Geleitwort 1919-071/1922
  • S.

    G E L E I T W O R T

    In den vorliegenden Blättern gelangen die Aufzeichnungen eines halb-
    flüggen Mädchens aus vornehm-bürgerlicher Familie zur Veröffentlichung. Ich
    weiß ihnen kein schöneres Geleite zu geben als die Worte, in die der Herr
    Professor Dr. Freud ihren Wert als Kulturdenkmal unserer Zeit in seinem
    Brief an mich vom 27. April 1915 faßte:

    „Das Tagebuch ist ein kleines Juwel. Wirklich, ich glaube, noch niemals
    hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in die Seelen-
    regungen hineinblicken können, welche die Entwicklung des Mädchens
    unserer Gesellschafts- und Kulturstufe in den Jahren der Vorpubertät
    kennzeichnen. Wie die Gefühle aus dem kindlich Egoistischen hervor-
    wachsen, bis sie die soziale Reife erreichen, wie die Beziehungen zu
    Eltern und Geschwistern zuerst aussehen und dann allmählich an Ernst
    und Innigkeit gewinnen, wie Freundschaften angesponnen und
    verlassen werden, die Zärtlichkeit nach ihren ersten Objekten tastet, und
    vor allem, wie das Geheimnis des Geschlechtslebens erst verschwommen
    auftaucht, um dann von der kindlichen Seele ganz Besitz zu nehmen,
    wie dieses Kind unter dem Bewußtsein seines geheimen Wissens Schaden
    leidet und ihn allmählich überwindet, das ist so reizend, natürlich und
    doch so ernsthaft in diesen kunstlosen Aufzeichnungen zum Ausdruck
    gekommen, daß es Erziehern und Psychologen das höchste Interesse
    einflößen muß.

    . . . Ich meine, Sie sind verpflichtet, das Tagebuch der Öffentlich-
    keit zu übergeben. Meine Leser werden Ihnen dafür dankbar sein . . .“

    Bei der Herausgabe dieser Blätter wurde nichts beschönigt, nichts dazu-
    getan oder weggelassen. Die Änderungen beziehen sich einzig auf die Un-
    kenntlichmachung der Personen durch die Wahl anderer Orts-, Familien-
    und Vornamen, durch die Verwischung all dessen, was Eingeweihte auf die Spur
    der Schreiberin führen könnte. Damit erfülle ich den Wunsch der Eignerin
    des Tagebuches, die mir diese Aufzeichnungen zu freier Verwendung im Dienste
    der Wissenschaft überließ.

    III

  • S.

    Es wurden auch die kleinen Unebenheiten des Stils und Verstöße gegen
    die Rechtschreibung beibehalten. Denn sie sind zum überwiegenden Teil nicht
    als Ausdruck kindlicher Unbeholfenheit in der Beherrschung des Wortes zu
    betrachten, sondern als Äußerungen affektuöser Strömungen, als echte Fehl-
    leistungen aus dem Wirken des Unbewußten zu werten.

    Wien, im Herbst 1919.

    DIE HERAUSGEBERIN

    IV