S.
Maria-Wörth, 27.VIII.1911
Hochverehrter Herr Professor!
Schönsten Dank für Ihr freundliches Schreiben, zu dessen Beantwortung ich mangels mitteilenswerter äusserer Ereignisse oder innerer Erlebnisse überhaupt nicht gekommen wäre, wenn nicht die Zeit [?], die mir überhaupt alles zu machen scheint, mich drängte und meine Abreise von hier rapid näherrückte.
Aus der Dolomitentour ist nichts geworden und so leid mir dies einerseits tut, so ist es mir doch zur Beendigung mancher Arbeit hier willkommen. Vom Lohengrin erwarte ich den letzten 11. (!) Bogen zur Korrektur. Ich sehe erst jetzt, was für Riesenarbeit ich damit gehabt haben musste, als ich es in einem Monat fertigmachte und habe infolge dieser Erkenntnis beschlossen, jetzt hier nichts mehr zu machen, sondern bloß zu faulenzen. Da aber diese Tendenz in meinem Unbewussten schon den ganzen Sommer bestand und sich auch in den entsprechenden Symptomen ungehemmt äusserte, so darf ich den neuen Entschluss nur als "Rationalisierung" dieser unbewussten Tendenz auffassen. Zum Glück ist die für Eros und Psyche bestimmte Arbeit über das Motiv der Nacktheit in Dichtung und Sage so gut wie fertig und wird unter dem neuen Entschluss nicht zu leiden haben. Material und Thema waren hier nicht nur selten schön, sondern haben sich von selbst zu ganz überraschenden und von mir ungeahnten Beziehungen zusammengeschlossen. Allerdings nur an manchen Punkten und wo sie das nicht von selbst taten, da gelang es mir selten, das Material völlig zu bewältigen. Doch glaube ich, dass die Schuld nicht an meiner Unfähigkeit liegt, obwohl ich überzeugt bin, dass ich die Sache in Wien bei weniger Ruhe und mehr Arbeit besser getroffen hätte. Vielleicht spreche ich in der Ps.A.V. in Wien darüber. Jedenfalls aber möchte ich mir erlauben, Sie um Ihren Rat dabei zu bitten, denn ich weiss, dass Sie wie immer auf den ersten Blick sehen werden, wo ich gefehlt habe und wie sich nachhelfen lässt.
Mit Sachs harmoniere ich ausgezeichnet und solange er nur die positive Seite seines Bruderkomplexes mir zuwendet werden wir uns sehr gut vertragen.
Jones schrieb, dass er am 10. Sept. abreist; ich kann ihm also nichts mehr antworten.
Abraham habe ich heute geschrieben; wegen Hotel in Weimar und habe ihm zugleich von dem Plan der neuen Unternehmung Mitteilung gemacht.
Aus Wien höre ich nur von Sachs und Hitschmann ab und zu etwas. Hitschmann schrieb, dass in der letzten Jugend ein Gedicht auf Segantini stehe. Populärer kann man in Deutschland nur noch werden, wenn S.M. persönlich sich die "Sache" vorführen lässt.
Hoffentlich reift in diesem heissen Sommer von ihren [sic] Plänen doch so viel aus, dass Eros und Psyche den Lesern zuerst eine edle Frucht präsentieren können.
Ich gehe vor Mitte September (11./12.) von hier weg über Salzburg nach München, wo ich die Glyptothek [?] studieren will und komme dann am 20. nach Weimar. Von dort möchte ich gerne auf 2-3 Tage nach Berlin, wo ich in der Bibliothek einiges lesen muss, was nur in Berlin zu bekommen ist.
Mit den besten Empfehlungen an Ihre werte Familie und Sie bin ich Ihr dankbar ergebener
Rank.