S.

Maria-Wörth, Villa Belvedere
17. Juli 1911.

Hochverehrter Herr Professor!

Endlich bin ich so weit in Ordnung und zur Ruhe gekommen, dass ich in Muße schreiben kann. Die Reise war unbeschreiblich schön und obwohl ich mich, verlockt durch die Nähe und die beruhigenden Nachrichten, auch auf zwei Tage nach Neapel gewagt hatte, hat doch Rom den überwältigensten Eindruck auf mich gemacht. Ich habe dort so ziemlich alles Sehenswerte genossen und war sogar am letzten Tag meines dortigen Aufenthalts in Tivoli wo ich mich von den Strapazen der römischen Studien erholte. Allerdings auch nicht so ganz, denn ich war in der Villa Hadrian, die zum Schönsten gehört, was ich je gesehen habe. Sehr stolz bin ich darauf, dass ich mich auf dem Forum, das ich allein besuchte, ohne Führer glänzend auskannte und fast jeden Stein agnoszieren konnte, was ich wahrscheinlich den griechischen Vorstudien zu verdanken habe. In Neapel selbst habe ich mich so wenig wie möglich aufgehalten, ich war nur im Museum und auf einem Aussichtspunkt, die übrige Zeit verbrachte ich in Pompeji und Sorrent. An Ihr Verbot, keine Altertümer einzukaufen, hätte ich mich sicher nicht gehalten, wenn der Preis der prächtigen pompejanischen Ausgrabungen nicht den Inhalt meiner Reisekasse überstiegen hätte. Auf der Hinreise habe ich mich noch in Florenz aufgehalten, wo ich einen unvergesslichen Sonnenuntergang vom Michelangeloplatz aus sah und auf dem Rückweg übernachtete ich in Genua (sah im Vorbeifahren den schiefen Turm zu Pisa) und war einen Tag in Mailand. Zum Conacolo Vinciano kam ich leider um 1/2 h zu spät und alle Bestechungsversuche waren erfolglos, da Schlüssel und Wärter nicht im Hause selbst sondern in der Breva sind. Das ist der einzige dunkle Punkt in den Annalen dieser sonst überaus glücklich verlaufenen Reise, für deren Ermöglichung ich Ihnen nicht oft und warm genug danken kann.

Aus unserem Österreich habe ich die ganze Zeit über nichts gehört und fand erst hier einige Nachrichten vor. Dr. Bach übersandte mit den Mitgliedsbeitrag mit seiner Austritts¬erklärung; er schließe sich dem Protest jener Herren an, die im Vorgehen gegen A. eine Einschränkung der wissenschaftlichen Forscherfreiheit erblicken.

Dr. Maday aus Innsbruck bittet mich um Information über die Vorgänge der letzten Zeit, um dazu Stellung nehmen zu können. Dr. Sachs berichtet über die sympathische Aufnahme, die er und sein Projekt in Zürich fanden und Maeder schrieb mir [einen?] ausführlichen Brief, worin er mich seiner wärmsten Sympathien für das Projekt versichert. Dr. Sachs und ich haben anderseits aus der Korrespondenz zwischen Stekel und Bergmann den Eindruck empfangen, als arbeite St. unserem Plane entgegen, den er übrigens Bergmann gegenüber für den seinigen ausgegeben zu haben scheint.

Gestern habe ich Dr. Steiner besucht, der hier in Velden ist. Jones schrieb mit, dass er nach 6monatiger Pause wieder am Nightmare arbeitet.

Mit den allerbesten Wünschen für Ihre Erholung
und ergebensten Grüßen

bin ich Ihr dankbarer
Rank.

[an den linken oberen Rand der ersten Seite geschrieben:]

P.S. Dr. Tausk sandte mir ein M.S. über Selbstmord von Drosnes in Odessa ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Bitte um Nachricht.