Geleitwort 1925-061/1925
  • S.

    Geleitwort
     

    von
     

    Prof. Dr. Sigm. Freud
     

    Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine soviel
    Interesse gefunden, soviel Hoffnungen erweckt und demzufolge
    soviele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die Theorie
    und Praxis der Kindererziehung. Dies ist leicht zu verstehen.
    Das Kind ist das hauptsächliche Objekt der psychoanalytischen
    Forschung geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neuro-
    tiker abgelöst, an dem sie ihre Arbeit begann. Die Analyse
    hat im Kranken das wenig verändert fortlebende Kind auf-
    gezeigt wie im Träumer und im Künstler, sie hat die Trieb-
    kräfte und Tendenzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen
    sein ihn eigenes Gepräge geben und die Entwicklungswege
    verfolgt, die von diesem zur Reife des Erwachsenen führen.
    Kein Wunder also, wenn die Erwartung entstand, die psycho-
    analytische Bemühung um das Kind werde der erzieherischen
    Tätigkeit zugute kommen, die das Kind auf seinem Weg zur
    Reife leiten, fördern und gegen Irrungen sichern will.
     

    Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psycho-
    analyse ist sehr geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig
    das Scherzwort von den drei unmöglichen Berufen als da
    sind: Erziehen, Kurieren, Regieren ― zu eigen gemacht, war
     

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    Sigm. Freud
     

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    auch von der mittleren dieser Aufgaben hinreichend in An-
    spruch genommen. Darum verkenne ich aber nicht den hohen
    sozialen Wert, den die Arbeit meiner pädagogischen Freunde
    beanspruchen darf.
     

    Das vorliegende Buch des Vorstandes A. Aichhorn be-
    schäftigt sich mit einem Teilstück des großen Problems, mit
    der erzieherischen Beeinflussung der jugendlichen Verwahr-
    losten. Der Verfasser hatte in amtlicher Stellung als Leiter
    städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit
    der Psychoanalyse bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die
    Pflegebefohlenen entsprang aus der Quelle einer warmen An-
    teilnahme an dem Schicksal dieser Unglücklichen und wurde
    durch eine intuitive Einfühlung in deren seelische Bedürfnisse
    richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihn praktisch wenig
    Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare theoretische Ein-
    sicht in die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in
    den Stand, es vor anderen zu begründen.
     

    Man kann diese Gabe des intuitiven Verständnisses nicht bei
    jedem Erzieher voraussetzen. Zwei Mahnungen scheinen mir
    aus den Erfahrungen und Erfolgen des Vorstandes Aichhorn
    zu resultieren. Die eine, daß der Erzieher psychoanalytisch ge-
    schult sein soll, weil ihm sonst das Objekt seiner Bemühung,
    das Kind, ein unzugängliches Rätsel bleibt. Eine solche
    Schulung wird am besten erreicht, wenn sich der Erzieher selbst
    einer Analyse unterwirft, sie am eigenen Leibe erlebt. Theo-
    retischer Unterricht in der Analyse dringt nicht tief genug und
    schafft keine Überzeugung.
     

    Die zweite Mahnung klingt eher konservativ, sie besagt, daß
    die Erziehungsarbeit etwas sui generis ist, das nicht mit psychoana-
     

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    Geleitwort
     

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    lytischer Beeinflussung verwechselt und nicht durch sie ersetzt
    werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes kann von der
    Erziehung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist
    nicht dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten. Nicht nur prak-
    tische Gründe verbieten es, sondern auch theoretische Über-
    legungen widerraten es. Das Verhältnis zwischen Erziehung
    und psychoanalytischer Bemühung wird voraussichtlich in nicht
    ferner Zeit einer gründlichen Untersuchung unterzogen werden.
    Ich will hier nur Weniges andeuten. Man darf sich nicht durch
    die übrigens vollberechtigte Aussage irreleiten lassen, die Psycho-
    analyse des erwachsenen Neurotikers sei einer Nacherziehung
    desselben gleichzustellen. Ein Kind, auch ein entgleistes und
    verwahrlostes Kind, ist eben noch kein Neurotiker und Nach-
    erziehung etwas ganz anderes als Erziehung des Unfertigen.
    Die Möglichkeit der analytischen Beeinflussung ruht auf ganz
    bestimmten Voraussetzungen, die man als „analytische Situation"
    zusammenfassen kann, erfordert die Ausbildung gewisser psy-
    chischer Strukturen, eine besondere Einstellung zum Analytiker.
    Wo diese fehlen, wie beim Kind, beim jugendlichen Verwahr-
    losten, in der Regel auch beim triebhaften Verbrecher, muß
    man etwas anderes machen als Analyse, was dann in der Ab-
    sicht wieder mit ihr zusammentrifft. Die theoretischen Kapitel
    des vorliegenden Buches werden dem Leser eine erste Orien-
    tierung in der Mannigfaltigkeit dieser Entscheidungen bringen.
     

    Ich schließe noch eine Folgerung an, die nicht mehr für die
    Erziehungslehre, wohl aber für die Stellung des Erziehers be-
    deutsam ist. Wenn der Erzieher die Analyse durch Erfahrung
    an der eigenen Person erlernt hat und in die Lage kommen
    kann, sie bei Grenz- und Mischfällen zur Unterstützung seiner
     

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    Sigm. Freud: Geleitwort
     

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    Arbeit zu verwenden, so muß man ihm offenbar die Ausübung
     

    der Analyse freigeben und darf ihn nicht aus engherzigen Mo-
    tiven daran hindern wollen.
     

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    INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK
     

    Nr. XIX
     

    Verwahrloste Jugend
     

    Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung
     

    Zehn Vorträge zur ersten Einführung
     

    von
     

    August Aichhorn
     

    Mit einem Geleitwort
     

    von
     

    Prof. Dr. Sigm. Freud
     

    1925
    Internationaler Psychoanalytischer Verlag
    Leipzig, Wien, Zürich