Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen 1898-001/1898
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    - WIENER KLINISCHE RUNDSCHAU. _

    Organ für die gesammte praktische Heilkunde

    sowie für die

    Interessen des ärztlichen Standes

    unter Mitwirkung der Herren

    Baccelli (Rom), Bernheim (Nancy), Buchanan (Glasgow), Crocq (Brüssel), Fraser (Edinburgh),

    Freud (Wien), Gattel (Berlin), de Giovanni (Padua),

    Heymann (Berlin), Huchard (Paris), Leichtenstern (Köln), Morselli (Genua), Mraček (Wien), Murri (Bologna), Obermayer (Wien), Rosenbach (Breslau),
    Schnitzler (Wien).

    redigirt von

    t Privatdocent Dr. HEINRICH PASCHKIS.

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    Die „Wiener klinische Rundschau" erscheint jeden Sonntag im durchschnittlichen Umfange
    von 2 bis 214 Bogen. — Prünumerationspreis für Oesterreich- -Ungarn ganzjährig 10 fl.,

    halbjåhrig 5 1 , vierteljåhrig 2 fl. 50 kr. ; für das Deutsche Reich ganzjährig ⑳ M., halb-
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    XII. Jahrgang. _ Wien,

    Originalartikel, Berichte aus Kliniken und Spitålern.

    Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen.
    : Von Dr. Sigm. Freud.

    Durch eingehende Untersuchungen bin ich in den letzten
    Jahren zur Erkenntniss gelangt, dass Momente aus dem
    Sexualleben die nächsten und praktisch bedeutsamsten -Ur-
    sachen eines jeden Falles von neurotischer Erkrankung dar-
    stellen. Diese Lehre ist nicht völlig neu; eine gewisse Be-
    deutung ist den sexuellen Momenten in der Aetiologie der
    Neurosen von "jeher und von allen Autoren eingeräumt
    worden; für manche Unterströmungen in der Medicin ist die
    Heilung von „Sexualbeschwerden“ und von „Nervenschwäche“
    immer in einem einzigen Versprechen vereint gewesen. Ks
    wird also nicht schwer halten, dieser Lehre die Originalität
    zu bestreiten, wenn man einmal darauf verzichtet haben
    wird, ihre Triftigkeit zu leugnen.

    In einigen kürzeren Aufsätzen,
    im Neurologischen Centralblatt, in der Revue neurologique
    und in dieser Wochenschrift erschienen sind, habe ich ver-
    sucht, das Material und die Gesichtspunkte anzudeuten,
    welche der Lehre von der „sexuellen Aetiologie der Neu-
    rosen“ eine wissenschaftliche Stütze bieten. Kine ausführ-
    liche Darstellung steht noch aus, und zwar wesentlich darum,
    weil man bei der Bemühung, den als thatsächlich erkannten
    Zusammenhang aufzuklären, zu immer neuen Problemen ge-
    langt, für deren Lösung es an Vorarbeiten fehlt. Keineswegs
    verfritht erscheint mir aber der Versuch, das Interesse des
    praktischen Arztes auf die von mir behaupteten Verhältnisse
    zu lenken, damit er sich in Einem von der?Richtigkeit dieser
    Behauptungen und von den Vortheilen überzeuge, welche er
    für sein årztliches Handeln aus ihrer Krkenntniss ab-
    leiten kann.

    Ich weiss, dass es an Bemühungen [nieht*fehlen wird,
    den Arzt durch ethisch gefärbte Argumente von der Ver-
    folgung dieses Gegenstandes abzuhalten. Wer sich bel seinen
    Kranken überzeugen will, ob ihre Neurosen wirklich mit
    ihrem Sexualleben zusammenhängen, der kann es nicht ver-
    meiden, sich bei ihnen nach ihrem Sexualleben zu erkundigen
    und auf wa hrheitsgetreue Aufklärung über dasselbe zu dringen.
    Darin soll aber die Gefahr für den Kinzelnen wie für die
    Gesellschaft liegen. Der Arzt, höre ich sagen, hat kein Recht,

    die in den letzten Jahren

    sich in die sexuellen Geheimnisse seiner Patienten einzu-
    drängen, ihre Schamhaftigkeit — besonders der weiblichen
    Personen — durch solches Examen gröblich zu verletzen.

    Ps p

    Alfred Holder, К. u. k.

    12 Frcs. 50 Ctms.
    welche auch die Insertionsauftrågø zu senden sind, und alle Buc SK und Post-
    åmter. — Fiir die Redaction bestimmte Zusendungen (Manuscripte, Briefe, Drucksachen)

    9. Jan inner “ 1898.

    Hof- und Universitäts-Buchhändler in Wien.

    — Bestellungen übernimmt die Administration, 1., Rudolfsplatz 12, an

    sind an Dr. Heinrich Paschkis in Wien, I., Rudolfsplatz 12, zu richten, Telephon Nr. 6931.

    Seine ungeschickte Hand kann nur Familiengliick zerstören
    bei jugendlichen Personen die Unschuld beleidigen und der
    Autorität der Eltern vorgreifen ; bei Erwachsenen wird er
    unbequeme Mitwisserschaft erwerben und sein eigenes Ver-
    håltniss zu seinen Kranken zerstören. Es sel also seine
    ethische Pflicht, der ganzen sexuellen Angelegenheit ferne zu

    bleiben.
    Man darf wohl antworten: Das ist die Aeusserung einer
    des Arztes unwürdigen Prüderie, die mit schlechten Argu-

    menten ihre Blösse mangelhaft verdeckt. Wenn Momente aus
    dem Sexualleben wirklich als Krankheitsursachen zu erkennen
    sind, so fällt die Ermittlung und Besprechung dieser Momente
    eben hierdurch ohne weiteres Bedenken in den Pflichtenkreis
    des Arztes. Die Verletzung der Schamhaftigkeit, die er sich
    dabei zu Schulden kommen lässt, ist keine andere und keine
    ärgere, sollte man meinen, als wenn er, um eine örtliche
    Affection zu heilen, auf der Inspection der weiblichen Genitalien
    besteht, zu welcher Forderung ihn die Schule selbst ver-
    pflichtet. Von älteren Frauen, die ihre Jugendjahre in der
    Provinz zugebracht haben, hört man oft noch erzählen, dass
    sie einst durch übermässige Genitalblutungen bis zur Kr-
    schöpfung heruntergekommen waren, weil sie sich nicht ent-
    schliessen konnten, einem Arzte den Anblick ihrer Nacktheit
    zu gestatten. Der erziehliche Kinfluss, der von den Aerzten
    auf das Publicam geübt wird, hat es im Laufe einer Gene-
    ration dahin gebracht, dass bei unseren jungen Frauen solches
    Sträuben nur höchst selten vorkommt. Wo es sich träfe,
    würde es als unverständige Prüderie, als Scham am unrechten
    Orte verdammt werden. Leben wir denn in der Türkei, würde
    der Ehemann fragen, wo die kranke Frau dem Aerzte nur
    den Arm durch ein Loch in der Mauer zeigen darf!

    Es ist nicht richtig, dass das Examen und die Mit-
    wisserschaft in sexuellen Dingen dem Arzte eine gefährliche
    Machtfülle gegen seine Patienten verschafft. Derselbe Hin-
    wand konnte sich mit mehr Berechtigung seinerzeit gegen
    die Anwendung der Narkose richten, durch welche der Kranke
    seines Bewusstseins und seiner Willensbestimmung beraubt,
    und es in die Hand des Arztes gelegt wird, ob und wann er

    sie wieder erlangen soll. Doch ist uns heute die Narkose
    unentbehrlich geworden, weil sie dem ärztlichen Bestreben,

    dienlich ist wie nichts Anderes, und der Arzt hat
    unter seine anderen

    zu helfen,
    die Verantwortlichkeit für die Narkose
    ernsten Verpflichtungen aufgenommen.
    Der Arzt kann in allen Fällen Schaden stiften, wenn
    er ungeschickt oder gewissenlos ist, in anderen Fällen nicht
    mehr und nicht minder, als bei der Forschung nach dem
    Sexualleben seiner Patienten. Freilich, wer in einem schätzens-
    werthen Ansatz zur Selbsterkenntniss sich nicht das Tact-

  • S.

    22

    cenar AUniscona Rundschau 1898.

    gefühl, den Ernst und die v er ARE an zutraut, deren er
    får das Examen der Neurotiker bedarf, wer von sich Weiss,
    dass Enthüllungen aus dem Sexualleben liisternen Kitzei an-
    statt wissenschaftlichen Interesses bei ihm hervorrufen
    werden, der thut recht daran, dem Thema der Aetiologie der
    Neurosen fernzubleiben. Wir verlangen nur noch, dass er
    sich auch von der Behandlung der Nervósen fern halte.

    Es ist auch nicht richtig, dass die Kranken einer Er-
    forschung ihres Sexuallebens uniiberwindliche Hindernisse
    entgegensetZen. Krwachsene pflegen sich nach kurzem Zögern
    mit den Worten zurechtzurücken: Ich bin doch beim Arzte:
    dem darf man Alles sagen. Zahlreiche Frauen, die an der
    Aufgabe, ihre sexuellen Gefiihle zu verbergen, schwer genug

    durch's Leben zu tragen haben, finden sich erleichtert, wenn
    sie beim Arzte merken, dass hier keine andere Riicksicht

    über die ihrer Heilung gesetzt ist, und danken es ihm, dass
    sie sich auch einmal in sexuellen Dingen rein menschlich ge-
    berden dürfen. Eine dunkle Kenntniss der vorwaltenden Be-
    deutung sexueller Momente für die Entstehung der Nervo-
    sitåt, wie ich sie für die Wissenschaft neu zu gewinnen
    suche, scheint im Bewusstsein der Laien überhaupt nie unter-

    gegangen zu sein. Wie oft erlebt man Scenen wie die fol-
    gende: Man hat ein Ehepaar vor sich, von dem ein Theil

    an Neurose leidet. Nach vielen Einleitungen und Entschul-
    digungen, dass es fir den Arzt, der in solchen Fällen
    helfen will, conventionelle Schrankennicht geben darf u. dgl.,theilt
    man den Beiden mit, man vermuthe, der Grund der Krank-
    heit liege in der unnatürlichen und schädlichen Art des
    sexuellen Verkehres, die sie seit der letzten Entbindung der Frau
    gewählt haben dür ften. Die Aerzte pflegen sich um diese Ver-
    håltnisse in der Regel nicht zu kümmern, allein das sei nur

    verwerflich, wenn “auch die Kranken nicht gerne davon
    hören u. s. w. Dann stôsst der eine Theil den anderen an

    und sagt: Siehst du, ich habe es dir gleich gesagt, das wird
    mich krank machen. Und der andere antwortet: Ich hab’
    mir's ja auch gedacht, aber was soll man thun?

    Unter gewissen anderen Umständen, etwa bei jungen
    Mädchen, die ja systematisch zur Verhehlung ihres Sexual-
    lebens erzogen werden, wird man sich mit einem recht be-
    scheidenem Maasse von aufrichtigem Entgegenkommen .be-
    onügen müssen. Es fällt aber hier in's Gewicht, dass der
    kundige Arzt seinen Kranken nicht unvorbereitet entgegen-
    tritt und in der Regel nicht Aufklårung, sondern blos Be-
    ståtigung seiner Vermuthungen von ihnen zu fordern hat.
    Wer meinen Anweisungen folgen will, wie man sich die
    Morphologie der Neurosen zurechtzulegen und in's Aetio-
    logische zu übersetzen hat, dem brauchen die Kranken nur
    wenig Geståndnisse mehr zu machen. In der nur allzu bereit-
    willig gegebenen Schilderung ihrer Krankheitssymptome haben
    sie ihm meist die Kenntniss der dahinter verborgenen sexuel-
    len Factoren mitverrathen.

    Es wåre von grossem Vortheile, wenn
    besser wiissten, mit welcher Sicherheit dem Arzte die Deu-
    tung ihrer neurotischen Beschwerden und der Riickschluss
    von ihnen auf die wirksame sexuelle Aetiologie nunmehr
    möglich ist. Es wäre sicherlich ein Antrieb für sie, auf die
    Heimlichkeit von dem Augenblicke an zu verzichten, da sie
    sich entschlossen haben, fiir ihr Leiden um Hilfe zu bitten.
    Wir haben aber Alle ein Interesse daran, dass auch in sexu-
    ellen Dingen ein höherer Grad von Aufrichtigkeit unter den
    Menschen Pflicht werde, als er bis jetzt verlangt wird. Die
    sexuelle Sittlichkeit kann dabei nur gewinnen. Gegenwärtig
    sind wir in Sachen der Sexualität sammt und sonders
    Heuchler, Kranke wie Gesunde. Es wird uns nur zugute
    kommen, wenn im Gefolge der allgemeinen Aufrichtigkeit
    ein gewisses Maass von Duldung in sexuellen Dingen zur
    Geltung gelangt. 1

    die Kranken

    (Fortsetzung folgt.)

    Ueber die bis zum Miürz 1895 an der Klinik
    ausgeführten (178) Radical-
    Operationen nach Bassini.

    Von Primararzt Dr. Julius Schnitzler,

    Privatdocent für Chirurgie und Vorstand der cbirurgischen Abtheilung
    im k. k. Kaiser Franz Josef-Spital.

    (Fortsetzung.*)
    Tabellen.

    Hofrath Alberts

    Nr. 2

    .
    ーーーーー- ニ ー 一

    nu つ ? Rechts seit
    Josef Z., ⑮ Jahren beste-
    25 jähriger | hende Scrotal-
    Fabriks- | hernie, links seit
    arbeiter. | 1 Jahr bestehende

    bubonokele.

    3 u. 4. | Rechts eine ent-
    Engelb G.,| zündete, faust-
    60 jähriger | grosseScrotalher-
    Taglóhn. | nie, links kleine

    freie Leisten-
    hernie.

    5 (r.). Seit 10 Jahren be-
    Johann H., | stehende, seit 3
    54 jähriger | Jahren irrepo-
    Kutscher. | nible, fast kinds-

    kopfgrosse rechts-
    seit. Scrotal-
    | hernie.

    би. 7 Rechts hiihnerei-
    Jdsef St., | grosse, reponir-
    24 jåhriger | bare, links be-
    Tischler. | ginnende Leisten-

    hernie.

    Gu. 9. Beiderseits be-
    Josef K., | ginnende Leisten- |
    18jåhriger hernie. |
    Tapezirer.
    10 u. 11. | Rechts ganseigr., |

    Stefan P.,| links kleinere

    17jåhriger | Leistenhernie.

    Wagner- Reponibel.

    gehilfe.

    12 (1.). | Incarcerirte links-
    Adolf D., | seitige Scrotal-
    21 jáhriger | hernie.
    Geschäfts-

    führer.

    13 u. 14. | Rechts hiihnerei-
    Gustav T., grosse, links be-
    37 jähriger | ginnende Leisten-

    Gerber. hernie.

    15 u. 16. | Rechts seit Ge-
    Heinr. Sch. | burt bestehende |
    22jåhriger | Scrotalhernie,

    Taglôhn. | links beginnender

    Leistenbruch.

    | Herniotomie

    I
    |
    |
    |
    |

    14. Juli 1891.

    Bassini beider-
    seits. Jodoform-
    gazedrainage.

    29, Sept. 1891.
    Beiderseits
    Bassini

    20. Sept. 1891.
    Bassini. Bruch-
    inhalt adhárente
    Diinndarm-
    schlingen. Lósung
    unter Belassung
    von Bruchsack-
    resten am Darm,

    17. October 1891.
    Bilaterale typi-
    sche Operation.

    13. Nov. 1891.
    Bilaterale typi-
    sche Operation.

    21. Nov. 1891.

    Typische Operat.

    beiderseits.

    1891.
    mit
    Radicaloperation.
    Incarcerirter
    Dünndarm, repo-
    nirbar. Netz rese-
    cirt. Bruchsack
    angeboren. Bil-
    dung einer Tunica
    vaginal. prop.

    2. Jänner 1892.
    Bilaterale
    Radicaloperation.

    30. Nov.

    1. März 1892.
    Bilaterale Opera-
    tion. Rechts an-

    sack. Bildung

    einer Tunica vag.

    propria.

    |

    |

    |

    geborener Bruch- |

    |
    |

    Afebriler Ver-
    lauf.
    20. August
    geheilt ent-
    lassen.

    27. October
    geheilt ent-
    lassen.

    Nahteiterung. - À ;

    Afebril.
    18. October
    geheilt ent-

    lassen.

    Afebriler Ver- | Seit der
    lauf. Operation ト
    13. November | vollkomm. !
    geheilt ent- |gesundund
    lassen. arbeits-
    fähig.
    Nahteiterung. | Seit der
    1. December | Operation
    geheilt ent- |gesundund
    lassen. arbeits-
    fähig.
    Fast völlig
    afebriler Ver-
    lauf.
    29. December
    geheilt ent- |
    lassen. <
    Geringe Tem- ⑥
    peratursteige- ·
    rung. Ober-
    flàchliche Ne-
    Crosen.
    29. Jånner
    geheilt ent-
    lassen.
    Afebriler Ver- | Laut brief-
    lauf. licher Mit-
    28. Jånner theilung
    Gen ent- | seit 1895
    lassen. rechts wie-
    der eine
    kleine,
    durch Bra-
    cherium
    reponirte
    Hernie.
    Complicirt

    durchUrethri-
    tis (Katheter)
    und Epididy-
    mitis.
    26. März
    geheilt ent-
    lassen. |

    *) Siehe „Wiener klinische Rundschau“ 1898 Nr. 1