S.
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Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens.
I.
Über einen besonderen Typus der Objektwahl
beim Manne.Von Sigm. Freud (Wien).
Wir haben es bisher den Dichtern überlassen, uns zu schildern,
nach welchen „Liebesbedingungen“ die Menschen ihre Objektwahl
treffen, und wie sie die Anforderungen ihrer Phantasie mit der Wirklich-
keit in Einklang bringen. Die Dichter verfügen auch über manche
Eigenschaften, welche sie zur Lösung einer solchen Aufgabe befähigen,
vor allem über die Feinfühligkeit für die Wahrnehmung verborgener
Seelenregungen bei anderen und den Mut, ihr eigenes Unbewußtes
laut werden zu lassen. Aber der Erkenntniswert ihrer Mitteilungen
wird durch einen Umstand herabgesetzt. Die Dichter sind an die Be-
dingung gebunden, intellektuelle und ästhetische Lust sowie bestimmte
Gefühlswirkungen zu erzielen, und darum können sie den Stoff der
Realität nicht unverändert darstellen, sondern müssen Teilstücke
desselben isolieren, störende Zusammenhänge auflösen, das Ganze
mildern und Fehlendes ersetzen. Es sind dies Vorrechte der sogenannten
„poetischen Freiheit“. Auch können sie nur wenig Interesse für die
Herkunft und Entwicklung solcher seelischer Zustände äußern, die sie
als fertige beschreiben. Somit wird es doch unvermeidlich, daß die
Wissenschaft mit plumperen Händen und zu geringerem Lustgewinne
sich mit denselben Materien beschäftige, an deren dichterischer Bear-
beitung sich die Menschen seit Tausenden von Jahren erfreuen. Diese
Bemerkungen mögen zur Rechtfertigung einer streng wissenschaft-
lichen Bearbeitung auch des menschlichen Liebeslebens dienen. DieS.
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Wissenschaft ist eben die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip,
die unserer psychischen Arbeit möglich ist.Während der psychoanalytischen Behandlungen hat man reich-
lich Gelegenheit, sich Eindrücke aus dem Liebesleben der Neurotiker
zu holen, und kann sich dabei erinnern, daß man ähnliches Verhalten
auch bei durchschnittlich Gesunden oder selbst bei hervorragenden
Menschen beobachtet oder erfahren hat. Durch Häufung der Eindrücke
infolge zufälliger Gunst des Materials treten dann einzelne Typen deut-
licher hervor. Einen solchen Typus der männlichen Objektwahl will
ich hier zuerst beschreiben, weil er sich durch eine Reihe von „Liebes-
bedingungen“ auszeichnet, deren Zusammentreffen nicht verständlich,
ja eigentlich befremdend ist, und weil er eine einfache psychoanalytische
Aufklärung zuläßt.1. Die erste dieser Liebesbedingungen ist als geradezu spezifisch
zu bezeichnen; sobald man sie vorfindet, darf man nach dem Vor-
handensein der anderen Charaktere dieses Typus suchen. Man kann
sie die Bedingung des „Geschädigten Dritten“ nennen; ihr Inhalt
geht dahin, daß der Betreffende niemals ein Weib zum Liebesobjekt
wählt, welches noch frei ist, also ein Mädchen oder eine alleinstehende
Frau, sondern nur ein solches Weib, auf das ein anderer Mann als Ehe-
gatte, Verlobter, Freund Eigentumsrechte geltend machen kann.
Diese Bedingung zeigt sich in manchen Fällen so unerbittlich, daß
dasselbe Weib zuerst übesehen oder selbst verschmäht werden kann,
solange es niemandem angehört, während es sofort Gegenstand der
Verliebtheit wird, sobald es in eine der genannten Beziehungen zu einem
anderen Manne tritt.2. Die zweite Bedingung ist vielleicht minder konstant, aber
nicht weniger auffällig. Der Typus wird erst durch ihr Zusammen-
treffen mit der ersten erfüllt, während die erste auch für sich allein
in großer Häufigkeit vorzukommen scheint. Diese zweite Bedingung
besagt, daß das keusche und unverdächtige Weib niemals den Reiz
ausübt, der es zum Liebesobjekt erhebt, sondern nur das irgendwie
sexuell anrüchige, an dessen Treue und Verläßlichkeit ein Zweifel ge-
stattet ist. Dieser letztere Charakter mag in einer bedeutungsvollen
Reihe variieren, von dem leisen Schatten auf dem Ruf einer dem Flirt
nicht abgeneigten Ehefrau bis zur offenkundig polygamen Lebens-
führung einer Kokotte oder Liebeskünstlerin, aber auf irgend etwasS.
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dieser Art wird von den zu unserem Typus Gehörigen nicht verzichtet.
Man mag diese Bedingung mit etwas Vergröberung die der „Dirnenliebe“
heißen.Wie die erste Bedingung Anlaß zur Befriedigung von agonalen,
feindseligen Regungen gegen den Mann gibt, dem man das geliebte
Weib entreißt, so steht die zweite Bedingung, die der Dirnenhaftigkeit
des Weibes, in Beziehung zur Betätigung der Eifersucht, die für
Liebende dieses Typus ein Bedürfnis zu sein scheint. Erst, wenn sie
eifersüchtig sein können, erreicht die Leidenschaft ihre Höhe, gewinnt
das Weib seinen vollen Wert, und sie versäumen nie, sich eines An-
lasses zu bemächtigen, der ihnen das Erleben dieser stärksten Emp-
findungen gestattet. Merkwürdigerweise ist es nicht der rechtmäßige
Besitzer der Geliebten, gegen den sich diese Eifersucht richtet, sondern
neu auftauchende Fremden, mit denen man die Geliebte in Ver-
dacht bringen kann. In grellen Fällen zeigt der Liebende keinen Wunsch,
das Weib für sich allein zu besitzen, und scheint sich in dem dreieckigen
Verhältnis durchaus wohl zu fühlen. Einer meiner Patienten, der unter
den Seitensprüngen seiner Dame entsetzlich gelitten hatte, hatte doch
gegen ihre Verheiratung nichts einzuwenden, sondern förderte diese
mit allen Mitteln; gegen den Mann zeigte er dann durch Jahre niemals
eine Spur von Eifersucht. Ein anderer typischer Fall war in seinen
ersten Liebesbeziehungen allerdings sehr eifersüchtig gegen den Ehe-
gatten gewesen und hatte die Dame genötigt, den ehelichen Verkehr
mit diesem einzustellen; in seinen zahlreichen späteren Verhältnissen
benahm er sich aber wie die anderen und faßte den legitimen Mann nicht
mehr als Störung auf.Die folgenden Punkte schildern nicht mehr die vom Liebesobjekt
geforderten Bedingungen, sondern das Verhalten des Liebenden gegen
das Objekt seiner Wahl.3. Im normalen Liebesleben wird der Wert des Weibes durch seine
sexuelle Integrität bestimmt und durch die Annäherung an den Cha-
rakter der Dirnenhaftigkeit herabgesetzt. Es erscheint daher als eine
auffällige Abweichung vom Normalen, daß von den Liebenden unseres
Typus die mit diesem Charakter behafteten Frauen als höchstwertige
Liebesobjekte behandelt werden. Die Liebesbeziehungen zu diesen
Frauen werden mit dem höchsten psychischen Aufwand bis zur Auf-
zehrung aller anderen Interessen betrieben; sie sind die einzigen Per-
sonen, die man lieben kann, und die Selbstanforderung der Treue wird
jedesmal wieder erhoben, so oft sie auch in der Wirklichkeit durchbrochenS.
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werden mag. In diesen Zügen der beschriebenen Liebes-
beziehungen prägt sich überdeutlich der zwanghafte Charakter
aus, welcher ja in gewissem Grade jedem Falle von Verliebtheit eignet.
Man darf aber aus der Treue und Intensität der Bindung nicht die
Erwartung ableiten, daß ein einziges solches Liebesverhältnis das
Liebesleben der Betreffenden ausfülle oder sich nur einmal innerhalb
desselben abspiele. Vielmehr wiederholen sich Leidenschaften dieser Art
mit den gleichen Eigentümlichkeiten – die eine das genaue Abbild
der anderen – mehrmals im Leben der diesem Typus Angehörigen,
ja die Liebesobjekte können nach äußeren Bedingungen, z. B. Wechsel
von Aufenthalt und Umgebung, einander so häufig ersetzen, daß es
zur Bildung einer langen Reihe kommt.4. Am überraschendsten wirkt auf den Beobachter die bei den
Liebenden dieses Typus sich äußernde Tendenz, die Geliebte zu
„retten“. Der Mann ist überzeugt, daß die Geliebte seiner bedarf,
daß sie ohne ihn jeden sittlichen Halt verlieren und rasch auf ein be-
dauernswertes Niveau herabsinken würde. Er rettet sie also, indem
er nicht von ihr läßt. Die Rettungsabsicht kann sich in einzelnen Fällen
durch die Berufung auf die sexuelle Unverläßlichkeit und die sozial
gefährdete Position der Geliebten rechtfertigen; sie tritt aber nicht
minder deutlich hervor, wo solche Anlehnungen an die Wirklichkeit
fehlen. Einer der zum beschriebenen Typus gehörigen Männer, der
seine Damen durch kunstvolle Verführung und spitzfindige Dialektik
zu gewinnen verstand, scheute dann im Liebesverhältnis keine An-
strengung, um die jeweilige Geliebte durch selbstverfaßte Traktate
auf dem Wege der „Tugend“ zu erhalten.Überblickt man die einzelnen Züge des hier geschilderten Bildes,
die Bedingungen der Unfreiheit und der Dirnenhaftigkeit der Geliebten,
die hohe Wertung derselben, das Bedürfnis nach Eifersucht, die Treue,
die sich doch mit der Auflösung in eine lange Reihe verträgt, und die
Rettungsabsicht, so wird man eine Ableitung derselben aus einer einzigen
Quelle für wenig wahrscheinlich halten. Und doch ergibt sich eine
solche leicht bei psychoanalytischer Vertiefung in die Lebensgeschichte
der in Betracht kommenden Personen. Diese eigentümlich bestimmte
Objektwahl und das so sonderbare Liebesverhalten haben dieselbe
psychische Abkunft wie im Liebesleben des Normalen, sie entspringen
aus der infantilen Fixierung der Zärtlichkeit an die Mutter und stellen
einen der Ausgänge dieser Fixierung dar. Im normalen Liebesleben
erübrigen nur wenige Züge, welche das mütterliche Vorbild der ObjektwahlS.
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unverkennbar verraten, so zum Beispiel die Vorliebe junger Männer für
gereiftere Frauen; die Ablösung der Libido von der Mutter hat sich
verhältnismäßig rasch vollzogen. Bei unserem Typus hingegen hat die
Libido auch nach dem Eintritt der Pubertät so lange bei der Mutter
verweilt, daß den später gewählten Liebesobjekten die mütterlichen
Charaktere eingeprägt bleiben, daß diese alle zu leicht kenntlichen
Muttersurrogaten werden. Es drängt sich hier der Vergleich mit der
Schädeldeformation des Neugeborenen auf; nach protrahierter Geburt
muß der Schädel des Kindes den Ausguß der mütterlichen Beckenenge
darstellen.Es obliegt uns nun wahrscheinlich zu machen, daß die charak-
teristischen Züge unseres Typus, Liebesbedingungen wie Liebesverhalten,
wirklich der mütterlichen Konstellation entspringen. Am leichtesten
dürfte dies für die erste Bedingung, die der Unfreiheit des Weibes oder
des geschädigten Dritten, gelingen. Man sieht ohne weiteres ein, daß
bei dem in der Familie aufwachsenden Kinde die Tatsache, daß die Mutter
dem Vater gehört, zum unabtrennbaren Stück des mütterlichen Wesens
wird, und daß kein anderer als der Vater selbst der geschädigte Dritte
ist. Ebenso ungezwungen fügt sich der überschätzende Zug, daß die
Geliebte die Einzige, Unersetzliche ist, in den infantilen Zusammenhang
ein, denn niemand besitzt mehr als eine Mutter, und die Beziehung zu
ihr ruht auf dem Fundament eines jedem Zweifel entzogenen und nicht
zu wiederholenden Ereignisses.Wenn die Liebesobjekte bei unserem Typus vor allem Mutter-
surrogate sein sollen, so wird auch die Reihenbildung verständlich,
welche der Bedingung der Treue so direkt zu widersprechen scheint.
Die Psychoanalyse belehrt uns auch durch andere Beispiele, daß das
im Unbewußten wirksame Unersetzliche sich häufig durch die Auf-
lösung in eine unendliche Reihe kundgibt, unendlich darum, weil jedes
Surrogat doch die erstrebte Befriedigung vermissen läßt. So erklärt
sich die unstillbare Fragelust der Kinder in gewissem Alter daraus,
daß sie eine einzige Frage zu stellen haben, die sie nicht über ihre Lippen
bringen, die Geschwätzigkeit mancher neurotisch geschädigter Personen
aus dem Drucke eines Geheimnisses, das zur Mitteilung drängt, und das
sie aller Versuchung zum Trotze doch nicht verraten.Dagegen scheint die zweite Liebesbedingung, die der Dirnenhaftig-
keit des gewählten Objektes, einer Ableitung aus dem Mutterkomplex
energisch zu widerstreben. Dem bewußten Denken des Erwachsenen
erscheint die Mutter gern als Persönlichkeit von unantastbarer sittlicherS.
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Reinheit, und wenig anderes wirkt, wenn es von außen kommt, so be-
leidigend, oder wird, wenn es von innen aufsteigt, so peinigend empfunden
wie ein Zweifel an diesem Charakter der Mutter. Gerade dieses Verhält-
nis von schärfstem Gegensatze zwischen der „Mutter“ und der „Dirne“
wird uns aber anregen, die Entwicklungsgeschichte und das unbewußte
Verhältnis dieser beiden Komplexe zu erforschen, wenn wir längst
erfahren haben, daß im Unbewußten häufig in Eines zusammenfällt,
was im Bewußtsein in zwei Gegensätze gespalten vorliegt. Die Unter-
suchung führt uns dann in die Lebenszeit zurück, in welcher der Knabe
zuerst eine vollständigere Kenntnis von den sexuellen Beziehungen
zwischen den Erwachsenen gewinnt, etwa in die Jahre der Vorpubertät.
Brutale Mitteilungen von unverhüllt herabsetzender und aufrührerischer
Tendenz machen ihn da mit dem Geheimnis des Geschlechtslebens
bekannt, zerstören die Autorität der Erwachsenen, die sich als un-
vereinbar mit der Enthüllung ihrer Sexualbetätigung erweist. Was
in diesen Eröffnungen den stärksten Einfluß auf den Neueingeweihten
nimmt, das ist deren Beziehung zu den eigenen Eltern. Dieselbe wird
oft direkt von dem Hörer abgelehnt, etwa mit den Worten: Es ist
möglich, daß deine Eltern und andere Leute so etwas miteinander tun,
aber von meinen Eltern ist es ganz unmöglich.Als selten fehlendes Korollar zur „sexuellen Aufklärung“ gewinnt
der Knabe auch gleichzeitig die Kenntnis von der Existenz gewisser
Frauen, die den geschlechtlichen Akt erwerbsmäßig ausüben und darum
allgemein verachtet werden. Ihm selbst muß diese Verachtung ferne
sein; er bringt für diese Unglücklichen nur eine Mischung von Sehnsucht
und Grausen auf, sobald er weiß, daß auch er von ihnen in das Ge-
schlechtsleben eingeführt werden kann, welches ihm bisher als der
ausschließliche Vorbehalt der „Großen“ galt. Wenn er dann den
Zweifel nicht mehr festhalten kann, der für seine Eltern eine Ausnahme
von den häßlichen Normen der Geschlechtsbetätigung fordert, so sagt er
sich mit zynischer Korrektheit, daß der Unterschied zwischen der Mutter
und der Hure doch nicht so groß sei, daß sie im Grunde das nämliche
tun. Die aufklärenden Mitteilungen haben nämlich die Erinnerungsspuren
seiner frühinfantilen Eindrücke und Wünsche in ihm geweckt und
von diesen aus gewisse seelische Regungen bei ihm wieder zur Ak-
tivität gebracht. Er beginnt die Mutter selbst in dem neugewonnenen
Sinne zu begehren und den Vater als Nebenbuhler, der diesem Wunsche
im Wege steht, von Neuem zu hassen; er gerät, wie wir sagen, unter
die Herrschaft des Ödipuskomplexes. Er vergißt es der Mutter nichtS.
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und betrachtet es im Lichte einer Untreue, daß sie die Gunst des
sexuellen Verkehrs nicht ihm, sondern dem Vater geschenkt hat. Diese
Regungen haben, wenn sie nicht rasch vorüberziehen, keinen andern
Ausweg, als sich in Phantasien auszuleben, welche die Sexualbetätigung
der Mutter unter den mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte haben,
deren Spannung auch besonders leicht zur Lösung im onanistischen
Akte führt. Infolge des beständigen Zusammenwirkens der beiden
treibenden Motive, der Begehrlichkeit und der Rachsucht, sind Phan-
tasien von der Untreue der Mutter die bei weitem bevorzugten; der
Liebhaber, mit dem die Mutter die Untreue begeht, trägt fast immer
die Züge des eigenen Ichs, richtiger gesagt, der eigenen, idealisierten,
durch Altersreifung auf das Niveau des Vaters gehobenen Persönlich-
keit. Was ich an anderer Stelle1) als „Familienroman“ geschildert
habe, umfaßt die vielfältigen Ausbildungen dieser Phantasietätigkeit
und deren Verwebung mit verschiedenen egoistischen Interessen
dieser Lebenszeit. Nach Einsicht in dieses Stück seelischer Entwicklung
können wir es aber nicht mehr widerspruchsvoll und unbegreiflich
finden, daß die Bedingung der Dirnenhaftigkeit der Geliebten sich direkt
aus dem Mutterkomplex ableitet. Der von uns beschriebene Typus
des männlichen Liebeslebens trägt die Spuren dieser Entwicklungs-
geschichte an sich und läßt sich einfach verstehen als Fixierung an die
Pubertätsphantasien des Knaben, die späterhin den Ausweg in die
Realität des Lebens doch noch gefunden haben. Es macht keine
Schwierigkeiten anzunehmen, daß die eifrig geübte Onanie der Puber-
tätsjahre ihren Beitrag zur Fixierung jener Phantasien geleistet hat.Mit diesen Phantasien, welche sich zur Beherrschung des realen
Liebeslebens aufgeschwungen haben, scheint die Tendenz, die Geliebte
zu retten, nur in lockerer, oberflächlicher und durch bewußte Be-
gründung erschöpfbarer Verbindung zu stehen. Die Geliebte bringt
sich durch ihre Neigung zur Unbeständigkeit und Untreue in Ge-
fahren, also ist es begreiflich, daß der Liebende sich bemüht, sie vor
diesen Gefahren zu behüten, indem er ihre Tugend überwacht und ihren
schlechten Neigungen entgegenarbeitet. Indes zeigt das Studium der
Deckerinnerungen, Phantasien und nächtlichen Träume der Menschen,
daß hier eine vortrefflich gelungene „Rationalisierung“ eines unbewußten
Motivs vorliegt, die einer gut geratenen sekundären Bearbeitung1)O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 1909. Schriften zur
angewandten Seelenkunde, Heft V. Fr. Deuticke, WienS.
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im Traume gleichzusetzen ist. In Wirklichkeit hat das Rettungsmotiv
seine eigene Bedeutung und Geschichte und ist ein selbständiger
Abkömmling des Mutter‑ oder, richtiger gesagt, des Elternkomplexes.
Wenn das Kind hört, daß es sein Leben den Eltern verdankt, daß ihm
die Mutter „das Leben geschenkt“ hat, so vereinen sich bei ihm
zärtliche, mit großmannssüchtigen, nach Selbständigkeit ringenden
Regungen, um den Wunsch entstehen zu lassen, den Eltern dieses
Geschenk zurückzuerstatten, es ihnen durch ein gleichwertiges zu
vergelten. Es ist, wie wenn der Trotz des Knaben sagen wollte: Ich
brauche nichts vom Vater, ich will ihm alles zurückgeben, was ich ihn
gekostet habe. Er bildet dann die Phantasie, den Vater aus einer
Lebensgefahr zu retten, wodurch er mit ihm quitt wird, und diese
Phantasie verschiebt sich häufig genug auf den Kaiser, König oder
sonst einen großen Herrn und wird nach dieser Entstellung bewußt-
seinsfähig und selbst für den Dichter verwertbar. In der Anwendung
auf den Vater überwiegt bei weitem der trotzige Sinn der Rettungs-
phantasie, der Mutter wendet sie meist ihre zärtliche Bedeutung zu.
Die Mutter hat dem Kinde das Leben geschenkt, und es ist nicht leicht,
dies eigenartige Geschenk durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen.
Bei geringem Bedeutungswandel, wie er im Unbewußten erleichtert ist, –
was man etwa dem bewußten Ineinanderfließen der Begriffe gleich-
stellen kann – gewinnt das Retten der Mutter die Bedeutung von:
ihr ein Kind schenken oder machen, natürlich ein Kind, wie man selbst
ist. Die Entfernung vom ursprünglichen Sinn der Rettung ist keine allzu-
große, der Bedeutungswandel kein willkürlicher. Die Mutter hat einem ein
Leben geschenkt, das eigene, und man schenkt ihr dafür ein anderes
Leben, das eines Kindes, das mit dem eigenen Selbst die größte Ähnlich-
keit hat. Der Sohn erweist sich dankbar, indem er sich wünscht, von
der Mutter einen Sohn zu haben, der ihm selbst gleich ist, d. h. in der
Rettungsphantasie identifiziert er sich völlig mit dem Vater. Alle
Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen, trotzigen, selbstherrlichen,
sind durch den einen Wunsch befriedigt, sein eigener Vater zu
sein. Auch das Moment der Gefahr ist bei dem Bedeutungswandel
nicht verloren gegangen; der Geburtsakt selbst ist nämlich die Gefahr,
aus der man durch die Anstrengung der Mutter gerettet wurde. Die
Geburt ist ebenso die allererste Lebensgefahr wie das Vorbild aller
späteren, vor denen wir Angst empfinden, und das Erleben der Geburt
hat uns wahrscheinlich den Affektausdruck, den wir Angst heißen,
hinterlassen. Der Macduff der schottischen Sage, den seine MutterS.
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nicht geboren hatte, der aus seiner Mutter Leib geschnitten wurde,
hat darum auch die Angst nicht gekannt.Der alte Traumdeuter Artemidoros hatte sicherlich Recht mit
der Behauptung, der Traum wandle seinen Sinn je nach der Person
des Träumers. Nach den für den Ausdruck unbewußter Gedanken
geltenden Gesetzen kann das „Retten“ seine Bedeutung variieren,
je nachdem es von einer Frau oder von einem Mann phantasiert wird.
Es kann ebensowohl bedeuten: ein Kind machen = zur Geburt bringen
(für den Mann) wie: selbst ein Kind gebären (für die Frau).Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser lassen
sich diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in Träumen
und Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein Mann im Traum eine Frau
aus dem Wasser rettet, so heißt das: er macht sie zur Mutter, was nach
den vorstehenden Erörterungen gleichsinnig ist dem Inhalte: er macht
sie zu seiner Mutter. Wenn eine Frau einen anderen (ein Kind) aus
dem Wasser rettet, so bekennt sie sich damit wie die Königstochter
in der Mosessage1) als seine Mutter, die ihn geboren hat.Gelegentlich enthält auch die auf den Vater gerichtete Rettungs-
phantasie einen zärtlichen Sinn. Sie will dann den Wunsch ausdrücken,
den Vater zum Sohne zu haben, d. h. einen Sohn zu haben, der so ist
wie der Vater. Wegen all dieser Beziehungen des Rettungsmotivs
zum Elternkomplex bildet die Tendenz, die Geliebte zu retten, einen
wesentlichen Zug des hier beschriebenen Liebestypus.Ich halte es nicht für notwendig, meine Arbeitsweise zu recht-
fertigen, die hier wie bei der Aufstellung der Analerotik darauf
hinausgeht, aus dem Beobachtungsmateriale zunächst extreme und
scharf umschriebene Typen herauszuheben. Es gibt in beiden Fällen
weit zahlreichere Individuen, in denen nur einzelne Züge dieses Typus,
oder diese nur in unscharfer Ausprägung festzustellen sind, und es ist
selbstverständlich, daß erst die Darlegung des ganzen Zusammen-
hanges, in den diese Typen aufgenommen sind, deren richtige Wür-
digung ermöglicht.1)Rank, l. c.
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