Zur Psychologie des Gymnasiasten 1914-005/1926
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    Zur Psychologie des Gymnasiasten

    von 
    Sigm. Freud.

    Aus dem im Druck befindlichen XI. Band der „Ge-
    sammelten Schriften“. (Diese Skizze erschien im Oktober
    1914 in der Festschrift, die das „K. k. Erzherzog-
    Rainer-Realgymnasium“ in Wien – ehemals „Leopold-
    städter Communal-Real- und Obergymnasium“, heute
    „Bundesrealgymnasium im II. Bezirk“ – anläßlich
    der Vollendung des fünfzigsten Jahres seines Bestehens
    veröffentlichte. (Der Verfasser war Schüler der genannten
    Anstalt gewesen).

    Man hat ein sonderbares Gefühl, wenn man in so vorgerückten
    Jahren noch einmal den Auftrag erhält, einen „deutschen Aufsatz“
    für das Gymnasium zu schreiben. Man gehorcht aber automatisch
    wie jener ausgediente Soldat, der auf das Kommando „Halt Acht“
    die Hände an die Hosennäht anlegen und seine Päckchen zu Boden
    fallen lassen muß. Es ist merkwürdig, wie bereitwillig man zu-
    gesagt hat, als ob sich in dem letzten Halbjahrhundert nichts
    Besonderes geändert hätte. Man ist doch alt geworden seither,
    steht knapp vor dem sechzigsten Lebensjahr, und Körpergefühl
    wie Spiegel zeigen unzweideutig an, wieviel man von seinem
    Lebenslicht bereits heruntergebrannt hat. 
     

    Noch vor zehn Jahren etwa konnte man Momente haben, in
    denen man sich plötzlich wieder ganz jung fühlte. Wenn man, be-
    reits graubärtig und mit allen Lasten einer bürgerlichen Existenz
    beladen, durch die Straßen der Heimatstadt ging, begegnete man
    unversehens dem einen oder anderen wohlerhaltenen älteren Herrn,
    den man fast demütig begrüßte, weil man einen seiner Gymnasial-
    lehrer in ihm erkannt hatte. Dann aber blieb man stehen und
    sah
    ihm versonnen nach: Ist er das wirklich oder nur jemand, der ihm
    so täuschend ähnlich ist? Wie jugendlich sieht er doch aus und
    du bist selbst so alt geworden! Wie alt mag er heute wohl sein? Ist
    es möglich, daß diese Männer, die uns damals die Erwachsenen
    repräsentierten, um so weniger älter waren als wir? 
     

    Die Gegenwart war dann wie verdunkelt und die Lebensjahre
    von zehn bis achtzehn stiegen aus den Winkeln des Gedächtnisses 
     

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    empor mit ihren Ahnungen und Irrungen, ihren schmerzhaften
    Umbildungen und beseligenden Erfolgen, die ersten Einblicke in
    eine untergegangene Kulturwelt, die wenigstens mir später ein
    unübertroffener Trost in den Kämpfen des Lebens werden sollte,
    die ersten Berührungen mit den Wissenschaften, unter denen man
    glaubte wählen zu können, welcher man seine – sicherlich un-
    schätzbaren – Dienste weihen würde. Und ich glaubte mich zu
    erinnern, daß die ganze Zeit von der Ahnung einer Aufgabe
    durchzogen war, die sich zuerst nur leise andeutete, bis ich sie
    in dem Maturitätsaufsatze in die lauten Worte kleiden konnte,
    ich wollte in meinem Leben zu unserem menschlichen Wissen
    einen Beitrag leisten.

    Ich bin dann Arzt geworden, aber eigentlich doch eher Psycho-
    loge, und konnte eine neue psychologische Disziplin schaffen,
    die sogenannte „Psychoanalyse“, welche gegenwärtig Ärzte und Forscher
    in nahen wie in fernen fremdsprachigen Ländern in Atem hält und
    zu Lob und Tadel aufregt, die des eigenen Vaterlandes natürlich
    am geringsten.

    Als Psychoanalytiker muß ich mich mehr für affektive als für
    intellektuelle Vorgänge, mehr für das unbewußte als für das be-
    wußte Seelenleben interessieren. Meine Ergriffenheit bei der Be-
    gegnung mit meinem früheren Gymnasialprofessor mahnt mich,
    ein erstes Bekenntnis abzulegen: Ich weiß nicht, was uns stärker
    in Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde, die Beschäfti-
    gung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit den
    Persönlichkeiten unserer Lehrer. Jedenfalls galt den letzteren bei
    uns
    allen eine niemals aussetzende Unterströmung, und bei vielen
    führte
    der Weg zu den Wissenschaften nur über die Personen der
    Lehrer;
    manche blieben auf diesem Weg stecken und einigen
    ward
    er auf solche Weise – warum sollen wir es nicht ein-
    gestehen? – dauernd verlegt.

    Wir warben um sie oder wandten uns von ihnen ab, imagi-
    nierten bei ihnen Sympathien oder Antipathien, die wahrscheinlich
    nicht bestanden, studierten ihre Charaktere und bildeten oder ver-
    bildeten an ihnen unsere eigenen. Sie riefen unsere stärksten
    Affektungen hervor und zwangen uns zur vollständigsten Unter-
    werfung; wir spähten nach ihren kleinen Schwächen und waren
    stolz auf ihre großen Vorzüge, ihr Wissen und ihre Gerechtigkeit.
    Im Grunde liebten wir sie sehr, wenn sie uns irgendeine Be-
    gründung dazu gaben; ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies
    bemerkt haben. Aber es ist nicht zu leugnen, wir waren in einer 
     

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    ganz besonderen Weise gegen sie eingestellt, in einer Weise, die
    ihre Unbequemlichkeiten für die Betroffenen haben mochte. Wir
    waren von vornherein gleich geneigt zur Liebe wie zum Haß, zur
    Kritik wie zur Verehrung gegen sie. Die Psychoanalyse nennt eine
    solche Bereitschaft zu gegensätzlichem Verhalten eine ambivalente;
    sie ist auch nicht verlegen, die Quelle einer solchen Gefühls-
    ambivalenz nachzuweisen.

    Sie hat uns nämlich gelehrt, daß die für das spätere Verhalten
    des Individuums so überaus wichtigen Affekteinstellungen gegen
    andere Personen in ungeahnt früher Zeit fertig gemacht werden.
    Schon in den ersten sechs Jahren der Kindheit hat der kleine
    Mensch die Art und den Affektsinn seiner Beziehungen zu Personen
    des nämlichen und des anderen Geschlechts festgelegt, er kann
    sie von da an entwickeln und nach bestimmten Richtungen um-
    wandeln, aber nicht mehr aufheben. Die Personen, an welche er
    sich in solcher Weise fixiert, sind seine Eltern und Geschwister.
    Alle Menschen, die er später kennen lernt, werden ihm zu Ersatz-
    personen dieser ersten Gefühlsobjekte (etwa noch der Pflege-
    personen neben den Eltern) und ordnen sich für ihn in Reihen
    an, die von den „Imaginés“, wie wir sagen, des Vaters,
    der
    Mutter, der Geschwister usw. ausgehen. Diese späteren Bekannt-
    schaften haben also eine Art von Gefühlserbschaft zu übernehmen,
    sie stoßen auf Sympathien und Antipathien, zu deren Erwerbung
    sie selbst nur wenig beigetragen haben; alle spätere Freundschafts-
    und Liebeswahl erfolgt auf Grund von Erinnerungsspuren, welche
    jene ersten Vorbilder hinterlassen haben.

    Von den Imaginés einer gewöhnlich nicht mehr im Gedächtnis
    bewahrten Kindheit ist aber keine für den Jüngling und Mann
    bedeutungsvoller als die seines Vaters. Organische Notwendigkeit
    hat
    in dies Verhältnis eine Gefühlsambivalenz eingeführt, als deren er-
    greifendsten Ausdruck wir den griechischen Mythus vom König
    Oedipus erfassen können. Der kleine Knabe muß seinen Vater
    lieben und bewundern, er scheint ihm das stärkste, gütigste und
    weiseste aller Geschöpfe; ist doch Gott selbst nur eine Erhöhung
    dieses Vaterbildes, wie es sich dem frühkindlichen Seelenleben
    darstellt. Aber sehr bald tritt die andere Seite dieser Gefühlsrelation
    hervor. Der Vater wird auch als der übermächtige Störer des
    eigenen Trieblebens erkannt, er wird zum Vorbild, das man nicht
    nur nachahmen, sondern auch beseitigen will, um seine Stelle selbst
    einzunehmen. Die zärtliche und die feindselige Regung gegen den
    Vater bestehen nun nebeneinander fort, oft durch das ganze Leben 
     

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    hindurch, ohne daß die eine die andere aufheben könnte. In einem
    solchen Nebeneinander der Gegensätze liegt der Charakter dessen,
    was wir eine Gefühlsambivalenz heißen.

    In der zweiten Hälfte der Kindheit bereitet sich eine Ver-
    änderung dieses Verhältnisses zum Vater vor, deren Bedeutung
    man sich nicht großartig genug vorstellen kann. Der Knabe beginnt
    aus seiner Kinderstube in die reale Welt draußen zu schauen,
    und
    nun muß er die Entdeckungen machen, welche seine ursprüngliche
    Hochschätzung des Vaters untergraben und seine Ablösung von
    diesem ersten Ideal befördern. Er findet, daß der Vater nicht
    mehr der Mächtigste, Weiseste, Reichste ist, er wird mit ihm un-
    zufrieden, lernt ihn kritisieren und sozial einordnen und läßt
    ihn dann gewöhnlich schwer für die Enttäuschung büßen, die
    jener ihm bereitet hat. Alles Hoffnungsvolle, aber auch alles Anstößige,
    was die neue Generation auszeichnet, hat diese Ablösung
    vom Vater zur Bedingung.

    In dieser Phase der Entwicklung des jungen Menschen fällt
    sein Zusammentreffen mit den Lehrern. Wir verstehen jetzt unser
    Verhältnis zu unseren Gymnasialprofessoren. Diese Männer, die
    nicht einmal alle selbst Väter waren, wurden uns zum Vaterersatz.
    Darum kamen sie uns, auch wenn sie noch sehr jung waren, so
    gereift, so unerreichbar erwachsen vor. Wir übertrugen auf sie
    den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater
    unserer Kindheitsjahre und dann begannen wir, sie zu behandeln
    wie unsere Väter zu Hause. Wir brachten ihnen die Ambivalenz
    entgegen, die wir in der Familie erworben hatten, und mit Hilfe
    dieser Einstellung rangen wir mit ihnen, wie wir mit unseren
    leiblichen Vätern zu ringen gewohnt waren. Ohne Rücksicht auf
    die Kinderstube und das Familienhaus wäre unser Benehmen
    gegen
    unsere Lehrer nicht zu verstehen, aber auch nicht zu entschuldigen.

    Noch andere und kaum weniger wichtige Erlebnisse hatten
    wir als Gymnasiasten mit den Nachfahren unserer Geschwister, mit
    unseren Kameraden, aber diese sollen auf einem anderen Blatt be-
    schrieben werden. Das Jubiläum der Schule hält unsere Ge-
    danken bei den Lehrern fest.

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