In der Wochenausgabe der ‚New York Times‘ (24. März 1912), einem der bedeutendsten amerikanischen Blätter, erschien ein ausführlicher Artikel von Dr. Morton Prince unter dem Titel „Roosevelt, durch die neue Psychologie analysiert“1).
1) Wir möchten bei dieser Gelegenheit betonen, dass wir mit der Tendenz, die Psychoanalyse zu Eigriffen in das Privatleben zu benützen, durchaus nicht einverstanden sind. Die Redaktion.
Editorische Anmerkung:
Diese mit „Die Redaktion“ gezeichnete Fußnote stammt aus der Feder von Sigmund Freud. Sie gehört zu einem Text, in dem berichtet Ernest Jones von einem Artikel, den Morton Prince in der New York Times vom 24. März 1912 publizierte.
Hier der Wortlaut des Berichts von Ernest Jones:
Psycho‑Analyse Roosevelts. Unter den verschiedenen Würzen des jetzt in Amerika mit größter Erbitterung geführten Kampfes um die Präsidentenwürde verdient eine unsere besondere Aufmerksamkeit. Es wurde nämlich der Versuch gemacht, die Persönlichkeit des einen der beider Vorkämpfer in die Beleuchtung der modernen Psychologie zu rücken. In der Wochenausgabe der ‚New York Times‘ (24. März 1912), einem der bedeutendsten amerikanischen Blätter, erschien ein ausführlicher Artikel von Dr. Morton Prince unter dem Titel „Roosevelt, durch die neue Psychologie analysiert“1). Der Artikel, der die erste Seite des Blatte einnimt, hat wie zu erwarten stand, erhebliches Aufsehen erregt. Um europäische Leser mit dem Gegenstande vertraut zu machen, ist es notwendig, eine kurze Darstellung des Standes der Wahlkampagne zu geben. Eines der feststehndsten Regierungsprinzipien Amerikas ist von der Zeit Washington’s an stets das ungeschriebene Gesetz gewesen, dass kein Präsident öfter als zweimal dieses Amt innehaben soll. Da der Präsident grossen Einfluss auf die administrative Durchführung der Wahlen hat, ist es augenscheinlich der Zweck dieses Prinzips zu verhindern, dass irgendwann ein Einzelner versuche, sich durch demagogische Mittel an das Volk zu wenden, um so zum tatsächlichen Diktator zu werden. Die Furcht vor einer Diktatur scheint in Amerika bemerkenswert stark zu sein und man geht von der Ansicht aus, dass jeder, der dem eben erwähnten Prinzip nicht anhängt, ein Verräter der heiligsten Güter seines Landes sei und nicht mehr als Ehrenmann gelten könne. Zur Zeit als Roosevelts zweite Amtsdauer zu Ende ging, im Jahre 1908, kündigte er formell an, dass er „unter keinen Umständen nochmals als Kandidat auftreten werde“. Selbstverständlich wurde er als künftiger Präsident nicht mehr in Rechnung gezogen, aber nach der Rückkehr von seiner berühmten afrikanischen Reise mischte er sich mehr und mehr in die Politik ein, und allmählich wurde es klar, dass er willens war, sich wiederum der Wahl zu unterziehen. Wie eben gesagt, geschah dies nur langsam und schrittweise. Abweisung nach Abweisung wurde verlautbart, während seine Freunde des Gefühl des Landes erforschten, um zu erfahren, ob es möglich wäre, das Volk zu einem Bruche mit dem 120 Jahre lang ununterbrochen gepflogenen Brauche zu bewegen, ohne dabei seine republikanischen Überzeugungen allzusehr zu verletzten. Der gegenwärtige Präsident Taft war Roosevelts intimster Freund und als der letztere im Jahre 1908 zurücktrat, war es ausschließlich sein Einfluss, durch den Taft als sein Nachfolger gewählt wurde. Seine Absicht scheint es gewesen zu sein, in absentia durch Taft zu regieren, der das von Roosevelt begonnene Werk zu Ende führen sollte. Taft zeigte jedoch unmittelbar nach seiner Wahl sein Unabhängigkeit von seinem Vorgänger und folgte seinen eigenen Plänen, die ihm wo nicht die sensationelle Popularität Roosevelts, so doch das Vertrauen des amerikanischen Volkes erworben haben.
Roosevelt entrüstete sich bei seiner Rückkehr nach Amerika über Taft’s Politik, brach die frühere Freundschaft ab und begann bald ihn in ungemässigter Sprache anzugreifen. Der Zwist der beiden wird in letzter Zeit ungewöhnlich bitter und persönlich; so hat zum Beispiel Roosevelt in einer seiner letzten Reden Taft bezeichnet wie folgt: „ein Undankbarer, ein Unterdrücker der Wahrheit, ein unehrlicher Freund und kein Gentleman“. Taft, obwohl er anfangs zu diesen Angriffen schwieg, begann zu erwidern und hatte Roosevelt einen Dr.„Neurotiker“ und einen Heuchler getauft.
Dr. Prince geht nun auf diese persönlichen Beziehungen zwischen den beiden Antagonisten nicht oder nur oberflächlich ein, aber er versucht die Entwicklung von Roosevelt’s Gesinnungsänderung in der Frage einer dritten Amtsführung nachzuweisen. Seine These ist, dass Roosevelt’s übermächtige Herrschsucht anfänglich durch seinen Ehrsinn in Schach gehalten wurde, dass sie ihn aber nun mit Hilfe verschiedener Freunde und unterstützt durch seinen Ärger über Taft’s Haltung, überwältigt hat. Er meint, dass Roosevelt’s Wunsch ein drittes Mal Präsident zu werden, zuerst verdrängt war, dass er sich aber durch eine Anzahl von Handlungen verriet, welche jenen, die Freud in der „Psychologie des Alltaglebens“ beschreibt, durchaus analog sind. Der Widerstand und die Hemmungen werden nach und nach besiegt, so dass der Wunsch schliesslich mittelst einer Reihe von Rationalisierungen mit den höheren Instanzen des vollen Bewusstseins vereinbart wurde. Die verschiedenen Stadien dieses Prozesses verfolgt er bis ins feinste Detail und manche der von ihm mitgeteilten Beispiele von Roosevelt’s Verlesen, Verdrehen, Missverstehen, von seinen Sprech‑ und Schreibfehlern etc. sind mit bemerkenswerter Gründlichkeit und Genauigkeit analytisch verwertet; natürlich waren sie durch den alles andere überwältigenden Wunsch determiniert, der schnell an die Oberfläche gelangte. Dr. Prince verweist aus Höflichkeit manche Wünsche und Motive ins Unbewusste, die eher vorbewusst oder völlig bewusst waren; er gestand mir privat, dass er wirklich die letztere Ansicht für die richtige halt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Ehrgeizkomplex anfänglich einem gewissen Grade von Verdrängung unterworfen war, bis die im Volke vorwaltenden Gefühlseinstellung es möglich machte, ihn offen auszusprechen. Ernest Jones.