S.
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Dostojewski und die Vatertötung
von
Sigm. FreudIm Anschluß an seine bekannte (unter der Mitarbeit von Dimitri
Mereschkowski von Moeller van den Bruck herausgegebenen) 23‑bän-
digen deutschen Dostojewski‑Ausgabe veröffentlicht der Verlag
R. Piper & Co. in München in einer Reihe von Bänden wertvolles
Dostojewski‑Material. Der neueste Band dieser Serie führt den Titel
„Die Urgestalt der Brüder Karamasoff“ und wird von
René Fülöp‑Miller und Friedrich Eckstein herausgegeben.
Er enthält die handschriftlichen Entwürfe Dostojewskis zu den
Karamasoff, Briefe des Dichters über dieses Werk und sonstige
Quellen, Fragmente usw. Wie wertvoll und aufschlußreich derartiges
Material gerade für den Psychoanalytiker ist, braucht nicht besonders
hervorgehoben zu werden. Außer der ausführlichen Studie von Prof.
Komarowitsch in Moskau über das Meisterwerk Dostojewskis und
die neu aufgefundenen Materialien zu diesem ist dem Band eine
Abhandlung von Freud vorangestellt, die wir mit freundlicher
Genehmigung der Herausgeber und des Verlags R. Piper & Co. hier
zum Abdruck bringen.An der reichen Persönlichkeit Dostojewskis möchte man
vier Fassaden unterscheiden: Den Dichter, den Neurotiker,
den Ethiker und den Sünder. Wie soll man sich in der ver‑
wirrenden Komplikation zurechtfinden?Am Dichter ist am wenigsten Zweifel, er hat seinen Platz
nicht weit hinter Shakespeare. Die Brüder Karamasoff sind
der großartigste Roman, der je geschrieben wurde, die Epi-
sode des Großinquisitors eine der Höchstleistungen der Welt-
literatur, kaum zu überschätzen. Leider muß die Analyse vor
dem Problem des Dichters die Waffen strecken.Am ehesten angreifbar ist der Ethiker in Dostojewski.
Wenn man ihn als sittlichen Menschen hochstellen will, mit
der Begründung, daß nur der die höchste Stufe der Sittlich-
keit erreicht, der durch die tiefste Sündhaftigkeit gegangen
ist, so setzt man sich über ein Bedenken hinweg. Sittlich istS.
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jener, der schon auf die innerlich verspürte Versuchung
reagiert, ohne ihr nachzugeben. Wer abwechselnd sündigt
und dann in seiner Reue hohe sittliche Forderungen aufstellt,
der setzt sich dem Vorwurf aus, daß er sich’s zu bequem
gemacht hat. Er hat das Wesentliche an der Sittlichkeit, den
Verzicht, nicht geleistet, denn die sittliche Lebensführung ist
ein praktisches Menschheitsinteresse. Er erinnert an die Bar-
baren der Völkerwanderung, die morden und dafür Buße
tun, wo die Buße direkt eine Technik wird, um den Mord
zu ermöglichen. Iwan der Schreckliche benimmt sich auch
nicht anders; ja dieser Ausgleich mit der Sittlichkeit ist ein
charakteristisch russischer Zug. Auch ist das Endergebnis von
Dostojewskis sittlichem Ringen kein rühmliches. Nach den
heftigsten Kämpfen, die Triebansprüche des Individuums mit
den Forderungen der menschlichen Gemeinschaft zu versöh-
nen, landet er rückläufig bei der Unterwerfung unter die
weltliche wie unter die geistliche Autorität, bei der Ehrfurcht
vor dem Zaren und dem Christengott und bei einem eng-
herzigen russischen Nationalismus, eine Station, zu der
geringere Geister mit weniger Mühe gelangt sind. Hier ist der
schwache Punkt der großen Persönlichkeit. Dostojewski hat
es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu
werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt; die
kulturelle Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken
haben. Es läßt sich wahrscheinlich zeigen, daß er durch seine
Neurose zu solchem Scheitern verdammt wurde. Nach der
Höhe seiner Intelligenz und der Stärke seiner Menschenliebe
wäre ihm ein anderer, ein apostolischer Lebensweg eröffnet
gewesen.Dostojewski als Sünder oder Verbrecher zu betrachten ruft
ein heftiges Sträuben hervor, das nicht in der philiströsenS.
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Einschätzung des Verbrechers begründet zu sein braucht. Man
wird bald des wirklichen Motivs gewahr; für den Ver-
brecher sind zwei Züge wesentlich, die grenzenlose Eigen-
sucht und die starke destruktive Tendenz; beiden gemeinsam
und Voraussetzung für deren Äußerungen ist die Lieblosig-
keit, der Mangel an affektiver Wertung der (menschlichen)
Objekte. Man erinnert sich sofort an den Gegensatz hiezu
bei Dostojewski, an seine große Liebesbedürftigkeit und seine
enorme Liebesfähigkeit, die sich selbst in Erscheinungen der
Übergüte äußert und ihn lieben und helfen läßt, wo er selbst
das Recht zum Haß und zur Rache hatte, z. B. im Verhält-
nis zu seiner ersten Frau und ihrem Geliebten. Dann muß
man fragen, woher überhaupt die Versuchung rührt, Dosto-
jewski den Verbrechern zuzurechnen. Antwort: Es ist die
Stoffwahl des Dichters, die gewalttätige, mörderische, eigen-
süchtige Charaktere vor allen anderen auszeichnet, was auf
die Existenz solcher Neigungen in seinem Inneren hindeutet,
ferner einiges Tatsächliche aus seinem Leben, wie seine Spiel-
sucht, vielleicht der sexuelle Mißbrauch eines unreifen Mäd-
chens (Geständnis).1 Der Widerspruch löst sich durch die Ein-
sicht, daß der sehr starke Destruktionstrieb Dostojewskis, der
ihn leicht zum Verbrecher gemacht hätte, im Leben haupt-
sächlich gegen die eigene Person (nach innen anstatt nach
außen) gerichtet ist und so als Masochismus und Schuldgefühl
zum Ausdruck kommt. Seine Person behält immerhin genug1 Siehe die Diskussion hierüber in „Der unbekannte Dostojewski“ 1926. – Stefan
Zweig: Er macht nicht halt vor den Zäunen der bürgerlichen Moral und niemand weiß
genau zu sagen, wie weit er in seinem Leben die juristische Grenze überschritten, wieviel
von den verbrecherischen Instinkten seiner Helden in ihm selbst zur Tat geworden ist.
(„Drei Meister“ 1920.) Über die intimen Beziehungen zwischen Dostojewskis Gestalten
und seinen eigenen Erlebnissen siehe die Ausführungen René Fülöp‑Millers im
einleitenden Abschnitt zu „Dostojewski am Roulette“ 1925, die an Nikolai Strachoff
anknüpfen.S.
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sadistische Züge übrig, die sich in seiner Reizbarkeit, Quäl-
sucht, Intoleranz, auch gegen geliebte Personen, äußern und
noch in der Art, wie er als Autor seine Leser behandelt, zum
Vorschein kommen, also in kleinen Dingen Sadist nach
außen, in größeren Sadist nach innen, also Masochist, das
heißt der weichste, gutmütigste, hilfsbereiteste Mensch.Aus der Komplikation der Person Dostojewskis haben wir
drei Faktoren herausgeholt, einen quantitativen und zwei
qualitative: Die außerordentliche Höhe seiner Affektivität,
die perverse Triebanlage, die ihn zum Sado‑Masochisten oder
zum Verbrecher veranlagen mußte, und die unanalysierbare,
künstlerische Begabung. Dies Ensemble wäre sehr wohl ohne
Neurose existenzfähig; es gibt a nicht‑neurotische Vollmaso-
chisten. Nach dem Kräfteverhältnis zwischen den Trieb-
ansprüchen und den ihnen entgegenstehenden Hemmungen
(plus der verfügbaren Sublimierungswege) wäre Dostojewski
immer noch als ein sogenannter „triebhafter Charakter“ zu
klassifizieren. Aber die Situation wird getrübt durch die Mit-
anwesenheit der Neurose, die, wie gesagt, nicht unter diesen
Bedingungen unerläßlich wäre, aber doch um so eher zustande
kommt, je reichhaltiger die vom Ich zu bewältigende Kompli-
kation ist. Die Neurose ist doch nur ein Zeichen dafür, daß
dem Ich eine solche Synthese nicht gelungen ist, daß es
bei solchem Versuch seine Einheitlichkeit eingebüßt hat.Wodurch wird nun im strengen Sinne die Neurose er-
wiesen? Dostojewski nannte sich selbst und galt bei den
anderen als Epileptiker auf Grund seiner schweren, mit
Bewußtseinsverlust, Muskelkrämpfen und nachfolgender Ver-
stimmung einhergehenden Anfälle. Es ist nun überaus wahr-
scheinlich, daß diese sogenannte Epilepsie nur ein Symptom
seiner Neurose war, die demnach als Hysteroepilepsie, dasS.
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heißt als schwere Hysterie, klassifiziert werden müßte. Volle
Sicherheit ist aus zwei Gründen nicht zu erreichen, erstens,
weil die anamnestischen Daten über Dostojewskis sogenannte
Epilepsie mangelhaft und unzuverlässig sind, zweitens, weil
die Auffassung der mit epileptoiden Anfällen verbundenen
Krankheitszustände nicht geklärt ist.Zunächst zum zweiten Punkt. Es ist überflüssig, die ganze
Pathologie der Epilepsie hier zu wiederholen, die doch nichts
Entscheidendes bringt, doch kann man sagen: Immer hebt
sich noch als scheinbare klinische Einheit der alte Morbus sacer
hervor, die unheimliche Krankheit mit ihren unberechenbaren,
anscheinend nicht provozierten Krampfanfällen, der Charak-
terveränderung ins Reizbare und Aggressive und der pro-
gressiven Herabsetzung aller geistigen Leistungen. Aber an
allen Enden zerflattert dies Bild ins Unbestimmte. Die An-
fälle, die brutal auftreten, mit Zungenbiß und Harnent-
leerung, gehäuft zum lebensbedrohlichen Status epilepticus,
der schwere Selbstbeschädigung herbeiführt, können sich doch
ermäßigen zu kurzen Absenzen, zu bloßen rasch vorüber-
gehenden Schwindelzuständen, können sich ersetzen durch
kurze Zeiten, in denen der Kranke, wie unter der Herrschaft
des Unbewußten, etwas ihm Fremdartiges tut. Sonst in un-
faßbarer Weise rein körperlich bedingt, können sie doch ihre
erste Entstehung einem rein seelischen Einfluß (Schreck) ver-
dankt haben oder weiterhin auf seelische Erregungen reagie-
ren. So charakteristisch die intellektuelle Herabsetzung für
die übergroße Mehrzahl der Fälle sein mag, so ist doch
wenigstens ein Fall bekannt, in dem das Leiden intellektuelle
Höchstleistung nicht zu stören vermochte (Helmholtz).
(Andere Fälle, von denen das gleiche behauptet wurde, sind
unsicher oder unterliegen denselben Bedenken wie Dosto-S.
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jewski selbst.) Die Personen, die von der Epilepsie befallen
sind, können den Eindruck von Stumpfheit, behinderter Ent-
wicklung machen, wie doch das Leiden oft greifbarste Idiotie
und größte Hirndefekte begleitet, wenn auch nicht als not-
wendiger Bestandteil des Krankheitsbildes; aber diese An-
fälle finden sich mit allen ihren Variationen auch bei anderen
Personen vor, die eine volle seelische Entwicklung und eher
übergroße, meist ungenügend beherrschte Affektivität bekun-
den. Kein Wunder, daß man es unter diesen Umständen für
unmöglich findet, die Einheit einer klinischen Affektion
„Epilepsie“ festzuhalten. Was in der Gleichartigkeit der
geäußerten Symptome zum Vorschein kommt, scheint eine
funktionelle Auffassung zu fordern, als ob ein Mechanismus
der abnormen Triebabfuhr organisch vorgebildet wäre, der
unter ganz verschiedenen Verhältnissen in Anspruch genom-
men wird, sowohl bei Störungen der Gehirntätigkeit durch
schwere gewebliche und toxische Erkrankung als auch bei
unzulänglicher Beherrschung der seelischen Ökonomie, krisen-
haftem Betrieb der in der Seele wirkenden Energie. Hinter
dieser Zweiteilung ahnt man die Identität des zu Grunde
liegenden Mechanismus der Triebabfuhr. Derselbe kann auch
den Sexualvorgängen, die im Grunde toxisch verursacht sind,
nicht ferne stehen; schon die ältesten Ärzte nannten den
Koitus eine kleine Epilepsie, erkannten also im sexuellen Akt
die Milderung und Adaptierung der epileptischen Reizabfuhr.Die „epileptische Reaktion“, wie man dies Gemeinsame
nennen kann, stellt sich ohne Zweifel auch der Neurose zur
Verfügung, deren Wesen darin besteht, Erregungsmassen, mit
denen sie psychisch nicht fertig wird, auf somatischem Wege
zu erledigen. Der epileptische Anfall wird so ein Symptom
der Hysterie und von ihr adaptiert und modifiziert, ähnlichS.
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wie vom normalen Sexualablauf. Man hat also ganz recht,
eine organische von einer „affektiven“ Epilepsie zu unter-
scheiden. Die praktische Bedeutung ist die: wer die eine hat,
ist ein Gehirnkranker, wer die andere hat, ein Neurotiker.
Im ersteren Fall unterliegt das Seelenleben einer ihm fremden
Störung von außen, im anderen ist die Störung ein Ausdruck
des Seelenlebens selbst.Es ist überaus wahrscheinlich, daß Dostojewskis Epilepsie
von der zweiten Art ist. Strenge erweisen kann man es nicht,
man müßte denn imstande sein, das erste Auftreten und die
späteren Schwankungen der Anfälle in den Zusammenhang
seines seelischen Lebens einzureihen, und dafür weiß man zu
wenig. Die Beschreibungen der Anfälle selbst lehren nichts,
die Auskünfte über Beziehungen zwischen Anfällen und Er-
lebnissen sind mangelhaft und oft widersprechend. Am wahr-
scheinlichsten ist die Annahme, daß die Anfälle weit in Dosto-
jewskis Kindheit zurückgehen, daß sie zuerst durch mildere
Symptome vertreten waren und erst nach dem erschüttern-
den Erlebnis im achtzehnten Jahr, nach der Ermordung des
Vaters, die epileptische Form annahmen.2 Es wäre sehr pas-
send, wenn sich bewahrheitete, daß sie während der Strafzeit2 Vgl. hiezu den Aufsatz „Dostojewskis Heilige Krankheit“ von René Fülöp‑
Miller in „Wissen und Leben“ 1924, Heft 19/20. Besonderes Interesse erweckt die
Mitteilung, daß sich in des Dichters Kindheit „etwas Furchtbares, Unvergeßliches und
Qualvolles“ ereignet habe, auf das die ersten Anzeichen seines Leidens zurückzuführen
seien (Suworin in einem Artikel der „Nowoje Wremja“ 1881, nach dem Zitat in der
Einleitung zu „Dostojewski am Roulette“ p. XLV). Ferner Orest Miller in „Dosto-
jewskis autobiographische Schriften“: „Es gibt über die Krankheit Fjodor Michailowitschs
allerdings noch eine besondere Aussage, die sich auf seine früheste Jugend bezieht und
die Krankheit mit einem tragischen Fall in dem Familienleben der Eltern Dostojewskis in
Verbindung bringt. Doch obgleich mir diese Aussage von einem Menschen, der Fjodor
Michailowitsch sehr nahe stand, mündlich mitgeteilt worden ist, kann ich mich nicht ent-
schließen, da ich von keiner Seite eine Bestätigung dieses Gerüchts erhalten habe,
die erwähnte Angabe hier ausführlich und genau wiederzugeben“ (S. 140). Biographik und
Neurosenforschung können dieser Diskretion nicht zu Dank verpflichtet sein.S.
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in Sibirien völlig sistiert hätten, aber andere Angaben wider-
sprechen dem.3 Die unverkennbare Beziehung zwischen der
Vatertötung in den Brüdern Karamasoff und dem Schicksal
von Dostojewskis Vater ist mehr als einem Biographen auf-
gefallen und hat sie zu einem Hinweis auf eine „gewisse
moderne psychologische Richtung“ veranlaßt. Die psychoana-
lytische Betrachtung, denn diese ist gemeint, ist versucht, in
diesem Ereignis das schwerste Trauma und in Dostojewskis
Reaktion darauf den Angelpunkt seiner Neurose zu erkennen.Wenn ich es aber unternehme, diese Aufstellung psycho-
analytisch zu begründen, muß ich befürchten, allen denen
unverständlich zu bleiben, die mit den Ausdrucksweisen und
Lehren der Psychoanalyse nicht vertraut sind.Wir haben einen gesicherten Ausgangspunkt. Wir kennen
den Sinn der ersten Anfälle Dostojewskis in seinen jungen
Jahren lange vor dem Auftreten der „Epilepsie“. Diese An-
fälle hatten Todesbedeutung, sie wurden von Todesangst ein-
geleitet und bestanden in lethargischen Schlafzuständen. Als
plötzliche, grundlose Schwermut kam sie (die Krankheit) zu-
erst über ihn, da er noch ein Knabe war; ein Gefühl, so er-
zählte er später seinem Freunde Solowjoff, als ob er sogleich
sterben müßte; und tatsächlich folgte dann auch ein, dem
wirklichen Tode vollkommen ähnlicher Zustand … Sein Bru-
der Andree hat berichtet, daß Fedor schon in jungen Jahren
vor dem Einschlafen Zettelchen hinzulegen pflegte, er fürchte3 Die meisten Angaben, darunter Dostojewskis eigene Auskunft, behaupten vielmehr,
daß die Krankheit erst während der sibirischen Strafzeit ihren definitiven, epileptischen
Charakter angenommen habe. Leider hat man Grund, den autobiographischen Mitteilungen
der Neurotiker zu mißtrauen. Die Erfahrung zeigt, daß ihre Erinnerung Verfälschungen
unternimmt, die dazu bestimmt sind, einen unliebsamen Kausalzusammenhang zu zerreißen.
Doch scheint es gesichert, daß der Aufenthalt im sibirischen Kerker auch den Krankheits-
zustand Dostojewskis eingreifend verändert hat. Vgl. hiezu: „Dostojewskis Heilige Krank-
heit“ (S. 1186).S.
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in der Nacht in den scheintodähnlichen Schlaf zu verfallen
und bitte darum, man möge ihn erst nach fünf Tagen be-
erdigen lassen. („Dostojewski am Roulette“, Einleitung Seite LX.)Wir kennen den Sinn und die Absicht solcher Todesanfälle.
Sie bedeuten eine Identifizierung mit einem Toten, einer
Person, die wirklich gestorben ist, oder die noch lebt und der
man den Tod wünscht. Der letztere Fall ist der bedeutsamere.
Der Anfall hat dann den Wert einer Bestrafung. Man hat
einen anderen tot gewünscht, nun ist man dieser andere und
ist selbst tot. Hier setzt die psychoanalytische Lehre die Be-
hauptung ein, daß dieser Andere für den Knaben in der Regel
der Vater ist, der – hysterisch genannte – Anfall also eine
Selbstbestrafung für den Todeswunsch gegen den gehaßten
Vater.Der Vatermord ist nach bekannter Auffassung das Haupt‑
und Urverbrechen der Menschheit wie des Einzelnen.4 Er ist
jedenfalls die Hauptquelle des Schuldgefühls, wir wissen
nicht, ob die einzige; die Untersuchungen konnten den seeli-
schen Ursprung von Schuld und Sühnebedürfnis noch nicht
sicherstellen. Er braucht aber nicht die einzige zu sein. Die
psychologische Situation ist kompliziert und bedarf einer Erl-
äuterung. Das Verhältnis des Knaben zum Vater ist ein, wie
wir sagen, ambivalentes. Außer dem Haß, der den Vater als
Rivalen beseitigen möchte, ist regelmäßig ein Maß von Zärt-
lichkeit für ihn vorhanden. Beide Einstellungen treten zur
Vateridentifizierung zusammen, man möchte an Stelle des
Vaters sein, weil man ihn bewundert, so sein möchte wie er
und weil man ihn wegschaffen will. Diese ganze Entwicklung
stößt nun auf ein mächtiges Hindernis. In einem gewissen4 Siehe des Verf. „Totem und Tabu“ (Ges. Schriften, Bd. X).
S.
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Moment lernt das Kind verstehen, daß der Versuch, den
Vater als Rivalen zu beseitigen, von ihm durch die Kastration
gestraft werden würde. Aus Kastrationsangst, also im In-
teresse der Bewahrung seiner Männlichkeit, gibt es also den
Wunsch nach dem Besitz der Mutter und der Beseitigung des
Vaters auf. Soweit er im Unbewußten erhalten bleibt, bildet
er die Grundlage des Schuldgefühls. Wir glauben hierin
normale Vorgänge beschrieben zu haben, das normale Schick-
sal des sogenannten Ödipuskomplexes; eine wichtige Ergän-
zung haben wir allerdings noch nachzutragen.Eine weitere Komplikation stellt sich her, wenn beim Kinde
jener konstitutionelle Faktor, den wir die Bisexualität heißen,
stärker ausgebildet ist. Dann wird unter der Bedrohung der
Männlichkeit durch die Kastration die Neigung gekräftigt,
nach der Richtung der Weiblichkeit auszuweichen, sich viel-
mehr an die Stelle der Mutter zu setzen und ihre Rolle als
Liebesobjekt beim Vater zu übernehmen. Allein die Kastra-
tionsangst macht auch diese Lösung unmöglich. Man ver-
steht, daß man auch die Kastration auf sich nehmen muß,
wenn man vom Vater wie ein Weib geliebt werden will.
So verfallen beide Regungen, Vaterhaß wie Vaterverliebt-
heit, der Verdrängung. Ein gewisser psychologischer Unter-
schied besteht darin, daß der Vaterhaß aufgegeben wird in-
folge der Angst vor einer äußeren Gefahr (der Kastration);
die Vaterverliebtheit aber wird als innere Triebgefahr be-
handelt, die doch im Grunde wieder auf die nämliche äußere
Gefahr zurückgeht.Was den Vaterhaß unannehmbar macht, ist die Angst vor
dem Vater; die Kastration ist schrecklich, sowohl als Strafe
wie auch als Preis der Liebe. Von den beiden Faktoren, die
den Vaterhaß verdrängen, ist der erste, die direkte Straf‑ undS.
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Kastrationsangst, der normale zu nennen, die pathogene Ver-
stärkung scheint erst durch den anderen Faktor, die Angst
vor der femininen Einstellung, hinzuzukommen. Eine stark
bisexuelle Anlage wird so zu einer der Bedingungen oder
Bekräftigungen der Neurose. Eine solche ist für Dostojewski
sicherlich anzunehmen und zeigt sich in existenzmöglicher
Form (latente Homosexualität) in der Bedeutung von
Männerfreundschaften für sein Leben, in seinem sonderbar
zärtlichen Verhalten gegen Liebesrivalen und in seinem
ausgezeichneten Verständnis für Situationen, die sich nur durch
verdrängte Homosexualität erklären, wie viele Beispiele aus
seinen Novellen zeigen.Ich bedaure es, kann es aber nicht ändern, wenn diese Aus-
führungen über die Haß‑ und Liebeseinstellungen zum Vater
und deren Wandlungen unter dem Einfluß der Kastrations-
drohung dem der Psychoanalyse unkundigen Leser unschmack-
haft und unglaubwürdig erscheinen. Ich würde selbst erwar-
ten, daß gerade der Kastrationskomplex der allgemeinsten
Ablehnung sicher ist. Aber ich kann nur beteuern, daß die
psychoanalytische Erfahrung gerade diese Verhältnisse über
jeden Zweifel hinaushebt und uns in ihnen den Schlüssel zu
jeder Neurose erkennen heißt. Den müssen wir also auch an
der sogenannten Epilepsie unseres Dichters versuchen. So
fremd sind aber unserem Bewußtsein die Dinge, von denen
unser unbewußtes Seelenleben beherrscht wird. Mit dem bis-
her Mitgeteilten sind die Folgen der Verdrängung des Vater-
hasses im Ödipuskomplex nicht erschöpft. Es kommt als neu
hinzu, daß die Vateridentifizierung sich am Ende doch einen
dauernden Platz im Ich erzwingt. Sie wird ins Ich aufge-
nommen, stellt sich aber darin als eine besondere Instanz
dem anderen Inhalt des Ichs entgegen. Wir heißen sie dannS.
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das Über‑Ich und schreiben ihr, der Erbin des Eltern-
einflusses, die wichtigsten Funktionen zu.War der Vater hart, gewalttätig, grausam, so nimmt das
Über‑Ich diese Eigenschaften von ihm an und in seiner Rela-
tion zum Ich stellt sich die Passivität wieder her, die gerade
verdrängt werden sollte. Das Über‑Ich ist sadistisch geworden,
das Ich wird masochistisch, d. h. im Grunde weiblich passiv.
Es entsteht ein großes Strafbedürfnis im Ich, das teils als
solches dem Schicksal bereit liegt, teils in der Mißhandlung
durch das Über‑Ich (Schuldbewußtsein) Befriedigung findet.
Jede Strafe ist ja im Grunde die Kastration und als solche
Erfüllung der alten passiven Einstellung zum Vater. Auch
das Schicksal ist endlich nur eine spätere Vaterprojektion.Die normalen Vorgänge bei der Gewissensbildung müssen
so ähnlich sein, wie die hier dargestellten abnormen. Es ist
uns noch nicht gelungen, die Abgrenzung beider herzustellen.
Man bemerkt, daß hier der größte Anteil am Ausgang der
passiven Komponente der verdrängten Weiblichkeit zuge-
schrieben wird. Außerdem muß als akzidenteller Faktor be-
deutsam werden, ob der in jedem Fall gefürchtete Vater
auch in der Realität besonders gewalttätig ist. Dies trifft für
Dostojewski zu, und die Tatsache seines außerordentlichen
Schuldgefühls wie seiner masochistischen Lebensführung wer-
den wir auf eine besonders starke feminine Komponente zu-
rückführen. So ist die Formel für Dostojewski: ein besonders
stark bisexuell Veranlagter, der sich mit besonderer Intensität
gegen die Abhängigkeit von einem besonders harten Vater
wehren kann. Diesen Charakter der Bisexualität fügen wir zu
den früher erkannten Komponenten seines Wesens hinzu.
Das frühzeitige Symptom der „Todesanfälle“ läßt sich also
verstehen als eine vom Über‑Ich strafweise zugelassene Vater-
S.
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identifizierung des Ichs. Du hast den Vater töten wollen, um
selbst der Vater zu sein. Nun bist du der Vater, aber der tote
Vater; der gewöhnliche Mechanismus hysterischer Symptome.
Und dabei: jetzt tötet dich der Vater. Für das Ich ist das
Todessymptom Phantasiebefriedigung des männlichen Wun-
sches und gleichzeitig masochistische Befriedigung; für das
Über‑Ich Strafbefriedigung, also sadistische Befriedigung.
Beide, Ich und Über‑Ich, spielen die Vaterrolle weiter. – Im
ganzen hat sich die Relation zwischen Person und Vaterobjekt
bei Erhaltung ihres Inhalts in eine Relation zwischen Ich
und Über‑Ich gewandelt, eine Neuinszenierung auf einer
zweiten Bühne. Solche infantile Reaktionen aus dem Ödipus-
komplex mögen erlöschen, wenn die Realität ihnen keine
weitere Nahrung zuführt. Aber der Charakter des Vaters
bleibt derselbe, nein, er verschlechtert sich mit den Jahren und
so bleibt auch der Vaterhaß Dostojewskis erhalten, sein Todes-
wunsch gegen diesen bösen Vater. Nun ist es gefährlich, wenn
die Realität solche verdrängte Wünsche erfüllt. Die Phan-
tasie ist Realität geworden, alle Abwehrmaßregeln werden
nun verstärkt. Nun nehmen Dostojewskis Anfälle epilepti-
schen Charakter an, sie bedeuten gewiß noch immer die straf-
weise Vateridentifizierung, sind aber fürchterlich geworden
wie der schreckliche Tod des Vaters selbst. Welchen, insbe-
sondere sexuellen, Inhalt sie dazu noch aufgenommen haben,
entzieht sich dem Erraten.Eines ist merkwürdig: in der Aura des Anfalles wird ein
Moment der höchsten Seligkeit erlebt, der sehr wohl den
Triumph und die Befreiung bei der Todesnachricht fixiert
haben kann, auf den dann sofort die um so grausamere Strafe
folgte. So eine Folge von Triumph und Trauer, Festfreude
und Trauer, haben wir auch bei den Brüdern der Urhorde,
S.
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die den Vater erschlugen, erraten und finden ihn in der Zere-
monie der Totemmahlzeit wiederholt. Wenn es zutrifft, daß
Dostojewski in Sibirien frei von Anfällen war, so bestätigte
dies nur, daß seine Anfälle seine Strafe waren. Er brauchte
sie nicht mehr, wenn er anders gestraft war. Allein dies ist
unerweisbar. Eher erklärt diese Notwendigkeit der Strafe für
Dostojewskis seelische Ökonomie, daß er ungebrochen durch
diese Jahre des Elends und der Demütigungen hindurchging.
Dostojewskis seelische Ökonomie, daß er ungebrochen durch
ungerecht, er mußte das wissen, aber er akzeptierte die unver-
diente Strafe von Väterlichen Zar, als Ersatz für die Strafe,
die seine Sünde gegen den wirklichen Vater verdient hatte.
An Stelle der Selbstbestrafung ließ er sich vom Stellvertreter
des Vaters bestrafen. Man blickt hier ein Stück in die psycho-
logische Rechtfertigung der von der Gesellschaft verhängten
Strafen hinein. Es ist wahr, daß große Gruppen von Ver-
brechern nach der Strafe verlangen. Ihr Über‑Ich fordert sie,
erspart sich damit, sie selbst zu verhängen.Wer den komplizierten Bedeutungswandel hysterischer
Symptome kennt, wird verstehen, daß hier kein Versuch
unternommen wird, den Sinn der Anfälle Dostojewskis über
diesen Anfang hinaus zu ergründen.5 Genug, daß man an-
nehmen darf, ihr ursprünglicher Sinn sei hinter allen späteren
Überlagerungen verändert geblieben. Man darf sagen,
Dostjoweski ist niemals von der Gewissensbelastung durch5 Siehe „Totem und Tabu“. Die beste Auskunft über den Sinn und Inhalt seiner
Anfälle gibt Dostojewski selbst, wenn er seinem Freunde Strachoff mitteilt, daß seine
Reizbarkeit und Depression nach einem epileptischen Anfall darin begründet sei, daß er
sich als Verbrecher erscheine und das Gefühl nicht los werden könne, eine ihm unbekannte
Schuld auf sich geladen, eine große Missetat verübt zu haben, die ihn bedrücke („Dosto-
jewskis Heilige Krankheit“, S. 1188). In solchen Anklagen erblickt die Psychoanalyse ein
Stück Erkenntnis der „psychischen Realität“ und bemüht sich, die unbekannte Schuld dem
Bewußtsein bekannt zu machen.S.
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die Absicht des Vatermordes frei geworden. Sie hat auch
sein Verhalten zu den zwei anderen Gebieten bestimmt, auf
denen die Vaterrelation maßgebend ist, zur staatlichen Autori-
tät und zum Gottesglauben. Auf ersterem landete er bei der
vollen Unterwerfung unter Väterchen Zar, der in der Wirklichkeit
die Komödie der Tötung mit ihm einmal aufgeführt hatte,
welche ihm sein Anfall so oft vorzuspielen pflegte. Die Buße
gewann hier die Oberhand. Auf religiösem Gebiet blieb ihm
mehr Freiheit, nach anscheinend guten Berichten soll er bis
zum letzten Augenblick seines Lebens zwischen Gläubigkeit
und Atheismus geschwankt haben. Sein großer Intellekt
machte es ihm unmöglich, irgendeine der Denkschwierigkeiten,
zu denen die Gläubigkeit führt, zu übersehen. In individueller
Wiederholung einer welthistorischen Entwicklung hoffte er im
Christusideal einen Ausweg und eine Schuldbefreiung zu fin-
den, seine Leiden selbst als Anspruch auf eine Christusrolle
zu verwenden. Wenn er es im ganzen nicht zur Freiheit
brachte und Reaktionär wurde, so kam es daher, daß die all-
gemein menschliche Sohnesschuld, auf der sich das religiöse
Gefühl aufbaut, bei ihm eine überindividuelle Stärke erreicht
hatte und selbst seiner großen Intelligenz unüberwindlich
blieb. Wir setzen uns hier dem Vorwurf aus, daß wir die
Unparteilichkeit der Analyse aufgeben und Dostojewski Wer-
tungen unterziehen, die nur vom Parteistandpunkt einer ge-
wissen Weltanschauung berechtigt sind. Ein Konservativer
würde die Partei des Großinquisitors nehmen und anders
über Dostojewski urteilen. Der Vorwurf ist berechtigt, zu
seiner Milderung kann man nur sagen, daß die Entscheidung
Dostojewskis durch seine Denkhemmung infolge seiner Neu-
rose bestimmt erscheint.Es ist kaum ein Zufall, daß drei Meisterwerke der Literatur
S.
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aller Zeiten das gleiche Thema, das der Vatertötung, behan-
deln: Der König Ödipus des Sophokles, der Hamlet Shake-
speares und Dostojewskis Brüder Karamasoff. In allen
dreien ist auch das Motiv der Tat, die sexuale Rivalität um
das Weib, bloßgelegt. Am aufrichtigsten ist gewiß die Dar-
stellung im Drama, das sich der griechischen Sage anschließt.
Hier hat der Held noch selbst die Tat vollbracht. Aber ohne
Milderung und Verhüllung ist die poetische Bearbeitung nicht
möglich. Das nackte Geständnis der Absicht zur Vatertötung,
wie wir es in der Analyse erzielen, scheint ohne analytische
Vorbereitung unerträglich. Im griechischen Drama wird die
unerläßliche Abschwächung in meisterhafter Weise bei Erhal-
tung des Tatbestandes dadurch herbeigeführt, daß das un-
bewußte Motiv des Helden als ein ihm fremder Schicksals-
zwang ins Reale projiziert wird. Der Held begeht die Tat
unabsichtlich und scheinbar ohne Einfluß des Weibes, doch
wird diesem Zusammenhang Rechnung getragen, indem er
die Mutter Königin erst nach einer Wiederholung der Tat an
dem Ungeheuer, das den Vater symbolisiert, erringen kann.
Nachdem seine Schuld aufgedeckt, bewußt gemacht ist, er-
folgt kein Versuch, sie mit Berufung auf die Hilfskonstruk-
tion des Schicksalszwanges von sich abzuwälzen, sondern sie
wird anerkannt und wie eine bewußte Vollschuld bestraft,
was der Überlegung ungerecht erscheinen muß, aber psycho-
logisch vollkommen korrekt ist. Die Darstellung des englischen
Dramas ist indirekter, der Held hat die Handlung nicht selbst
vollbracht, sondern ein anderer, für den sie keinen Vatermord
bedeutet. Das anstößige Motiv der sexualen Rivalität beim
Weibe braucht darum nicht verschleiert zu werden. Auch den
Ödipuskomplex des Helden erblicken wir gleichsam im reflek-
tierten Licht, indem wir die Wirkung der Tat des anderen aufS.
ihn erfahren. Er iolltc die Tat räd1en, findet [ich in merk-
würdige: Weiie unfähig dazu. Wir willen, es in {ein Schuld-
gefühl, das ihn lähmr; in einer den neurotiichcn Vorgängen
durdmus gemäßen Well: wird das Sd1uldgefühl auf die
Wahrnehmung {einer Unzulänglid1keir zur Erfüllung dieier
Aufgabe Verfdwben. Es ergeben [ich Auzeid1en, daß der Held
die{e Schuld als eine überindividuelle empfindet. Er Ver-
achtet die anderen nidir minder als Edi. „Behandelt jeden
Menid'len nad; {einem Verdienfl, und wer ifl: vor Schlägen
fidier?“ In diefer Richtung geht der Roman des Rufien einen
Sdlritt weiter. Audi hier hat ein anderer den Mord voll-
brad1t, aber einer, der zu dem Ermorderen in der[elhen
Sohnesb=ziehung Rand wie der Held Dmitri, bei dem das
Motiv der iexuellen Rivalirär offen zugefl:andcn wird. ein
anderer Bruder, dem bemerkenswerterweife Doflojewski {eine
eigene Krankheit, die vermeintliche Epilepfie, angehängt lm,
als ob er gefleken wollte, der Epileptiker, Neurotiker in
mir in ein Vatcrmörder. Und nun folgt in dem Plaidoyer
vor dem Geriditshof der berühmte Sport auf die Piyd-mlogie,
lie {ei ein Stock mit zwei Enden. Eine großartige Verhülinng,
denn man braudlt fie nur umzukchren, um den tiefften Sinn
der Dofl;ojewskiid1eu Auffaflung zu finden. Nicht die Pfydm-
logie verdient den Spalt, [andern das geridzdidie Ermitt<
lungsverfahren, Es an ja gleidlgültig‚ wer die Tat wirklich
ausgeführt har, für die Pfydmlogie kommt es nur darauf an;
wer fie in ieiur.m Gefühl gewollt, und als fie gefd1ehen‚ will-
kommen geheißen hat, und darum find bis auf die Kontrafl-
figur des Aljofdu alle Brüder gleidz fdmldig, der triebhni‘te
Genußmen[dl‚ der ikepliidie Zyniker und der epileptifd1e
Verbrecher. In den Brüdern Keramaioff findet {ich eine für
Do&ojewski höehfi bezeidmende Szene. Der Starclz hat im25
S.
Geipr‘ädi mit Dmitri erkannt, daß er die Bereitidmfr zum
Vatermord in lid: trägt und wirft fid\ vor ihm nieder. Das
kann nidtt Au;drudr der Bewunderung (ein, es muß heißen,
daß der Heilige die Verfudmng, den Mörder zu veraduten
oder zu verabidieuen von fid1 weiß und (id: darum vor ihm
derniirigt. Dofhojewskis Sympathie fiir den Verbrecher in in
der Tat fdir3nkmlns‚ fie geht weit über das Mitleid hinaus,
auf das der Unglücklidme Aniprudl hai, erinnert an die heilige
Scheu, mit der das Al\mum den Epileptiker und den Geifles<
geflönen betrachtet lm, Der Verbrecher in; ihm fall: wie ein
Erlöfer, der die denld auf Edi genommen hat, die ionfl: die
anderen hätten tragen müfl'cn. Man brand-n nidir mehr zu
morden, n1d1dem er bereits gemordct hat, aber man muß ihm
dafiir dankbar fein, ion(l hätte man felbfl: morden müfien.
Das ifl: nid1t gütiges Mitleid allein, es in Identifizierung zuf
Grund der gleichen mörderifd'ien Impulle, :igentlidr ein um
ein geringes veridmbener Narzißrnus. Der cthiid]: Wert
die[er Güte full damit nid-rt be&ritten werden. Vielleid1t ifl;
dis iiberhzupt der Mechanismus der güdgcn Teilnahme am
anderen Menidien, den man in dern extremen Falle du vom
Sdmldbewußcfein beherridxten Did1ters beimders leid“
durdiidtäut. Kein Zweifel, daß did: Idcnüfilierungsiympa4
thie die Stoffwa.kl Doflojewskis enrfdieidend beflimmt hat.
Er hat aber zum-fl: den gemeinen Verbredler, — aus Eigen-
1udu‚ _ den politiid1en und religiölen Vcrbreduer behandeln
ehe er am End: (eines Lebens zum Urverbred1cr, zum Vater-
rnörder, zurüdrkehrte und an ihm {ein poetiidus Gefiändnis
ablegte.Die Veröffentlidmng feines Nfldilafies und der Tagebücher
(eine: Frau hat eine Epiiode [eins Lebens grell beleudilet,
die Zen„ da Doßojewski in Deutldzland von der Spieliud1t76
S.
beieileu war. („Doflojewski am Roulette“) Ein unverkenn-
barer Anfall von pathologilcl1er Lcideufchafc, der auch von
keiner Seite anders gewertet werden konnte. Es fehlte nid]!
an Rationalifienmgen für dies merkwürdige und unwürdige
Tun. Das Sd1uldgefiihl hatte lid], wie nidn (eltern bei Neu-
rorikern, eine greifbare Vertretung durch eine Sd1uldenlafl
gefd'iafft und Dofl:ojewski konnte vnrfdzützen, daß er {id:
durch den Spielgewinu die Müglidikeir erwerben wolle, nach
Rußland zurünkzukommen, ohne von feinen Gläubigem ein-
gefpern zu werden. Aber das war nur Vorwand, Doflojewski
war fd1arffinnig genug es zu erkennen und ehrlid: genug es
zu geflelien. Er wußte, die Hauptfad1e war das Spiel an und
fiir fid1‚ le in pour le jen.‘ Alle Einzelheiten feines rriebhaft
unfinnigen Benehmens beweii'en diee und nnd etwas anderes.
Er ruht: nie, ehe er nicht alles verloren hatte. Das Spiel war
ihm and] ein Weg zur Selbftbeflrafung. Er hatte ungez'il'ilte
Male der jungen Frau {ein Wort oder fein Ehrenwort ge-
geben, uidre mehr zu fpielen oder an dieiern Tag nidre mehr
zu ipieien und er brudi es, wie fie fagt, fait immer. Hatte er
durd1 Verlufle (ich und fie ins äußerfle Elend gebracht, [0
zog er daraus eine zweite pathologifd1e Befriedigung. Er
konnte {ich vor ihr befchimpfcn‚ demiitigeu, (ie auffordern,
ihn zu veradnten, zu hedauern, daß fie ihn einen Sünder
geheiratet, und nach diefer Entlafhmg des Gewil'lens ging
dies Spiel am nadirien Tag weiter. Und die junge Frau
gewöhnte (ich an dielen Zyklus, weil fie bemerkt baue, daß
dasjenige, von dem in Wirklichkeit allein die Rettung zu er-
warten war, die literariid1e Produktion, nie heller vor fitb6) ‚% Haupuedre isx das spiel sell>n', ;du-ieb er in einem sq'nn' Briefe. „Ida
udr„öee Ihnen, ex handel: ‚id-i delxi nidi um Hebgier, obwohl ich ii fm]idu ver diem
Geld nötig inne:27
S.
ging. als nadzdem fie alles verloren und ihre letzte Habe ver-
pfändet hatten. Sie verßand den Zufammenhang natürlidi
nicht. Wenn {ein Sd1uldgefühl durdz die Beftrafungen befrie-
digt war, die er felhfl über fidi verhängt hatte, dann ließ
{eine Arbeitshemmnng nadi, dann gefl:atlete er (ich, einige
Schritte auf dem Wege zum Erfolg zu tun.”Weldm Said; längfl vetfdiütteten Kinderlebcns [ich im
Spielzwang Wiederholung erzwingt. läßt lid: unfdnwer in
Anlehnung an eine Novelle eines jüngeren Did1rers ertaten.
Stefan Zweig, der übrigens Doflojewski lelbfl: eine Studie
gewidmet hat („Drei Meißer“), erzählt in feiner Sammlung
von drei Novellen „Die Verwirrung der Gefühle“, eine Ge-
ichichte, die er „Vietundzwanzig Stunden aus dem Leben
einer Frau" betitclt. Das kleine Meiflerwerk will angehlidl
nur darmn, ein wie unverantwortlid1es Velen das Weib ift,
zu Welchen es fell>{t überrafdrenden Uherlehreitungen es durdl
einen unerwarteten Lebenseindrudt gedrängt werden kann.
Allein die Novelle [age weit mehr, (lele ohne fald1e entlduul-
digende Tendenz etwas ganz anderes, allgemein Menfdilidies
oder vielmehr Männlidies dar, wenn man fie einer analy-
tifchen Deutung untenieht, und eine (Oldie Deutung if} ln
aufdringlidi nahe gelegt, daß man fie nid-n zbweilen kann.
Es il't bezeidmeud fiir die Natur des künfll=rilchen Sd13ffens,
daß der mit befreundet: Didlter auf Befragen verliehen“!
konnte, daß die ihm mitgeteilte Deutung [einem Willen und
{einer Ahficht völlig fremd gewelen (ei, obwohl in die
Erzählung ma.nd1e Demi]: =ingeflodztm find, die geradezu
here!-fine! icheinen, auf die geheime Spin hinzuweifen. In der7)lnnnthiehrrmllngelln3 histr=lletverlorenhteghixervulhfindig
ve.an duund. Nur wenn tidu du pn}. «ma; Inne. wid} a|dlidm du- Damon
van klagt Seele und überließ dan ldlöpfrnidlen Benin: den Plan. MFfilöp-
Mll|er‚ ‚Demoan am Rouktu' p. Lxxxvn73
S.
Novelle Zweig; erzähl: eine vornehme ältere Dame dem
Diärer ein Erlebnis, das fie vor mehr als zwanzig Jahren
betroffen hat. Früh verwicwet, Mutter zweier Söhne die fie
nicht mehr brand-nen, von allen Lebenserwmungen abge—
wendet, geriet & in ihrem zweiundvierzigllen Jahr auf einer
ihrer zweddofen Reifen in den Spiellaal des Kafinos von
Monaco und wurde unter all den merkwürdigen Eindrüdien
des Orrs bald von dem Anblick zweier Hände falzlnierr, die
alle Empfindungen des unglüd{ljcl1eu Spielers rnit erlcl1iittern<
der Aufridxtigkeit und Intenfirär zu verraten fdzienem Diele
Hände gehörten einem fdlönen Jüngljng, — der Didmer gibt
ihm wie abficlmtslos das Alter des erll:en Sohnes der Zu-
lclmuerin‚ — der, nachdem er alles verloren, in Lieffler Ver-
zweiflung den Saal verläßt, vorausfi&rtlida um im Park fein
hoffnungsloles Leben zu beenden. Eine unerklärliche Sympa-
thie zwingt fie, ihm zu folgen und alle Verluche zu {einer
Rettung zu unternehmen. Er hält fie für eine der am Ort io
zahlreichen zudxinglid1en Frauen und. will fie ablcl'1iitteln.
aber fie bleibt bei ihm und fiel-nr {ich auf die natürlicher
Weile genöu‘ge‚ (eine Unterkunft im Hotel und endlirh fein
Bett zu teilen. Ned; clieler improvifienaen Liebesnadzr läßt
fie {ich von dem anld-reinend beruhigten ]iingling unter den
felerlidzltcn Umfländen die Verficlzerung geben,-daß er nie
Wieder fpielen wird, [harter ihn mit Geld für die Heimreife
aus und verlpridnr, ihn nod1 vor Abgang des Zuges auf dem
Bahnhof zu treffen. Dann aber erwacht in ihr eine große
Zärtlidlkeir für ihn, fie will alles opfern, um ihn zu behalten.
belduließt‚ mit ihm zu reifen, auflatr von ihm Ahl'd'niecl zu
nehmen. Widrige Zufälljgkeiten halten fie auf, in deli fie den
Zug verläumt; in der Sehnlud'nt nach dem Versehwundenen
lacht fie den Spiell'aal wieder auf und findet dort entfctzt29
S.
die Hände wieder, die zuerll ihre Sympathie entzündeten;
der Pflichrvergefiene ill: zum Spiel zurüägel-rehrt. Sie mahnt
ll'ln an fein Verlpreärcu, aber von der Lcidenfdlaft belellen‚
ld1ile er lie Spielverderbcriu, heißt fie gehen und wirft ihr
das Geld hin1 rnit dem (ie ihn loskflufen wollte. In tieer
Beldxämung muß fie fliehen und kann fpärer in Erfahrung
bringen, daß es ihr nicht gelungen war, ihn vor dem Selb“:-
mord zu bewahren.Diele glänzend erzählte, lüdrenlos motivierte Geldiiehte ill
gewiß für lieh allein exil'tenzfähig und einer großen Wirkung
auf den lefer {läßt. Die Anilyle lehrt aber, daß ihre Erfin-
dung auf dem Urgrund einer Wnnldiphanralie der Puber—
tärszeit ruht, die bei mmdlen Pcrlonen lelblt als bewußt
erinnert wird. Die Phanufie lautet, die Mutter möge felbfl:
den jüngl.ing ins lexuelle Leben einführen, um ihn vor den
gefüräreten Sdiidl.idzkeiten der Onanie zu retten. Die 50
häufigen Erlölungsdidutungen haben denielben Urlprung.
Das „L=.lker" dcr Onnnie ill durch das der Spielluche erlerzß
die Beennung der leidenldnftl.idien Tätigkeit der Hände i&
für diele Ableitung verräncrildu. vi:kna; m die Spielwm
ein Kquivalenc des alten Onaniezwanges, mit keinem
anderen Won; als „Spielen“ ill in der Kinderflube die Benid-
gung da Hände am Geniale benannt werden. Die Unwider-
ßehlidikeir der Verludinng, die heiligen und dod1 ni:
gehaltenen Vorläue, es nie wieder zu rum die beräubende
Luft und das böle Gewiflen, man rirhre fi&x zugrunde
(Selbl'lmord), (im! bei der Erletzimg unverändert erhaan ge-
blieben. Die Zweigldie Novelle wird zwar von der Mutter,
nidu vom Sohne, erzählt. Es muß dem Sahne lchmcicheln
zu denken: wenn die Muller wiißce, in welche Gefahren
mieh die Onanie bringt, wiirde (ie midi gewiß durch die Ge-30
S.
üammg alle: Zärllid1keiren an ihrem eigenen Leib vor ihnen
retten. Die Gleichflellung der Mutter mit der Dirne. die der
]üngling in der Zweigfchen Novelle vollzieht, gehört in den
Zulanlmenhang derl'elben Phantafie. Sie macht die Unzugäng-
liche leid-n erreichbar; das böle Gewifien, das diele Phan-
rafie begleitet, letzt den fd11=dmn Ausgang der Dichtung
durch. Es ill auch intereilint zu bemerken, wie die der
Novelle vom Dldlter gegebene Faflade deren analytiid1en
Sinn zu verhüllen lud-m. Denn es ifl (ehr beflreirbar‚ daß du
Liebesleben der Frau von plötzlichen und rätlelhafren Im—
pulien beherrl'dn; wird. Die Auflyfe deckt vielmehr eine
zureirhende Motivietung für das überraldiende Benehmen
der bis dahin von der Liebe abgewandten Frau auf. Dem
Andenken ihres verlorenen Ehemannes getreu, hat fie {ich
gegen alle ihm ähnlidxen Anfprüche gewappnet, aber — darin
behält die Phantzfie des Sohnes Recht — einer ihr ganz
unbewußzen Liehesübertragung auf den Sohn war fie als
Mutter nicht entgangen, und an dieler unbewaduen Stelle
kann das Sé]ickhl fi: padsen. Wenn die Spieliucht mit ihren
erfolglolen Abgewöhnungskämpfen und ihren Gelegenheiben
zur Selbflbeflrafung eine Wiednholung des Omaniezwangß
ill, lo werden wir nid1t verwundert (ein, daß (ie fidz im
Leben Doßojewskis einen lo großen Raum erobert im. Wir
finden doch keinen Fall von fd1werer Neurnle, in dem die
autoerotifche Befriedigung der Frühzeit und der Pubertätszeit
nicht ihre Rolle gefpielt hätte, und die Beziehungen zwilchen
den Bemühungen, fie zu unterdrücken, und der Angft vor
dem Vater find zu {ehr bekannt, um mehr als einer Erwäl'k
nung zu bedürfen"e) ni: meinen der hier „.an Anridnrm sind mh i.. d„ 1913 mim„=„
«arm sank van m... Neuhlrl. .Dmmjemhi, üiue In „a...: p„.imm|„u
(lnngoßüuher, NL IV). „danke.-.31
S.
AlmanachDerPsychoanalyse1930
9
–31