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HÔTEL DU LAC
LAVARONE (Südtirol) Lavarone 26. Juli 1907Sehr geehrter Herr College
Ihr Brief ist der erste wissenschaftlichen Inhalts, der mir hieher in die Ferien gefolgt ist. Er hat mein Behagen nur gesteigert, da er wieder Zeugnis ablegt von den Fortschritten der Erkenntnis in Sachen der Dementia Praecox und mir die Verwirklichung lang gehemmter Hoffnungen neuerlich in Aussicht stellt. Ihre reichen Gaben erwidere ich nur mit zwei Bemerkungen, die ich lange vorrätig hatte und die sich so kongruent mit Ihren Mitteilungen decken, daß ich sie in diesen aufgehen lassen kann.
1) Es ist mir aufgefallen, daß die Kranken, wenn sie sich zum Ausgang in Demenz wenden und die Ähnlichkeit mit der Hysterie verlieren, widerstandslos ihre (sexuell infantilen) Phantasien ausliefern, als hätten sie jetzt ihren Wert verloren, etwa wie ein Mensch, der verzichtet hat zu heiraten, die entwerteten Andenken, Bänder, Löckchen etc. wegwirft. Ich möchte auch dieses Verhalten in den Zusammenhang bringen, daß das Wesen dieser Wendung in dem Rückzug der Libido vom Sexualobjekt besteht. -
S.
2) Ich habe immer angenommen, daß die Leute, die man als "Originäre" zu bezeichnen pflegte, und die später greifbar paranoisch werden, solche sind, bei denen sich die notwendige Entwicklung vom Autoerotismus zur Objektliebe überhaupt nur mangelhaft vollzogen hat. Bei einem Teil der Dementen wäre also dieses Moment die gesuchte Prädisposition zur späteren Erkrankung, und das stimmte ja vortrefflich mit allgemein pathologischen Anschauungen überein, wo immer eine Erkrankung einen Rückschritt in der Entwicklung bedeutet. (Evolution und Involution der englischen Autoren).
Das ist ja fast das nämliche, was Sie berichten, und diese Übereinstimmung mag Ihnen für den Zwang, die Dinge so anzusehen, eine neue Bekräftigung sein.
Haben Sie also herzlichen Dank für Ihre Mitteilungen, zu deren Fortsetzung ich Sie so gerne aneifern möchte, da ich an Ihren Arbeiten den regsten Anteil nehme.
Übrigens vergessen wir nicht an die meist partielle Natur der Libidoablösung, und auch nicht, daß die Entwicklung des Sexuallebens eine ähnliche Prädisposition für die Hysterie anzugeben gestattet. Mit der Zwangsneurose sehe ich noch nicht klar.
Ihr herzlich ergebener
Dr. Freud
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