Dostojewski und die Vatertötung 1928-002/1928
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    Dostojewski und die Vatertôtung
     

    Von Professor Dr. Sigm. Freud
     

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    Dostojewski und die Vatertötung
     

    An der reichen Persönlichkeit Dostojewskis möchte man
    vier Fassaden unterscheiden: Den Dichter, den Neurotiker,
    den Ethiker und den Sünder. Wie soll man sich in der
    verwirrenden Komplikation zurechtfinden?
     

    Am Dichter ist am wenigſten Zweifel, er bat seinen Plas
    nicht weit hinter Shakespeare. Die Brüder Karamaſoff
    sind der großartigſte Noman, der se geschrieben wurde, die
    Epiſode des Großinquiſitors eine der Höchstleistungen der
    Weltliteratur, kaun zu überschäßen. Leider muß die Ana-
    lyse vor dem Problem des Dichters die Waffen strecken.
     

    Am ebesten angreifbar ist der Ethiker in Dostojewski.
    Wenn man ibn als sittlichen Menschen bochstellen will,
    mit der Begründung, daß nur der die höchste Stufe der
    Sittlichkeit erreicht, der durch die tiefste Sündhaftigkeit
    gegangen iſt, ſo ſeßt man sich über ein Bedenken binweg.
    Sittlich ist jener, der schon auf die innerlich verspürte
    Versuchung reagiert, ohne ihr nachzugeben. Wer abwech
    ſelnd fündigt und dann in seiner Neue hobe ſittliche For-
    derungen aufstellt, der seßt sich dem Vorwurf aus, daß
    er sich's zu bequem gemacht hat. Er hat das Wesentliche
    an der Sittlichkeit, den Verzicht, nicht geleistet, denn die
    fittliche Lebensführung ist ein praktisches Menschheitsinter
    effe. Er erinnert an die Barbaren der Völkerwanderung,
    die morden und dafür Buße tun, wo die Buße direkt eine
     

    < XIII >
     

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    Technik wird, um den Mord zu ermöglichen. Iwan der
     

    Schreckliche benimmt sich auch nicht anders; ja dieser Aus
    gleich mit der Sittlichkeit ist ein charakteristisch russischer
    Zug. Auch ist das Endergebnis von Dostojewskis ſittlichem
    Ringen kein rühmliches. Nach den heftigsten Kämpfen, die
    Triebansprüche des Individuums mit den Forderungen der
    menschlichen Gemeinschaft zu versöhnen, landet er rúd:
    läufig bei der Unterwerfung unter die weltliche wie unter
    die geistliche Autorität, bei der Ehrfurcht vor dem Zaren
    und dem Chriſtengott und bei einem engherzigen russi
    schen Nationalismus, eine Station, zu der geringere Geiſter
    mit weniger Mühe gelangt sind. Hier ist der schwache
    Punkt der großen Persönlichkeit. Dostojewski hat es ver
    säumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden,
    er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt; die kulturelle
    Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken haben.
    Es läßt sich wahrscheinlich zeigen, daß er durch seine Neu-
    rose zu solchem Scheitern verdammt wurde. Nach der
    Höhe seiner Intelligenz und der Stärke seiner Menschen-
    liebe wäre ihm ein anderer, ein apostolischer Lebensweg
    eröffnet gewesen.
     

    Dostojewski als Sünder oder Verbrecher zu betrachten
    ruft ein heftiges Strauben hervor, das nicht in der phi
    liströsen Einschätzung des Verbrechers begründet zu sein
    braucht. Man wird bald des wirklichen Motivs gewahr;
    für den Verbrecher sind zwei Züge wesentlich, die grenzen
    lose Eigensucht und die starke destruktive Tendenz; beiden
    gemeinsam und Voraussetzung für deren Äußerungen ist
    die Lieblosigkeit, der Mangel an affektiver Wertung der
    (menschlichen) Objekte. Man erinnert sich sofort an den
    Gegensatz hiezu bei Dostojewski, an seine große Liebes-
     

    ( XIV >
     

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    bedürftigkeit und seine enorme Liebesfähigkeit, die sich
    selbst in Erscheinungen der Übergüte äußert und ihn lie-
    ben und helfen läßt, wo er selbst das Recht zum Haß
    und zur Nache hatte, z. B. im Verhältnis zu seiner ersten
    Frau und ihrem Geliebten. Dann muß man fragen, woher
    überhaupt die Versuchung rührt, Dostojewski den Ver-
    brechern zuzurechnen. Antwort: Es ist die Stoffwahl des
    Dichters, die gewalttätige, mörderische, eigensüchtige Cha-
    raktere vor allen anderen auszeichnet, was auf die Eriſtenz
    solcher Neigungen in seinem Inneren hindeutet, ferner
    einiges Tatsächliche aus seinem Leben, wie seine Spiel-
    sucht, vielleicht der seruelle Mißbrauch eines unreifen Måd-
    chens (Geständnis)*. Der Widerspruch löst sich durch die
    Einsicht, daß der sehr starke Destruktionstrieb Doſto-
    jewskis, der ihn leicht zum Verbrecher gemacht håtte, im
    Leben hauptsächlich gegen die eigene Person (nach innen
    anstatt nach außen) gerichtet ist und so als Masochismus
    und Schuldgefühl zum Ausdruck kommt. Seine Person
    behålt immerhin genug sadistische Züge übrig, die sich in
    seiner Reizbarkeit, Quålsucht, Intoleranz, auch gegen ge=
    liebte Personen, äußern und noch in der Art, wie er als
    Autor seine Leser behandelt, zum Vorschein kommen,
    also in kleinen Dingen Sadist nach außen, in größeren Sa-
     

    *
     

    Siehe die Diskussion hierüber in »Der unbekannte Dostojewski«<
    1926. Stefan Zweig: Er macht nicht halt vor den Zäunen der
    bürgerlichen Moral und niemand weiß genau zu sagen, wie weit er
    in seinem Leben die juristische Grenze überschritten, wieviel von den
    verbrecherischen Instinkten seiner Helden in ihm selbst zur Tat ge=
    worden ist. (»Drei Meister« 1920.) Über die intimen Beziehungen
    zwischen Dostojewskis Gestalten und seinen eigenen Erlebnissen siehe
    die Ausführungen René Fülöp-Millers im einleitenden Abschnitt zu
    »Dostojewski am Roulette« 1925, die an Nikolai Strachoff anknüpfen.
     

    < XV >
     

  • S.

    diſt nach innen, also Masochist, das heißt der weichste,
    gutmütigſte, hilfsbereiteste Mensch.
     

    Aus der Komplikation der Person Dostojewskis haben
    wir drei Faktoren herausgeholt, einen quantitativen und
    zwei qualitative: Die außerordentliche Höhe seiner Affek-
    tivität, die perverse Triebanlage, die ihn zum Sado-Ma-
    sochisten oder zum Verbrecher veranlagen mußte und die
    unanalysierbare, künstlerische Begabung. Dies Ensemble
    wäre sehr wohl ohne Neurose existenzfähig, es gibt ja
    nicht neurotische Vollmasochisten. Nach dem Kräfteverhålt-
    nis zwischen den Triebansprüchen und den ihnen entgegen
    ſtehenden Hemmungen (plus der verfügbaren Sublimie-
    rungswege) wåre Dostojewski immer noch als ein so-
    genannter »triebhafter Charakter« zu klassifizieren. Aber
    die Situation wird getrübt durch die Mitanwesenheit der
    Neurose, die, wie gesagt, nicht unter diesen Bedingungen
    unerläßlich wäre, aber doch um so eher zustande kommt,
    je reichhaltiger die vom Ich zu bewältigende Kompli
    kation ist. Die Neurose ist doch nur ein Zeichen dafür,
    daß dem Ich eine solche Synthese nicht gelungen ist, daß
    es bei solchem Versuch seine Einheitlichkeit eingebüßt hat.
     

    Wodurch wird nun im strengen Sinne die Neurose
    erwiesen? Dostojewski nannte sich selbst und galt bei den
    anderen als Epileptiker auf Grund seiner schweren, mit
    Bewußtseinverlust, Muskelkråmpfen und nachfolgender Ver-
    stimmung einhergehenden Anfälle. Es ist nun überaus
    wahrscheinlich, daß diese sogenannte Epilepsie nur ein
    Symptom seiner Neurose war, die demnach als Hystero-
    epilepsie, das heißt als schwere Hysterie, klassifiziert wer-
    den müßte. Volle Sicherheit ist aus zwei Gründen nicht
    zu erreichen, erſtens, weil die anamnestischen Daten über
     

    < XVI >
     

  • S.

    Doftojewsfis jogenannte Epilepfie mangelhaft und un:
    zuverläffig find, zweitens, weil die Auffaffung der mit
    epileptoiden Anfällen verbundenen Krankheitszuftände nicht
    geklärt ift. |

    Zundchft zum zweiten Punft. Es ift überflüffig, die
    ganze Pathologie der Epilepfie bier zu wiederholen, die
    doch nichts Entfcheidendes bringt, doch kann man fagen:
    Ssmmer hebt fich noch als fcheinbare Elinifche Einheit der
    alte Morbus sacer hervor, die unheimliche Krankheit
    mit ihren unberechenbaren, anfcheimend nicht provozierten
    Krampfanfällen, der Charakterveränderung ins Reizbare
    und Nggreffive und der progrejjiven Herabjegung aller
    geiftigen Leiftungen. Aber an allen Enden zerflattert dies
    Bild ins Unbeftimmte. Die Anfälle, die brutal auftreten,
    mit Zungenbiß und Harnentleerung, gehäuft zum lebens-
    bedrohlichen Status epilepticus, der jchmwere Selbftbejch-
    digung herbeiführt, Fönnen fich doch ermäßigen zu Turzen
    Abfenzen, zu bloßen rafch vorübergehenden Schwindelzus
    ftänden, können fich erfegen durch Furze Zeiten, in denen
    der Kranke, wie unter der Herrfchaft des Unbewußten,
    etwas ihm Fremdartiges tut. Sonft in unfaßbarer Weıfe
    rein Förperlich bedingt, Fönnen fie doch ihre erfte Ent
    ftehung einem vein feelifchen Einfluß (Schred) verdankt
    haben oder weiterhin auf feelifche Erregungen reagieren.
    Sp harakteriftifch die intellektuelle Herabjegung für die
    übergroße Mehrzahl der Fälle fein mag, fo ft doch wer
    nigftens ein Fall befannt, in dem das Xeiden intellel-
    tuelle Höchftleiftung nicht zu ftören vermochte (Helmholß).
    (Andere Fälle, von denen das gleiche behauptet wurde,
    find umnficher oder unterliegen denfelben Bedenken wie

    Doftojervsfi felbft.) Die Perfonen, die von der Epilepfie

    b D., Die Brüder Raramafof ( XVII)

  • S.

    tom der Hysterie und von ihr adaptiert und modifiziert,
    áhnlich wie vom normalen Serualablauf. Man hat also ganz
    recht, eine organische von einer »affektiven«< Epilepsie zu
    unterscheiden. Die praktische Bedeutung ist die: wer die eine
    hat, ist ein Gehirnkranker, wer die andere hat, ein Neurotiker.
    Im ersteren Fall unterliegt das Seelenleben einer ihm frem-
    den Störung von außen, im anderen ist die Störung ein Aus-
    druck des Seelenlebens selbst.
     

    Es ist überaus wahrscheinlich, daß Dostojewskis Epilepsie
    von der zweiten Art ist. Strenge erweisen kann man es nicht,
    man müßte denn imstande sein, das erste Auftreten und die
    späteren Schwankungen der Anfälle in den Zusammenhang
    seines seelischen Lebens einzureihen, und dafür weiß man zu
    wenig. Die Beschreibungen der Anfälle selbst lehren nichts,
    die Auskünfte über Beziehungen zwischen Anfällen und Er-
    lebnissen sind mangelhaft und oft widersprechend. Am wahr-
    scheinlichsten ist die Annahme, daß die Anfälle weit in Dosto-
    jewskis Kindheit zurückgehen, daß sie zuerst durch mildere
    Symptome vertreten waren und erst nach dem erschüttern-
    den Erlebnis im achtzehnten Jahr, nach der Ermordung des
    Vaters, die epileptische Form annahmen*. Es wäre sehr pas-
     

    * Vgl. hiezu den Aufsatz »Dostojewskis Heilige Krankheit von
    René Fülöp-Miller in »Wissen und Leben« 1924, Heft 19/20. Be-
    sonderes Interesse erweckt die Mitteilung, daß sich in des Dichters
    Kindheit etwas Furchtbares, Unvergeßliches und Qualvolles« ereig
    net habe, auf das die ersten Anzeichen seines Leidens zurückzuführen
    seien (Sumorin in einem Artikel der »Nowoje Wremja« 1881, nach
    dem Zitat in der Einleitung zu »Dostojewski am Roulette« p. XLV).
    Ferner Orest Miller in »Dostojewskis autobiographische Schriften«:
    >>Es gibt über die Krankheit Fjodor Michailowitschs allerdings noch
    eine besondere Aussage, die sich auf seine früheste Jugend bezieht
    und die Krankheit mit einem tragischen Fall in dem Familienleben
     

    < XIX >
     

    b"
     

  • S.

    send, wenn sich bewahrheitete, daß sie während der Straf
    in Sibirien völlig sistiert håtten, aber andere Angaben wide
    ſprechen dem**. Die unverkennbare Beziehung zwiſchen be
    Vatertôtung in den Brüdern Karamasoff und dem Schicksa
    von Dostojewskis Vater ist mehr als einem Biographen auf
    gefallen und hat sie zu einem Hinweis auf eine »gewi
    moderne psychologiſche Richtung« veranlaßt. Die psychoanz
    lytische Betrachtung, denn diese ist gemeint, iſt verſucht, in
    diesem Ereignis das schwerste Trauma und in Dostojewskis
    Reaktion darauf den Angelpunkt seiner Neuroſe zu erkennen
     

    Wenn ich es aber unternehme, diese Aufstellung psyche
    analytisch zu begründen, muß ich befürchten, allen denen
    unverständlich zu bleiben, die mit den Ausdrucksweiſen und
    Lehren der Psychoanalyse nicht vertraut sind.
     

    Wir haben einen gesicherten Ausgangspunkt. Wir kennen
    den Sinn der ersten Anfälle Dostojewskis in seinen jungen
     

    der Eltern Dostojewskis in Verbindung bringt. Doch obgleich mit
    diese Aussage von einem Menschen, der Fjodor Michailowitsch sehr
    nahe stand, mündlich mitgeteilt worden ist, kann ich mich nicht ent
    ſchließen, da ich von keiner Seite eine Bestätigung dieses Gerüchts
    halten habe, die erwähnte Angabe hier ausführlich und genau wieder
    zugeben« (S. 140). Biographik und Neurosenforschung können diese
    Diskretion nicht zu Dank verpflichtet sein.
     

    ** Die meisten Angaben, darunter Dostojewskis eigene Auskunft,
    behaupten vielmehr, daß die Krankheit erst während der sibirischen
    Strafzeit ihren definitiven, epileptischen Charakter angenommen habe.
    Leider hat man Grund, den autobiographischen Mitteilungen der New
    rotiker zu mißtrauen. Die Erfahrung zeigt, daß ihre Erinnerung Ber
    fälschungen unternimmt, die dazu bestimmt sind, einen unliebſame
    Kausalzusammenhang zu zerreißen. Doch scheint es gesichert, daß de
    Aufenthalt im sibirischen Kerker auch den Krankheitszustand Dosto
    jewskis eingreifend verändert hat. Vgl. hiezu: »Dostojewskis Heilige
    Krankheit« (S. 1186).
     


     

  • S.

    Jahren lange vor dem Auftreten der »Epilepsie«. Diese An-
    fälle hatten Todesbedeutung, sie wurden von Todesangst ein-
    geleitet und bestanden in lethargischen Schlafzuſtånden. Als
    plötzliche, grundløse Schwermut kam sie (die Krankheit) zu-
    erst über ihn, da er noch ein Knabe war; ein Gefühl, ſo er-
    zählte er ſpåter seinem Freunde Solowjoff, als ob er sogleich
    ſterben müßte; und tatsächlich folgte dann auch ein, dem
    wirklichen Tode vollkommen ähnlicher Zustand... Sein Bru-
    der Andree hat berichtet, daß Fedor schon in jungen Jahren
    vor dem Einschlafen Zettelchen hinzulegen pflegte, er fürchte
    in der Nacht in den scheintodähnlichen Schlaf zu verfallen
    und bitte darum, man möge ihn erst nach fünf Tagen
    beerdigen lassen. (»Dostojewski am Roulette«<, Einleitung
    Seite LX)
     

    Wir kennen den Sinn und die Absicht solcher Todesanfälle.
    Sie bedeuten eine Identifizierung mit einem Toten, einer
    Person, die wirklich gestorben ist, oder die noch lebt und der
    man den Tod wünscht. Der letztere Fall ist der bedeutsamere.
    Der Anfall hat dann den Wert einer Bestrafung. Man hat
    einen anderen tot gewünscht, nun ist man dieser andere und
    iſt ſelbſt tot. Hier seht die psychoanalytische Lehre die Be-
    hauptung ein, daß dieser andere für den Knaben in der Regel
    der Vater ist, der – hyſteriſch genannte – Anfall alſo eine
    Selbstbestrafung für den Todeswunsch gegen den gehaßten
    Vater.
     

    Der Vatermord ist nach bekannter Auffassung das Haupt-
    und Urverbrechen der Menschheit wie des einzelnen*. Er ist
    jedenfalls die Hauptquelle des Schuldgefühls, wir wissen
    nicht, ob die einzige; die Untersuchungen konnten den ſeeliſchen
    Urſprung von Schuld und Sühnebedürfnis noch nicht sicher-
    Siehe des Verf. »Totem und Tabu«.
     

    *
     

    < XXI >
     

  • S.

    ſtellen. Er braucht aber nicht die einzige zu sein. Die pfyche
    logische Situation ist kompliziert und bedarf einer Erläute
    rung. Das Verhältnis des Knaben zum Vater ist ein, wie w
    jagen, ambwalentes. Außer dem Haß, der den Vater als
    Nwalen beseitigen möchte, iſt regelmäßig ein Maß von Zár
    lichkeit für ihn vorbanden. Beide Einstellungen treten sur
    Bateridentifizierung zuſammen, man möchte an Stelle des
    Baters sein, weil man ibn bewundert, so sein möchte wie er
    und weil man ibn wegfchaffen will. Diese ganze Entwicklung
    ſtößt nun auf ein mächtiges Hindernis. In einem gewissen
    Moment lernt das Kind versteben, daß der Versuch, den
    Water als Rivalen zu beseitigen, von ibm durch die Kastration
    gestraft werden würde. Aus Kastrationsangst, also im In
    tereffe der Bewabrung feiner Männlichkeit, gibt es.also den
    Wunsch nach dem Besis der Mutter und der Beseitigung des
    Baters auf. Soweit er im Unbewußten erbalten bleibt, bildet
    er die Grundlage des Schuldgefübls. Wir glauben bierin
    normale Vorgänge beschrieben zu baben, das normale Schicks
    fal des sogenannten Ödipuskompleres; eine wichtige Ergáns
    gung baben wir allerdings noch nachzutragen.
     

    Eine weitere Komplikation stellt sich ber, wenn beim Kinde
    jener konstitutionelle Faktor, den wir die Biserualität beißen,
    stärker ausgebildet ist. Dann wird unter der Bedrobung der
    Männlichkeit durch die Kastration die Neigung gekräftigt,
    nach der Nichtung der Weiblichkeit auszuweichen, sich viels
    mebr an die Stelle der Mutter zu setzen und ibre Rolle als
    Liebesobjekt beim Vater zu übernehmen. Allein die Kastra
    tionsangſt macht auch diese Lösung unmöglich. Man vers
    stebt, daß man auch die Kastration auf sich nebmen muß,
    wenn man vom Vater wie ein Weib geliebt werden will.
    So verfallen beide Regungen, Vaterbaß wie Waterverliebt
     

    (XXII >
     

  • S.

    heit, der Verdrängung. Ein gewisser psychologischer Unter-
    schied besteht darin, daß der Vaterhaß aufgegeben wird in-
    folge der Angst vor einer äußeren Gefahr (der Kastration);
    die Vaterverliebtheit aber wird als innere Triebgefahr be-
    handelt, die doch im Grunde wieder auf die nämliche äußere
    Gefahr zurückgeht.
     

    Was den Vaterhaß unannehmbar macht, ist die Angst vor
    dem Vater; die Kastration ist schrecklich, sowohl als Strafe
    wie auch als Preis der Liebe. Von den beiden Faktoren, die den
    Vaterhaß verdrången, ist der erste, die direkte Straf- und
    Kastrationsangst, der normale zu nennen, die pathogene Ver-
    stårkung scheint erst durch den anderen Faktor, die Angst
    vor der femininen Einstellung, hinzuzukommen. Eine stark
    biseruelle Anlage wird so zu einer der Bedingungen oder
    Bekräftigungen der Neurose. Eine solche ist für Dostojewski
    sicherlich anzunehmen und zeigt sich in existenzmöglicher
    Form (latente Homosexualität) in der Bedeutung von
    Männerfreundschaften für sein Leben, in seinem sonderbar
    zärtlichen Verhalten gegen Liebesrivalen und in seinem aus-
    gezeichneten Verständnis für Situationen, die sich nur durch
    verdrängte Homosexualität erklären, wie viele Beispiele aus
    seinen Novellen zeigen.
     

    Ich bedaure es, kann es aber nicht ändern, wenn diese Aus-
    führungen über die Haß- und Liebeseinstellungen zum Vater
    und deren Wandlungen unter dem Einfluß der Kastrations-
    drohung dem der Psychoanalyse unkundigen Leser unschmack-
    haft und unglaubwürdig erscheinen. Ich würde selbst erwar-
    ten, daß gerade der Kastrationskompler der allgemeinſten
    Ablehnung sicher ist. Aber ich kann nur beteuern, daß die
    psychoanalytische Erfahrung gerade diese Verhältnisse über
    jeden Zweifel hinaushebt und uns in ihnen den Schlüssel zu
     

    < XXIII >
     

  • S.

    jeder Neurose erkennen heißt. Den müſſen wir alſo auch an der
    sogenannten Epilepsie unseres Dichters verſuchen. So fremd
    sind aber unserem Bewußtsein die Dinge, von denen unser
    unbewußtes Seelenleben beherrscht wird. Mit dem bisher
    Mitgeteilten sind die Folgen der Verdrångung des Vater-
    haſſes im Ödipuskompler nicht erschöpft. Es kommt als neu
    hinzu, daß die Vateridentifizierung sich am Ende doch einen
    dauernden Platz im Ich erzwingt. Sie wird ins Ich aufge=
    nommen, stellt sich aber darin als eine besondere Instanz
    dem anderen Inhalt des Ichs entgegen. Wir heißen sie dann
    das Über-Ich und schreiben ihr, der Erbin des Elternein-
    flusses, die wichtigsten Funktionen zu.
     

    War der Vater hart, gewalttätig, grauſam, ſo nimmt das
    Über-Ich diese Eigenschaften von ihm an und in seiner Rela-
    tion zum Ich stellt sich die Passivität wieder her, die gerade
    verdrängt werden sollte. Das Über-Ich iſt ſadiſtiſch gewor
    den, das Ich wird masochistisch, d. h. im Grunde weiblich
    paſſiv. Es entſteht ein großes Strafbedürfnis im Ich, das
    teils als solches dem Schicksal bereit liegt, teils in der Miß-
    handlung durch das Über-Ich (Schuldbewußtsein) Befrie-
    digung findet. Jede Strafe ist ja im Grunde die Kastration
    und als solche Erfüllung der alten paſſiven Einstellung zum
    Vater. Auch das Schicksal iſt endlich nur eine ſpåtere Vater-
    projektion.
     

    Die normalen Vorgänge bei der Gewissensbildung müssen
    so ähnlich sein, wie die hier dargestellten abnormen. Es ist
    uns noch nicht gelungen, die Abgrenzung beider herzustellen.
    Man bemerkt, daß hier der größte Anteil am Ausgang der
    passiven Komponente, der verdrängten Weiblichkeit, zuge-
    schrieben wird. Außerdem muß als akzidenteller Faktor be-
    deutsam werden, ob der in jedem Fall gefürchtete Vater
     

    < XXIV >
     

  • S.

    auch in der Realität besonders gewalttätig ist. Dies trifft für
    Dostojewski zu, und die Tatsache seines außerordentlichen
    Schuldgefühls wie seiner masochistischen Lebensführung wer-
    den wir auf eine besonders starke feminine Komponente zu-
    rückführen. So ist die Formel für Dostojewski: ein besonders
    stark biseruell Veranlagter, der sich mit besonderer Intensität
    gegen die Abhängigkeit von einem besonders harten Vater
    wehren kann. Diesen Charakter der Biserualität fügen wir zu
    den früher erkannten Komponenten seines Wesens hinzu.
    Das frühzeitige Symptom der »Todesanfälle« läßt sich also
    verstehen als eine vom Über-Ich strafweise zugelassene Vater-
    identifizierung des Ichs. Du hast den Vater töten wollen, um
    selbst der Vater zu sein. Nun bist du der Vater, aber der tote
    Vater; der gewöhnliche Mechanismus hysterischer Symp
    tome. Und dabei: jezt tötet dich der Vater. Für das Ich ist
    das Todessymptom Phantasiebefriedigung des männlichen
    Wunsches und gleichzeitig masochistische Befriedigung; für
    das Über-Ich Strafbefriedigung, also sadistische Befriedigung.
    Beide, Ich und Über-Ich, spielen die Vaterrolle weiter. - Im
    ganzen hat sich die Relation zwischen Person und Vaterobjekt
    bei Erhaltung ihres Inhalts in eine Relation zwischen Ich
    und Über-Ich gewandelt, eine Neuinszenierung auf einer zwei-
    ten Bühne. Solche infantile Reaktionen aus dem Ödipus-
    kompler mögen erlöschen, wenn die Realität ihnen keine wei-
    tere Nahrung zuführt. Aber der Charakter des Vaters bleibt
    derselbe, nein, er verschlechtert sich mit den Jahren und so
    bleibt auch der Vaterhaß Dostojewskis erhalten, sein Todes-
    wunsch gegen diesen bösen Vater. Nun ist es gefährlich, wenn
    die Realität solche verdrängte Wünsche erfüllt. Die Phan-
    tasie ist Realität geworden, alle Abwehrmaßregeln werden
    nun verstärkt. Nun nehmen Dostojewskis Anfälle epilep-
     

    < XXV >
     

  • S.

    tischen Charakter an, sie bedeuten gewiß noch immer die straf
    weise Vateridentifizierung, sind aber fürchterlich geworden
    wie der schreckliche Tod des Vaters selbst. Welchen, insbe
    sondere sexuellen, Inhalt ſie dazu noch aufgenommen haben,
     

    11
     

    D
     

    entzieht sich dem Erraten.
     

    Eines iſt merkwürdig, in der Aura des Anfalles wird ein
    Moment der höchsten Seligkeit erlebt, der sehr wohl den
    Triumph und die Befreiung bei der Todesnachricht firiert
    haben kann, auf den dann sofort die um so grausamere Strafe
    folgte. So eine Folge von Triumph und Trauer, Feſtfreude
    und Trauer, haben wir auch bei den Brüdern der Urhorde,
    die den Vater erschlugen, erraten und finden ihn in der Zere:
    monie der Totemmahlzeit wiederholt. Wenn es zutrifft, daß
    Dostojewski in Sibirien frei von Anfållen war, so beſtätigte
    dies nur, daß seine Anfälle seine Strafe waren. Er brauchte
    sie nicht mehr, wenn er anders gestraft war. Allein dies iſt
    unerweisbar. Eher erklärt diese Notwendigkeit der Strafe für
    Dostojewskis seelische Ökonomie, daß er ungebrochen durch
    diese Jahre des Elends und der Demütigungen hindurch-
    ging. Dostojewskis Verurteilung als politischer Verbrecher
    war ungerecht, er mußte das wissen, aber er akzeptierte die
    unverdiente Strafe von Våterchen Zar, als Ersaz für die
    Strafe, die seine Sünde gegen den wirklichen Vater ver-
    dient hatte. An Stelle der Selbstbestrafung ließ er sich vom
    Stellvertreter des Vaters bestrafen. Man blickt hier ein Stück
    in die pſychologiſche Rechtfertigung der von der Gesellschaft
    verhängten Strafen hinein. Es iſt wahr, daß große Gruppen
    von Verbrechern nach der Strafe verlangen. Ihr Über-Ich
    fordert sie, erspart sich damit, sie selbst zu verhängen.
     

    Wer den komplizierten Bedeutungswandel hysterischer
    Symptome kennt, wird verstehen, daß hier kein Versuch
     

    < XXVI >
     

  • S.

    unternommen wird, den Sinn der Anfälle Dostojewskis über
    diesen Anfang hinaus zu ergründen*. Genug, daß man an-
    nehmen darf, ihr ursprünglicher Sinn sei hinter allen späteren
    Überlagerungen unverändert geblieben. Man darf sagen,
    Dostojewski ist niemals von der Gewissensbelastung durch
    die Absicht des Vatermordes frei geworden. Sie hat auch
    sein Verhalten zu den zwei anderen Gebieten bestimmt, auf
    denen die Vaterrelation maßgebend ist, zur staatlichen Autori-
    tåt und zum Gottesglauben. Auf ersterem landete er bei der
    vollen Unterwerfung unter Våterchen Zar, der in Wirklichkeit
    die Komödie der Tötung mit ihm einmal aufgeführt hatte,
    welche ihm sein Anfall so oft vorzuspielen pflegte. Die Buße
    gewann hier die Oberhand. Auf religiösem Gebiet blieb ihm
    mehr Freiheit, nach anscheinend guten Berichten soll er bis
    zum letzten Augenblick seines Lebens zwischen Gläubigkeit
    und Atheismus geschwankt haben. Sein großer Intellekt
    machte es ihm unmöglich, irgendeine der Denkschwierigkeiten,
    zu denen die Gläubigkeit führt, zu übersehen. In individueller
    Wiederholung einer welthistorischen Entwicklung hoffte er im
    Christusideal einen Ausweg und eine Schuldbefreiung zu
    finden, seine Leiden selbst als Anspruch auf eine Christusrolle
    zu verwenden. Wenn er es im ganzen nicht zur Freiheit
     

    Siehe »Totem und Tabu«. Die beste Auskunft über den Sinn
    und Inhalt seiner Anfälle gibt Dostojewski selbst, wenn er seinem
    Freunde Strachoff mitteilt, daß seine Reizbarkeit und Depression
    nach einem epileptischen Anfall darin begründet sei, daß er sich als
    Verbrecher erscheine und das Gefühl nicht los werden könne, eine ihm
    unbekannte Schuld auf sich geladen, eine große Missetat verübt zu
    haben, die ihn bedrücke (»Dostojewskis Heilige Krankheit« S. 1188).
    In solchen Anklagen erblickt die Psychoanalyse ein Stück Erkenntnis
    der »psychischen Realität« und bemüht sich, die unbekannte Schuld
    dem Bewußtsein bekannt zu machen.
     

    < XXVII >
     

  • S.

    brachte und Reaktionär wurde, ſo kam es daber, daß die all
    gemein menschliche Sobnesschuld, auf der sich das religije
    Gefübl aufbaut, bei ihm eine überindividuelle Stärke erreicht
    batte und selbst seiner großen Intelligenz unüberwindlich
    blieb. Wir ſeßen uns bier dem Vorwurf aus, daß wir die
    Unparteilichkeit der Analyſe aufgeben und Dostojewski Ber
    rungen unterzieben, die mir vom Varteiſtandpunkt einer ge
    wiſſen Weltanschauung berechtigt find. Ein Konservativer
    würde die Partei des Großinquifitors nehmen und anders
    über Dostojewski urteilen. Der Vorwurf ist berechtigt, zu
    ſeiner Milderung kann man nur ſagen, daß die Entscheidung
    Dostojewskis durch seine Denkbemmung infolge seiner New
    rose bestimmt erscheint.
     

    Es ist kaum ein Zufall, daß drei Meisterwerke der Literatur
    aller Zeiten das gleiche Thema, das der Vatertötung, beban
    deln: Der König Ödipus des Sophokles, der Hamlet Shake
    speares und Dostojewskis Brüder Karamaſoff. In allen
    dreien ist auch das Motiv der Tat, die seruale Nivalität um
    das Weib, bloßgelegt. Am aufrichtigsten ist gewiß die Dar
    ſtellung im Drama, das sich der griechischen Sage anschließt.
    Hier hat der Held noch selbst die Tat vollbracht. Aber ohne
    Milderung und Verbúllung ist die poetische Bearbeitung nicht
    möglich. Das nackte Geständnis der Absicht zur Vatertôtung,
    wie wir es in der Analyse erzielen, scheint obne analytische
    Vorbereitung unerträglich. Im griechischen Drama wird die
    unerläßliche Abschwächung in meisterbafter Weise bei Er-
    haltung des Tatbestandes dadurch herbeigeführt, daß das un-
    bewußte Motiv des Helden als ein ihm fremder Schicksals-
    zwang ins Reale projiziert wird. Der Held begeht die Tat
    unabsichtlich und scheinbar ohne Einfluß des Weibes, doch
    wird diesem Zusammenhang Rechnung getragen, indem er
     


     

  • S.

    die Mutter Königin erst nach einer Wiederholung der Tat an
    dem Ungeheuer, das den Vater symbolisiert, erringen kann.
    Nachdem seine Schuld aufgedeckt, bewußt gemacht ist, er-
    folgt kein Versuch, sie mit Berufung auf die Hilfskonſtruk-
    tion des Schicksalszwanges von sich abzuwälzen, sondern sie
    wird anerkannt und wie eine bewußte Vollschuld bestraft,
    was der Überlegung ungerecht erscheinen muß, aber psycho-
    logisch vollkommen korrekt ist. Die Darstellung des englischen
    Dramas ist indirekter, der Held hat die Handlung nicht selbst
    vollbracht, sondern ein anderer, für den sie keinen Vatermord
    bedeutet. Das anstößige Motiv der serualen Rivalität beim
    Weibe braucht darum nicht verschleiert zu werden. Auch den
    Ödipuskompler des Helden erblicken wir gleichsam im reflek-
    tierten Licht, indem wir die Wirkung der Tat des anderen auf
    ihn erfahren. Er sollte die Tat råchen, findet sich in merk-
    würdiger Weise unfähig dazu. Wir wissen, es ist sein Schuld-
    gefühl, das ihn lähmt; in einer den neurotischen Vorgången
    durchaus gemäßen Weise wird das Schuldgefühl auf die
    Wahrnehmung seiner Unzulänglichkeit zur Erfüllung dieser
    Aufgabe verschoben. Es ergeben sich Anzeichen, daß der Held
    diese Schuld als eine überindividuelle empfindet. Er ver-
    achtet die anderen nicht minder als sich. »Behandelt jeden
    Menschen nach seinem Verdienst, und wer ist vor Schlägen
    sicher?« In dieser Richtung geht der Roman des Nussen einen
    Schritt weiter. Auch hier hat ein anderer den Mord voll-
    bracht, aber einer, der zu dem Ermordeten in derselben
    Sohnesbeziehung stand wie der Held Dmitri, bei dem das
    Motiv der seruellen Rivalitat offen zugestanden wird, ein
    anderer Bruder, dem bemerkenswerterweise Dostojewski seine
    eigene Krankheit, die vermeintliche Epilepsie, angehängt
    hat, als ob er gestehen wollte, der Epileptiker, Neurotiker,
     

    < XXIX >
     

  • S.

    in mir ist ein Vatermorder. Und nun folgt in dem Plaidoye
    vor dem Gerichtshof der berühmte Spott auf die Psychologie,
    sie sei ein Stock mit zwei Enden. Eine großartige Verhüllung,
     

    denn man braucht sie nur umzukehren, um den tiefsten Sim
    der Dostojewskischen Auffassung zu finden. Nicht die Psyche
    logie verdient den Spott, sondern das gerichtliche Ermitt
    lungsverfahren. Es ist ja gleichgültig, wer die Tat wirklich
    ausgeführt hat, für die Psychologie kommt es nur darauf an,
    wer sie in seinem Gefühl gewollt, und als sie geschehen, will
    kommen geheißen hat, und darum sind bis auf die Kontrast
    figur des Aljoscha alle Brüder gleich schuldig, der triebhafte
    Genußmensch, der skeptische Zyniker und der epileptische Ver
    brecher. In den Brüdern Karamasoff findet sich eine für
    Dostojewski höchst bezeichnende Szene. Der Stareh hat im
    Gespräch mit Dmitri erkannt, daß er die Bereitschaft zum
    Vatermord in sich trågt und wirft sich vor ihm nieder. Das
    kann nicht Ausdruck der Bewunderung sein, es muß heißen,
    daß der Heilige die Versuchung, den Mörder zu verachten oder
    zu verabscheuen von sich weist und sich darum vor ihm
    demütigt. Dostojewskis Sympathie für den Verbrecher ist in
    der Tat schrankenlos, sie geht weit über das Mitleid hinaus,
    auf das der Unglückliche Anspruch hat, erinnert an die heilige
    Scheu, mit der das Altertum den Epileptiker und den Geistes-
    gestörten betrachtet hat. Der Verbrecher ist ihm fast wie ein
    Erlöser, der die Schuld auf sich genommen hat, die sonst
    die anderen håtten tragen müssen. Man braucht nicht mehr
    zu morden, nachdem er bereits gemordet hat, aber man muß
    ihm dafür dankbar sein, sonst håtte man selbst morden
    müssen. Das ist nicht gütiges Mitleid allein, es ist Identi
    fizierung auf Grund der gleichen mörderischen Impulse,
    eigentlich ein um ein geringes verschobener Narzißmus. Der
     

    < XXX >
     

  • S.

    ethische Wert dieser Güte soll damit nicht bestritten werden.
    Vielleicht ist dies überhaupt der Mechanismus der gütigen
    Teilnahme am anderen Menschen, den man in dem extremen
    Falle des vom Schuldbewußtsein beherrschten Dichters be=
    sonders leicht durchschaut. Kein Zweifel, daß diese Identi
    fizierungssympathie die Stoffwahl Dostojewskis entſcheidend
    bestimmt hat. Er hat aber zuerst den gemeinen Verbrecher -
    aus Eigensucht, den politischen und religiösen Verbrecher
    behandelt, ehe er am Ende seines Lebens zum Urverbrecher,
    zum Vatermörder, zurückkehrte und an ihm sein poetisches
    Geständnis ablegte.
     

    Die Veröffentlichung seines Nachlasses und der Tage-
    bücher seiner Frau hat eine Episode seines Lebens grell be-
    leuchtet, die Zeit, da Dostojewski in Deutschland von der
    Spielsucht besessen war. (»Dostojewski am Roulette.<<) Ein
    unverkennbarer Anfall von pathologischer Leidenschaft, der
    auch von keiner Seite anders gewertet werden konnte. Es
    fehlte nicht an Rationalisierungen für dies merkwürdige und
    unwürdige Tun. Das Schuldgefühl hatte sich, wie nicht selten
    bei Neurotikern, eine greifbare Vertretung durch eine Schul-
    denlast geschafft und Dostojewski konnte vorschüßen, daß er
    sich durch den Spielgewinn die Möglichkeit erwerben wolle,
    nach Rußland zurückzukommen, ohne von seinen Gläubigern
    eingesperrt zu werden. Aber das war nur Vorwand, Dosto-
    jewski war scharfsinnig genug es zu erkennen und ehrlich ge-
    nug es zu gestehen. Er wußte, die Hauptsache war das Spiel
    an und für sich, le jeu pour le jeu*. Alle Einzelheiten
    ſeines triebhaft unsinnigen Benehmens beweisen dies und
     

    »Die Hauptsache ist das Spiel selbst«<, schrieb er in einem seiner
    Briefe. »Ich schwöre Ihnen, es handelt sich dabei nicht um Habgier,
    obwohl ich ja freilich vor allem Geld nötig hatte.<<
     

    XXXI >
     

  • S.

    noch etwas anderes. Er ruhte nie, ehe er nicht alles verlore
    hatte. Das Spiel war ihm auch ein Weg zur Selbſtbeſter
    fung. Er hatte ungezählte Male der jungen Frau ſein Ber
    oder ſein Ehrenwort gegeben, nicht mehr zu ſpielen oder
    diesem Tag nicht mehr zu spielen und er brach es, wie s
    ſagt, faſt immer. Hatte er durch Verluſte ſich und sie im
    äußerste Elend gebracht, so zog er daraus eine zweite pathe
    logische Befriedigung. Er konnte sich vor ihr beschimpfen,
    demütigen, ſie auffordern, ihn zu verachten, zu bedauern,
    daß sie ihn alten Sünder geheiratet, und nach dieser Ent
    laſtung des Gewiſſens ging dies Spiel am nächſten La
    weiter. Und die junge Frau gewöhnte sich an diesen Zyklus,
    weil sie gemerkt hatte, daß dasjenige, von dem in Wirklic
    keit allein die Rettung zu erwarten war, die literarische Pre
    duktion, nie besser vor sich ging, als nachdem sie alles ver
    loren und ihre lehte Habe verpfändet hatten. Sie verstand
    den Zusammenhang natürlich nicht. Wenn sein Schuldgefühl
    durch die Bestrafungen befriedigt war, die er ſelbſt über ſich
    verhängt hatte, dann ließ seine Arbeitshemmung nach, dann
    geſtattete er sich, einige Schritte auf dem Wege zum Erfolg
    zu tun**.
     

    Welches Stück längst verschütteten Kinderlebens sich im
    Spielzwang Wiederholung erzwingt, läßt sich unschwer in
    Anlehnung an eine Novelle eines jüngeren Dichters erraten.
    Stefan Zweig, der übrigens Dostojewski selbst eine Studie
    gewidmet hat (»Drei Meiſter«), erzählt in ſeiner Sammlung
     

    Immer blieb er so lange am Spieltisch, bis er alles verloren
    hatte, bis er vollständig vernichtet dastand. Nur wenn sich das Un-
    heil ganz erfüllt hatte, wich endlich der Damon von seiner Seele
    und überließ dem schöpferischen Genius den Plas. (René Fülöp-Mil-
    ler, »Dostojewski am Roulette« p. LXXXVI.)
     


     

  • S.

    von drei Novellen »Die Verwirrung der Gefühle«, eine Ge
    schichte, die er »Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben
    einer Frau« betitelt. Das kleine Meisterwerk will angeblich
    nur dartun, ein wie unverantwortliches Wesen das Weib ist,
    zu welchen es selbst überraschenden Überschreitungen es
    durch einen unerwarteten Lebenseindruck gedrängt werden
    kann. Allein die Novelle ſagt weit mehr, stellt ohne solche
    entschuldigende Tendenz etwas ganz anderes, allgemein
    Menschliches oder vielmehr Männliches dar, wenn man sie
    einer analytischen Deutung unterzieht, und eine solche Deu-
    tung ist so aufdringlich nahe gelegt, daß man sie nicht ab-
    weisen kann. Es ist bezeichnend für die Natur des künstle
    rischen Schaffens, daß der mir befreundete Dichter auf Be-
    fragen versichern konnte, daß die ihm mitgeteilte Deutung
    seinem Wissen und seiner Absicht völlig fremd gewesen sei, ob-
    wohl in die Erzählung manche Details eingeflochten sind, die
    geradezu berechnet scheinen, auf die geheime Spur hinzuweiſen.
    In der Novelle Zweigs erzählt eine vornehme ältere Dame
    dem Dichter ein Erlebnis, daß sie vor mehr als zwanzig
    Jahren betroffen hat. Früh verwitwet, Mutter zweier Söhne,
    die sie nicht mehr brauchten, von allen Lebenserwartungen ab-
    gewendet, geriet sie in ihrem zweiundvierzigsten Jahr auf
    einer ihrer zwecklosen Reisen in den Spielsaal des Kasinos
    von Monako und wurde unter all den merkwürdigen Ein-
    drücken des Orts bald von dem Anblick zweier Hände faszi-
    niert, die alle Empfindungen des unglücklichen Spielers
    mit erschütternder Aufrichtigkeit und Intensität zu verraten
    schienen. Diese Hånde gehörten einem schönen Jüngling-der
    Dichter gibt ihm wie absichtslos das Alter des ersten Sohnes
    der Zuschauerin -, der, nachdem er alles verloren, in tiefster
    Verzweiflung den Saal verläßt, voraussichtlich um im Park
     

    c D., Die Brüder Karamasoff XXXIII >
     

  • S.

    sein hoffnungsloses Leben zu beenden. Eine unerklärlid
    Sympathie zwingt sie, ihm zu folgen und alle Versuche s
    seiner Rettung zu unternehmen. Er hålt sie für eine der am
     

    Ort so zahlreichen zudringlichen Frauen und will sie ch
    schütteln, aber sie bleibt bei ihm und sieht sich auf die natir
    lichste Weise genötigt, seine Unterkunft im Hotel und en
    lich sein Bett zu teilen. Nach dieser improviſierten Liebesnacht
    läßt sie sich von dem anscheinend beruhigten Jüngling unth
    den feierlichsten Umständen die Versicherung geben, daß n
    nie wieder spielen wird, stattet ihn mit Geld für die Heim
    reiſe aus und verspricht, ihn noch vor Abgang des Zuges auf
    dem Bahnhof zu treffen. Dann aber erwacht in ihr eine
    große Zärtlichkeit für ihn, sie will alles opfern, um ihn zu
    behalten, beschließt, mit ihm zu reisen, anstatt von ihm Ab
    schied zu nehmen. Widrige Zufälligkeiten halten sie auf,
    so daß sie den Zug versäumt, in der Sehnsucht nach dem
    Verschwundenen sucht sie den Spielſaal wieder auf und fin
    det dort entsetzt die Hånde wieder, die zuerst ihre Sympathic
    entzündeten; der Pflichtvergessene ist zum Spiel zurückgekehrt.
    Sie mahnt ihn an sein Versprechen, aber von der Leiden-
    schaft besessen, schilt er sie Spielverderberin, heißt sie gehen
    und wirft ihr das Geld hin, mit dem sie ihn loskaufen wollte.
    In tiefster Beschämung muß sie fliehen und kann ſpåter in
    Erfahrung bringen, daß es ihr nicht gelungen war, ihn vor
    dem Selbstmord zu bewahren.
     

    Diese glänzend erzählte, lückenlos motivierte Geschichte
    iſt gewiß für sich allein eriſtenzfähig und einer großen Wir-
    kung auf den Leser sicher. Die Analyse lehrt aber, daß ihre
    Erfindung auf dem Urgrund einer Wunschphantasie der
    Pubertätszeit ruht, die bei manchen Personen selbst als be:
    wußt erinnert wird. Die Phantasie lautet, die Mutter möge
     

    < XXXIV >
     

  • S.

    ſelbſt den Jüngling ins sexuelle Leben einführen, um ihn
    vor den gefürchteten Schädlichkeiten der Onanie zu retten.
    Die so häufigen Erlösungsdichtungen haben denselben Ur-
    sprung. Das »Laster« der Onanie ist durch das der Spiet
    sucht ersetzt, die Betonung der leidenschaftlichen Tätigkeit der
    Hånde ist für diese Ableitung verråterisch. Wirklich ist die
    Spielwut ein Äquivalent des alten Onaniezwanges, mit kei-
    nem anderen Wort als »Spielen« ist in der Kinderstube die
    Betätigung der Hånde am Genitale benannt worden. Die
    Unwiderstehlichkeit der Versuchung, die heiligen und doch
    nie gehaltenen Vorsätze, es nie wieder zu tun, die betäubende
    Luſt und das böse Gewissen, man richte sich zugrunde (Selbſt-
    mord) sind bei der Ersehung unverändert erhalten geblie
    ben. Die Zweigsche Novelle ist vom Standpunkt der Mutter,
    nicht des Sohnes, erzählt. Es mag dem Sohne schmeicheln
    zu denken: wenn die Mutter wüßte, in welche Gefahren mich
    die Onanie bringt, würde sie mich gewiß durch die Gestattung
    aller Zärtlichkeiten an ihrem eigenen Leib vor ihnen retten.
    Die Gleichstellung der Mutter mit der Dirne, die der Jung-
    ling in der Zweigschen Novelle vollzieht, gehört in den Zu-
    sammenhang derselben Phantasie. Sie macht die Unzugång-
    liche leicht erreichbar; das böse Gewissen, das diese Phan-
    tasie begleitet, setzt den schlechten Ausgang der Dichtung
    durch. Es iſt auch interessant zu bemerken, wie die der No-
    velle vom Dichter gegebene Fassade deren analytischen Sinn
    zu verhüllen sucht. Denn es ist sehr bestreitbar, daß das
    Liebesleben der Frau von plötzlichen und rätselhaften Im-
    pulsen beherrscht wird. Die Analyse deckt vielmehr eine zu-
    reichende Motivierung für das überraschende Benehmen der
    bis dahin von der Liebe abgewandten Frau auf. Dem An-
    denken ihres verlorenen Ehemannes getreu, hatte sie sich gegen
     

    ( XXXV >
     

  • S.

    alle ihm ähnlichen Ansprüche gewappnet, aber
    hålt die Phantasie des Sohnes Recht - einer ihr ganz un-
    bewußten Liebesübertragung auf den Sohn war sie als Mut
    ter nicht entgangen, und an dieser unbewachten Stelle kann
    das Schicksal sie packen. Wenn die Spielsucht mit ihren er
    folglosen Abgewöhnungskämpfen und ihren Gelegenheiten zur
    Selbstbestrafung eine Wiederholung des Onaniezwanges iſt,
    so werden wir nicht verwundert sein, daß sie sich im Leben
    Dostojewskis einen so großen Raum erobert hat. Wir fin-
    den doch keinen Fall von schwerer Neurose, in dem die auto-
    erotische Befriedigung der Frühzeit und der Pubertätszeit
    nicht ihre Rolle gespielt hatte, und die Beziehungen zwischen
    den Bemühungen, sie zu unterdrücken, und der Angst vor
    dem Vater sind zu sehr bekannt, um mehr als einer Erwäh
    nung zu bedürfen*.
     

    darin be
     

    * Die meisten der hier vorgetragenen Ansichten sind auch in der
    1923 erschienenen trefflichen Schrift von Jolan Neufeld, »Dosto-
    jewski, Skizze zu seiner Psychoanalyse«<, enthalten.
     

  • S.

    DIE URGESTALT
    DER BRÚDER
    KARAMASOFF
     

    D
     

    RIOO