausen, die in der Psychoanalyse vorkommen, sind in der Regel viel- |
    mals größer als die Verspätungen, die Sie bei den Reaktionsversuchen
    notieren.

    Auch das andere Ihrer Komplexanzeichen, die inhaltliche Ver-
    änderung der Reaktion, spielt seine Rolle in der Technik der Psycho- |
    analyse. Wir pflegen selbst leise Abweichungen von der gebräuc
    lichen Ausdrucksweise bei unseren Kranken ganz allgemein als An-
    zeichen für einen verborgenen Sinn anzusehen und setzen uns selbst |
    mit solchen Deutungen gerne für eine Weile seinem Spotte aus. Wir |
    lauern bei ihm geradezu auf Reden, die ins Zweideutige schillern,
    und bei denen der verborgene Sinn dureh den harmlosen. Ausdruck
    hindurchschimmert. Nicht nur der Kranke, auch Kollegen, die der |
    psychoanalytisehen Technik und ihrer besonderen Verhältnisse un-
    kundig sind, versagen uns da ihren Glauben und werfen uns Witzelei |
    und Wortklanberei vor, aber wir behalten fast immer Recht. Es ist —
    schließlich nieht schwer zu verstehen, dab ein sorgfältig gehütetes —

  • S.

    Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse. 7

    Geheimnis sich nur durch feine, höchstens durch zweideutige An-
    deutungen verrät, Der Kranke gewöhnt sich schließlich daran, uns in
    sogenannter „indirekter Darstellung“ all das zu geben, was wir zur
    Aufdeckung des Komplexes benötigen.

    Auf einem beschränkteren -Gebiet verwerten wir in der Technik.
    der Psychoanalyse das dritte Ihrer Komplexanzeichen, den Irrtum,
    d. h. die Abänderung, bei der Reproduktion. Eine Aufgabe, die uns
    häufig gestellt wird, ist die Deutung von Träumen, das ist die Uber-
    setzung des erinnerten Trauminhaltes in dessen verborgenen Sinn. Es
    kommt dabei vor, daß wir unschlüssig sind, an welcher Stelle wir die
    Aufgabe anfassen sollen, und in diesem Falle können wir uns einer
    empirisch gefundenen Regel bedienen, welche uns rät, die Traum-
    erzählung wiederholen zu lassen. Der Träumer verändert dabei ge-
    wohnlich seine Ausdrucksweise an manchen Stellen, während er sich
    an anderen getreulich wiederholt. Wir aber klammern uns an die
    Stellen, in denen die Reproduktion durch Abänderung, oft auch durch
    Auslassung, fehlerhaft ist, weil uns diese Untreue die Zugehörigkeit
    zum Komplex verbürgt und den besten Zugang zum geheimen Sinn
    des Traumes verspricht. 1)

    Sie werden nun nicht den Eindruck empfangen, als håtte die von
    mir verfolgte Übereinstimmung ein Ende gefunden, wenn ich Ihnen
    gestehe, daß ein der „Perseveration* ähnliches Phänomen in der Psycho-
    analyse nicht zum Vorsehein kommt. Dieser seheinbare Unterschied
    rührt nur von den besonderen Bedingungen Ihrer Experimente her.
    Sie lassen ja der Komplexwirkung eigentlich keine Zeit sich zu ent-
    wickeln; kaum daß sie begonnen hat, rufen Sie die Aufmerksamkeit
    des Examinierten durch ein neues, wahrscheinlich harmloses, Reizwort
    wieder ab, und dann können Sie beobachten, daß die Versuchsperson
    manchmal trotz Ihrer Störungen bei der Beschäftigung mit dem Kom-
    plex verharrt. Wir aber vermeiden solche Störungen in der Psycho-
    analyse, wir erhalten den Kranken bei seiner Beschäftigung mit dem
    Komplex, und weil bei uns sozusagen alles Perseveration ist, können
    wir dies Phänomen nicht als vereinzeltes Vorkommnis beobachten.

    Wir dürfen die Behauptung aufstellen, daß es uns durch Tech-
    niken wie die mitgeteilten prinzipiell gelingt, dem Kranken das Ver-
    drängte, sein Geheimnis, bewußt zu machen und dadurch die psycho-
    logische Bedingtheit seiner Leidenssymptome aufzuheben. Ehe Sie
    nun aus diesem Erfolge Schlüsse auf die Chancen Ihrer Arbeiten
    ziehen, wollen wir die Unterschiede in der psychologischen Situation
    hier und dort beleuchten.

    1) Vgl. meine „Traumdeutung“ 1900,

  • S.

    brae Lei di

    zw

    8 I. FREUD

    Den Hauptunterschied haben wir schon genannt: Beim Neuro-
    tiker Geheimnis vor seinem eigenen Bewußtsein, beim Verbrecher nur |
    vor Ihnen; beim ersteren ein echtes Nichtwissen, obwohl nicht in _
    jedem Sinne, beim letzteren nur Simulation des Nichtwissens. Damit.
    ist ein anderer, praktisch wichtiger Unterschied verknüpft. In der
    Psychoanalyse hilft der Kranke mit seiner bewufiten Bemühung gegen
    seinen Widerstand, denn er hat ja einen Nutzen von dem Examen zu er. |
    warten, die Heilung; der Verbrecher hingegen arbeitet nicht mit Ihnen, |
    er würde gegen sein ganzes Ich arbeiten. Wie zur Ausgleichung |
    kommt es bei Ihrer Untersuchung nur darauf an, dab Sie eine objek- -
    tive Überzeugung gewinnen, wührend bei der Therapie gefordert wird, |
    dal der Kranke selbst sieh die gleiche Überzeugung schaffe. Es
    bleibt aber abzuwarten, welche Ersehwerungen oder Abänderungen an |
    Ihrem Verfahren Ihnen der Wegfall der Mitarbeiterschaft des Unter- -
    suchten bereiten wird. Es ist dies auch ein Fall den Sie sich in
    Thren Seminarversuchen niemals herstellen kónnen, denn Ihr Kolle
    der sich in die Rolle des Beschuldigten fügt, bleibt doch Ihr Mit- -
    arbeiter und hilft Ihnen trotz seines bewubten Vorsatzes, sich nicht
    zu verraten.

    Wenn Sie auf die Vergleiehung der beiden Situationen náher ei
    gehen, so ergibt sieh Ihnen überhaupt, daß in der Psychoanalyse ein
    einfacherer, ein Spezialfall der Aufgabe, Verborgenes im Seelenleben |
    aufzudecken vorliegt, in Ihrer Arbeit dagegen ein umfassenderer. Dab |
    es sich bei den Psychoneurotikern ganz regelmäßig um einen ver-
    drängten sexuellen Komplex (im weitesten Sinne genommen) handelt,
    das kommt als Unterschied für Sie nicht in Betracht. Wohl aber
    etwas anderes. Die Aufgabe der Psychoanalyse lautet ganz uniform
    für alle Fille, es seien Komplexe aufzudecken, die infolge von Un
    lustgefühlen verdrängt sind und beim Versuch der Einführung ins |
    Bewußtsein Anzeichen des Widerstandes von sich geben. Dieser —
    Widerstand ist gleichsam lokalisiert, er entsteht an dem Grenzübergang |
    zwischen Unbewufitem und Bewuftem. In Ihren Fällen handelt sich um |
    Widerstand, der ganz aus dem Bewußten herrührt. Sie werden diese U
    gleichheit nicht ohne weiteres vernachlässigen können und erst durch |
    Versuche festzustellen haben, ob sieh der bewufte Widerstand durch
    ganz dieselben Anzeichen verrät wie der unbewufte. Ferner meine
    ich, daß Sie noch nicht sicher sein können, ob Sie Ihre objektiven Kom- |
    plexanzeichen so wie wir Psyehotherapeuten als „Widerstand“ deuten —
    dürfen. Wenn auch nieht sehr häufig bei Verbrechern, so doch bei |
    Thren Versuchspersonen mag sich der Fall ereignen, daß der Kom- |
    plex, an den Sie streifen, ein mit Lust betonter ist, und es fragt

  • S.

    Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse. 9

    sich, ob dieser dieselben Reaktionen geben wird wie ein mit Unlust
    betonter.

    3 Ich möchte auch hervorheben, daß Ihr Versuch möglicherweise
    | einer Einmengung unterliegen kann, die in der Psychoanalyse wie
    selbstverständlich entfällt, Sie können nämlich bei Ihrer Untersuchung
    vom Neurotiker irre geführt werden, der so reagiert, als ob er schuldig
    wäre, obwohl er unschuldig ist, weil ein in ihm bereitliegendes und
    lauerndes Schuldbewußtsein sich der Beschuldigung des besonderen
    Falles bemächtigt. Halten Sie diesen Fall nicht für eine müßige Erfindung;
    denken Sie an die Kinderstube, in der man ihn häufig genug beobachten
    kann. Es kommt vor, daß ein Kind, dem man eine Untat vorwirft, die
    Schuld mit Entschiedenheit leugnet, dabei aber weint wie ein überführter
    Sünder. Sie werden vielleicht meinen, daß das Kind lügt, während
    es seine Unschuld versichert, aber der Fall kann anders liegen. Das
    Kind hat die eine Untat, die Sie ihm zur Last legen, wirklich nicht ver-
    übt, aber. dafür eine andere, ähnliche, von der Sie nichts wissen, und
    deren Sie ihn nicht beschuldigen. Es leugnet also mit Recht seine
    Schuld — an dem einen —, und dabei verrät sich doch sein Schuld-
    bewußtsein — wegen des anderen. Der erwachsene Neurotiker
    verhält sich in diesem — wie in vielen anderen Punkten — ganz so
    wie ein Kind; es gibt viele solcher Menschen, und es ist noch fraglich,
    ob es Ihrer Technick gelingen wird, solche Selbstbeschuldiger von
    den wirklich Schuldigen zu unterscheiden. Endlich noch eines: Sie
    wissen, daß Sie nach ihrer Strafprozeßordnung den Angeklagten durch
    kein Verfahren überrumpeln dürfen. Er wird also wissen, daß es sich
    beim Experiment darum handelt, sich nicht zu verraten, und es ent-
    steht die weitere Frage, ob man auf dieselben Reaktionen zu rechnen
    hat, wenn die Aufmerksamkeit dem Komplex zugewendet ist wie hei
    abgewendeter, und wie weit der Vorsatz zu verbergen bei verschiedenen
    Personen in die Reaktionsweise hineinreichen kann,

    Gerade weil die Ihren Untersuchungen unterliegenden Situationen
    so mannigfaltig sind, ist die Psychologie an dem Ausfall derselben
    lebhaft interessiert, und man möchte Sie bitten, an der praktischen Ver-
    wertbarkeit derselben ja nicht zu rasch zu verzweifeln. Gestatten Sie
    mir, der ich der praktischen Rechtspflege so ferne stehe, noch einen
    anderen Vorschlag! So unentbehrlich Experimente im Seminar zur
    Vorbereitung und Fragestellung sein mögen, so werden Sie doch
    die gleiche psychologische Situation wie bei der Untersuchung Be-
    schuldigter im Straffalle hier nie herstellen können. Es bleiben Phan-
    tomübungen, auf welche sich die praktische Verwendung im Straf-
    prozeß niemals begründen läßt. Wenn wir auf letztere nicht verzichten

  • S.

    10 I. FREUD

    wollen, so bietet sich folgender Ausweg. Es möge Ihnen verstat
    ja zur Pflicht gemacht werden, solche Untersuchungen durch ей
    Reihe von Jahren an allen realen Fällen von Strafbeschuldigui
    vorzunehmen, ohne daß den Ergebnissen derselben ein Ei
    fluß auf die Entscheidung der richtenden Instanz zug
    standen würde. Am besten, wenn die letztere überhaupt nicht zu
    Kenntnis Ihrer aus der Untersuchung gezogenen Schlubfolgerung ül
    die Schuld des Angeklagten kommt. Nach jahrelanger Samml
    und vergleichender Bearbeitung der so gewonnenen Erfahrungen müßten
    wohl alle Zweifel an der Brauchbarkeit dieses psychologischen Unter-
    suchungsverfahrens gelöst sein. Ich weiß freilich, dab die Verwirk-
    lichung dieses Vorschlages nicht allein von Ihnen und Ihren ge-
    schiitzten Lehrern abhängt.