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    PROF. DR. FREUD 
    WIEN, IX., BERGGASSE 19.

    15. 5. 1929

    Meine liebe Ruth

    Zuerst auch ich vom Baby! Die Bilder 
    fanden allgemeinste Anerkennung, ich ließ 
    Math als Patin die Wal, behielt ein 
    anderes, und gab das dritte ihrem Onkel 
    David, der sich, wie leicht zu merken, zurück-
    gesetzt fühlte.

    Es ist mir auch heuer nicht gelungen, den 6 Mai 
    ruhig zu verbringen. Die Leute haben kein 
    Zutrauen, scheint es, wenn ich ihre Neigung 
    zu Feierlichkeiten auf das Jahr 1936 
    verschieben will. Nur die nächste Familie 
    hat sich abhalten lassen, sonst bin ich wieder 
    unter Orchideen u anderen Gewächsen 
    erstickt. Ernst wollte zuerst kommen, hat 
    sich aber dann eine riesige aegypt 
    Holzmaske vertreten lassen.  Sie, Mark
    Baby stehen mit den Bildern und dem 
    großartigen zweiten Band von Knossos 
    unter den Sendern obenan. Eine 
    liebenswürdige Laune des Zufalls hat 
    grade an dem Tag eine brasilianische 
    Widmung ankommen lassen, ein schönes 
    Buch von Porto‑Carrero aus Rio betitelt 
    Ensaios de Psych“ (essays), leider portugiesisch, 
    soweit man urteilen kann, sehr 
    inhaltsreich und „rechtgläubig“. Storfer hat 
    eine interessante erste Nummer einer 
    neuen Zeitschrift „Die psychoanalyt 
    Bewegung“, erscheinen lassen. Unter 
    den telegraphisch Gratulierenden 
    befand sich auch – Schröder.

    – Endlich kann ich Ihnen einen Fall 
    nachweisen, in dem Sie Lehrman 
    wirklich Unrecht thun wollten! 
    Denn die Bemerkung die ihm den

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    Eindruck einer Bombe machte und die Sie ihm nicht 
    glaubten, ist in der Tat authentisch. Ich sagte 
    zwar nicht: jeder Analytiker müßte … und 
    bestimmte: alle fünf Jahre, aber ich betonte 
    wirklich die Unzulänglichkeit der Lehranalyse 
    im Vergleich mit der therapeutischen 
    und riet, man solle sich periodisch in 
    neue Analyse begeben, um sich von 
    den ungünstigen Einwirkungen, welche die 
    Folge der analytischen Tätigkeit sind, 
    rein zu waschen.

    Am letzten Montag (13t) fand der letzte 
    Gastabend bei uns statt. Es waren zuviel 
    Leute (35!), es war schwüle Luft und ich 
    war etwas unwillig, aber Wälder 
    sprach sehr gescheit über Überdetermin-
    irung und provozirte interessante 
    Diskussionen. Schilder redet seit Amerika 
    flacher und unerfreulicher als sonst, 
    Wittels schwieg wie immer.

    Anna hat ihr zweites kleines Buch endlich 
    für den Hippokrates‑Verlag fertig 
    gemacht u abgeschickt.

    David’s Analyse ist nicht mehr so uninteressant, 
    wie ich Ihnen schon berichtet habe, aber 
    schrecklich öde und wenig hoffnungsvoll. 
    Er produzirt sich in unfruchtbarer Klügelei 
    und ändert sich nicht im geringsten 
    Ich glaube nicht, daß ich ihn nach Berchtes-
    gaden mitnehme, wofür wir nach dem 
    15 Juni übersiedeln.

    Wenn Sie sich einen Teil der Prüf-
    ungen ersparen könnten, würde 
    sich sehr freuen 
    Ihr 
    Freud

    PS. Mark lasse ich für seinen 
    ausführlichen Brief besonders 
    danken.