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I.
Einleitung.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien.
Das Büchlein über die Kriegsneurosen, mit dem der Verlag
die „Internationale psychoanalytische Bibliothek“ eröffnet, behandelt
ein Thema, welches bis vor kurzem den Vorzug der höchsten
Aktualität genoß. Als dasselbe auf dem V. Psychoanalytischen
Kongreß zu Budapest (September 1918) zur Diskussion gestellt
wurde, fanden sich offizielle Vertreter von den leitenden Stellen
der Mittelmächte ein, um von den Vorträgen und Verhandlungen
Kenntnis zu nehmen, und das hoffnungsvolle Ergebnis dieses ersten
Zusammentreffens war die Zusage, psychoanalytische Stationen zu
errichten, in denen analytisch geschulte Ärzte Mittel und Muße
finden sollten, um die Natur dieser rätselvollen Erkrankungen und
ihre therapeutische Beeinflussung durch Psychoanalyse zu studieren.
Ehe noch diese Vorsätze ausgeführt werden konnten, kam das
Kriegsende; die staatlichen Organisationen brachen zusammen,
das Interesse für die Kriegsneurosen räumte anderen Sorgen den
Platz; bezeichnenderweise verschwanden aber auch mit dem Auf-
hören der Bedingungen des Krieges die meisten der durch den
Krieg hervorgerufenen neurotischen Erkrankungen. Die Gelegenheit
zu einer gründlichen Erforschung dieser Affektionen war nun leider
versäumt. Man muß hinzufügen: sie wird hoffentlich nicht
so bald wiederkommen.Diese nun abgeschlossene Episode ist aber für die Verbreitung
der Psychoanalyse nicht bedeutungslos gewesen. Während der
Beschäftigung mit den Kriegsneurosen, die ihnen durch die An-
forderungen des Heeresdienstes auferlegt wurde, sind auch solche
Ärzte psychoanalytischen Lehren näher gekommen, die sich bis-
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Prof. Dr. Sigm. Freud.
her von ihnen ferne gehalten hatten. Aus dem Referat von
Ferenczi kann der Leser entnehmen, unter welchen Zögerungen
und Verhüllungen sich diese Annäherung vollzogen hat. Einige
der Momente, welche die Psychoanalyse bei den Neurosen der
Friedenszeit längst erkannt und beschrieben hatte, die psychogene
Herkunft der Symptome, die Bedeutung der unbewußten Trieb-
regungen, die Rolle des primären Krankheitsgewinns bei der
Erledigung seelischer Konflikte („Flucht in die Krankheit“), wurden
so auch bei den Kriegsneurosen festgestellt und fast allgemein
angenommen. Die Arbeiten von E. Simmel zeigten auch, welcher
Erfolg zu erzielen ist, wenn man die Kriegsneurotiker mit Hilfe
der kathartischen Technik behandelt, die bekanntlich die Vorstufe
der psychoanalytischen Technik gewesen ist.Der so begonnenen Annäherung an die Psychoanalyse braucht
man aber den Wert einer Versöhnung oder Abgleichung des Gegen-
satzes zu ihr nicht zuzugestehen. Wenn jemand, der bisher von einer
Summe mit einander zusammenhängender Behauptungen nichts ge-
halten hat, plötzlich in die Lage kommt, sich von der Richtigkeit eines
Anteiles dieses Ganzen zu überzeugen, so sollte man meinen,
er
würde jetzt überhaupt in seiner Ablehnung schwankend werden
und eine gewisse respektvolle Erwartung zulassen, daß auch der
andere Teil, über den er noch keine eigene Erfahrung und dem-
nach kein eigenes Urteil besitzt, sich als richtig herausstellen könne.Dieser andere, vom Studium der Kriegsneurosen nicht berührte
Anteil der psychoanalytischen Lehre geht dahin, daß es sexuelle
Triebkräfte sind, welche sich in der Symptombildung zum Aus-
druck bringen, und daß die Neurose aus dem Konflikt zwischen
dem Ich und den von ihm verstoßenen Sexualtrieben hervorgeht.
„Sexualität“ ist dabei in dem erweiterten, in der Psychoanalyse
gebräuchlichen Sinn zu verstehen, und nicht mit dem engeren
Begriff der „Genitalität“ zu verwechseln. Es ist nun ganz richtig,
wie es E. Jones in seinem Beitrag darlegt, daß dieser Teil der
Theorie an den Kriegsneurosen bisher nicht erwiesen ist.
Die
Arbeiten, die das erweisen könnten, sind noch nicht angestellt
worden. Vielleicht sind die Kriegsneurosen ein für diesen Nach-S.
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Einleitung.
weis überhaupt ungeeignetes Material. Aber die Gegner der Psycho-
analyse, bei denen sich die Abneigung gegen die Sexualität stärker
gezeigt hat als die Logik, haben sich zu verkünden geeilt, daß
die Untersuchung der Kriegsneurosen dieses Stück der psycho-
analytischen Theorie endgültig widerlegt habe. Sie haben sich dabei
einer kleinen Vertauschung schuldig gemacht. Wenn die – noch
sehr wenig eingehende – Untersuchung der Kriegsneurosen
nicht erkennen läßt, daß die Sexualtheorie der Neurosen
richtig ist, so ist das etwas ganz anderes, als wenn sie
erkennen ließe, daß diese Theorie nichtrichtig ist.Bei unparteiischer Einstellung und einigem guten Willen fiele
es nicht schwer, den Weg zu finden, der zur weiteren Klärung führt.Die Kriegsneurosen sind, soweit sie sich durch besondere
Eigenheiten von den banalen Neurosen der Friedenszeit unter-
scheiden, aufzufassen als traumatische Neurosen, die durch einen
Ichkonflikt ermöglicht oder begünstigt worden sind. Gute Hinweise
auf diesen Ichkonflikt bringt der Beitrag von Abraham; auch
die englischen und amerikanischen Autoren, die Jones zitiert,
haben ihn erkannt. Er spielt sich zwischen dem alten friedlichen
und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten ab, und wird
akut, sobald dem Frieden-Ich vor Augen gerückt wird, wie sehr
es Gefahr läuft, durch die Wagnisse seines neugebildeten para-
sitiischen Doppelgängers ums Leben gebracht zu werden. Man
kann ebensowohl sagen, das alte Ich schütze sich durch die Flucht
in die traumatische Neurose gegen die Lebensgefahr, wie es
erwehre sich des neuen Ichs, das es als bedrohlich für sein Leben
erkennt. Das Volksheer wäre also die Bedingung, der Nährboden
der Kriegsneurosen; bei Berufssoldaten, in einer Söldnerschar,
wäre ihnen die Möglichkeit des Auftretens entzogen.Das andere an den Kriegsneurosen ist die traumatische Neurose,
die bekanntlich auch im Frieden nach Schreck und schweren
Unfällen vorkommt, ohne jede Beziehung zu einem Konflikt im Ich.Die Lehre von der sexuellen Ätiologie der Neurosen, oder
wie wir lieber sagen: die Libidotheorie der Neurosen ist ursprüng-
lich nur für die Übertragungsneurosen des friedlichen LebensS.
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Prof. Dr. Sigm. Freud.
aufgestellt worden und bei ihnen durch Anwendung der analytischen
Technik leicht zu erweisen. Aber ihre Anwendung auf jene anderen
Affektionen, die wir später als die Gruppe der narzißtischen
Neurosen zusammengefaßt haben, stößt bereits auf Schwierigkeiten.
Eine gewöhnliche Dementia praecox, eine Paranoia, eine Melan-
cholie sind zum Erweis der Libidotheorie und zur Einführung in
ihr Verständnis im Grunde recht ungeeignetes Material, weshalb
auch die Psychiater, welche die Übertragungsneurosen vernach-
lässigen, sich mit ihr nicht befreunden können. Als die in dieser
Hinsicht refraktärste galt immer die traumatische Neurose (der
Friedenszeit), so daß das Auftauchen der Kriegsneurosen kein
neues Moment in die vorliegende Situation eintragen konnte.Erst durch die Aufstellung und Handhabung des Begriffs
einer „narzißtischen Libido“, das heißt eines Maßes von sexueller
Energie, welches am Ich selbst hängt und sich an diesem ersättigt,
wie sonst nur am Objekt, ist es gelungen, die Libidotheorie auch
auf die narzißtischen Neurosen auszudehnen, und diese durchaus
legitime Fortentwicklung des Begriffes der Sexualität verspricht
für diese schwereren Neurosen und für die Psychosen all das zu
leisten, was man von einer sich empirisch vorwärts tastenden
Theorie erwarten kann. Auch die traumatische Neurose (des
Friedens) wird sich in diesem Zusammenhang einfügen, wenn
erst die Untersuchungen über die unzweifelhaft bestehenden
Beziehungen zwischen Schreck, Angst und narzißtischer Libido
zu einem Ergebnis gelangt sind.Wenn die traumatischen und die Kriegsneurosen überlaut vom
Einfluß der Lebensgefahr reden und gar nicht oder nicht deutlich
genug von dem der „Liebesversagung“, so entfällt dafür bei
den gewöhnlichen Übertragungsneurosen der Friedenszeit jeder
ätiologische Anspruch des ersteren, dort so mächtig auftretenden
Moments. Meint man doch sogar, daß diese letzteren Leiden
durch Verwöhnung, Wohlleben und Untätigkeit nur gefördert
werden, was wiederum einen interessanten Gegensatz zu den
Lebensbedingungen ergibt, unter denen die Kriegsneurosen aus-
brechen. Nach dem Vorbild ihrer Gegner hätten die Psycho-S.
Einleitung.
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analytiker, die ihre Patienten an der „Liebesversagung“, an den
unbefriedigten Ansprüchen der Libido erkrankt finden, behaupten
müssen, daß es keine Gefahrneurosen geben könne, oder daß die
nach Schreck auftretenden Affektionen keine Neurosen sind. Dies
ist ihnen natürlich niemals eingefallen. Vielmehr sehen sie eine
bequeme Möglichkeit, die beiden scheinbar auseinanderstrebenden
Tatsachen in einer Auffassung zu vereinigen. In den traumatischen
und Kriegsneurosen wehrt sich das Ich des Menschen gegen eine
Gefahr, die ihm von außen droht, oder die ihm durch eine Ich-
gestaltung selbst verkörpert wird; bei den friedlichen Über-
tragungsneurosen wertet das Ich seine Libido selbst als den Feind,
dessen Ansprüche ihm bedrohlich scheinen. Beidemal Furcht des
Ichs vor seiner Schädigung: hier durch die Libido, dort durch die
äußeren Gewalten. Ja man könnte sagen, bei den Kriegsneurosen
sei das Gefürchtete, zum Unterschied von der reinen traumatischen
Neurose und in Annäherung an die Übertragungsneurosen, doch
ein innerer Feind. Die theoretischen Schwierigkeiten, die einer solchen
einigenden Auffassung im Wege stehen, scheinen nicht unüber-
windlich; man kann doch die Verdrängung, die jeder Neurose
zu Grunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein Trauma,
als elementare traumatische Neurose bezeichnen.
ZurPsychoanalyseDerKriegsneurosen
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