Das Inzest‑Drama und seine Komplikationen (Manuskript).
Vortragender: Otto Rank
Die Wiedergabe des Vortrags ist mit dem Hinweis auf sein baldiges Erscheinen als Buch unterlassen.
Diskussion.
Frey rügt das Fragmentarische, Abgerissene des Vortrags; Rank habe keinen Vortrag, sondern ein Excerpt seines Manuskriptes gegeben; Frey vermißt die strenge Durchführung des Hauptthemas; Rank habe lauter Einzelheiten gegeben.
Es herrsche in der Arbeit das Bestreben vor, alles nach der Methode Freuds zu deuten und in diesem Bestreben sei zu viel in das Material hineingetragen und dementsprechend auch zu viel herausgedeutet worden. Manche Vorgänge, die Rank symbolisch deute, wären rein sinnlich aufzufassen. So sehe er nicht ein, warum in Hartmanns Gedicht die Fessel des Gregorius, die ihn am Weglaufen hindere, als psychische Projektion des exhibitionistischen Gehemmtseins (Freud) gedeutet werde; oder warum die Abnahme von Laios Gürtel und Schwert durch Oedipus als Symbolik der Entmannung und Besitzergreifung von der Mutter gedeutet werde; überdies wisse ja Oedipus nicht, dass der Mann, dem er das Schwert abnähme (den er also entmannt) sein Vater sei. Rank möge sich damit begnügen, das Wahrscheinliche plausibel zu machen.
Schließlich rügt er noch die mißbräuchliche Verwendung des Begriffs der Verdrängung; vieles, was Rank Verdrängung nenne, sei nur eine Verfeinerung; nicht jede Verfeinerung aber sei eine Verdrängung.
Reitler bemerkt, der Vortrag sei zuwenig ausführlich gewesen, um sich ein Bild von der Arbeit machen zu können. Interessant wäre ein näheres Eingehen auf die Busse in den Heiligengeschichten gewesen, da ja die Busse mit der Hysterie nahe verwandt sei. Er möchte die Aufstellung Ranks, wonach im Traum die Verdrängung am geringsten, im Mythos schon stärker und im Drama (in der Kunst) am stärksten sei, umkehren. Als Beispiel des Vaterhasses führt er an, dass Gott Vater – wohl indirekt – seinen Sohn Jesus töte, der ja zugleich mit Gott‑ Vater in der Dreieinigkeit enthalten sei. Schließlich verweist er auf inzestuöse Anspielungen in Studentenliedern.
Deutsch lehnt mit dem Hinweis der Vorwegnahme seiner Bemerkungen durch Reitler jede Äusserung ab.
Häutler rügt auch den Vortrag, bei dem das Wesentliche zu wenig betont sei; er vermisse auch die Komposition im Ganzen. Die Arbeit solle ja nicht eine Zusammenstellung aller in der Litteratur vorkommenden Inzest‑Fälle sein; diesen Eindruck aber habe er gehabt. Er meint, von einer Verdrängung könne man nur bei einzelnen Personen sprechen, nicht aber bei der uns ziemlich unbekannten Volksseele. Er könne auch nicht immer ein persönliches Verhältnis des Mitteilenden (Dichters etc) zu dem Stoffe zugeben; die Inzest‑Stoffe seien wirkungsvoll, und der Inzest könne nach und nach ein bloss äusserliches Requisit geworden sein. Schließlich bemerkt er noch, daß zu viel „gedeutet“ sei.
Hitschmann findet, die Arbeit biete nur eine – ziemlich überflüssige – quantitative Ausbreitung der von Freud aufgedeckten Tatsache (Oedipus). Liebe zwischen Verwandten habe nicht immer inzestuöse Wurzeln, sondern sei einfach Liebe zu den Verwandten, z. B. Elternliebe. Der Inzest sei etwas Pathologisches, deswegen habe er auch die Dichter so angezogen. Hitschmann gibt aber doch eine Anziehung des Unbewussten bei der Auswahl des Stoffes und beim Interesse des Hörers zu. Schliesslich warnt er davor, so weit ausgreifende Themata aus einem so abseits stehenden Gesichtswinkel zu betrachten und prophezeit dem Vortragenden – bei weiterer Ausschliessung anderer Gesichtspunkte – ein düsteres Ende.
Federn sagt, er müsse sich zunächst gegen Hitschmanns Ausführungen wenden. Er halte die Arbeit für wichtig, er habe über die Ubiquität der Inzest‑Regungen gestaunt. Er vermisst die historische (phylogenetische) Entwicklung des Inzestes; in der Urfamilie u. in der Einzelfamilie. Die Schaffung der Einzelfamilie müsse das Verbot des Inzestes zur Folge gehabt haben. Der Inzest zwischen Vater und Tochter sei nicht so verpänt gewesen wie der zwischen Mutter und Sohn: deswegen komme er auch in der Literatur seltener vor. Den Ausdruck, daß die Eumeniden „paranoische“ Projektionen unbewusster Regungen gewesen seien, möchte er – vom medizinischen Standpunkte – dahin modifizieren, dass sie vielmehr Hallucinationen gewesen seien. Er rügt die Deutung von schwarz und weiß als Unbewusstes und Bewusstsein. Die Entmannungsgelüste dürfe man nicht bloss als auf den Vater gerichtet bezeichnen; sie hätten sich in der Urzeit auf jeden gehassten Menschen gerichtet. Bei der Entmannung des Kronos durch Zeus habe es sich vor allem um den Besitz der Herrschaft gehandelt. Die Auffassung der „Nasen“‑Szene in Auerbachs Keller (Faust) als Verdrängung einer früheren, roheren Scene will er nicht gelten lassen.
Freud rügt zunächst die Fehler des Vortragenden: zunächst verstehe er es nicht, sich einzuschränken und das Thema scharf zu begrenzen: so könnte z. B. die Zurückführung einiger Stellen in Hartmanns Werken auf exhibitionistische Regungen ganz gut wegbleiben, da das mit dem Thema in keinem Zusammenhang stehe; ebenso könne der Mythos von Orest und Klytämnestra wegbleiben, obwohl die Übergänge dazu ganz geschickt hergestellt wären. Der zweite Fehler des Vortragenden bestünde darin, dass er seine Erkenntnisse und Resultate nicht zu demonstrieren verstehe; es genügt ihm, wenn er selbst die Sache begriffe. Der Vortragende möge ganz kurz die wichtigsten Resultate seiner Untersuchungen geben und sie an einigen Beispielen demonstrieren. Das Schema der Arbeit denkt sich Freud so: als Kern und Vorbild sei der Oedipus hingestellt; die Methode des Vortragenden, einesteils um diesen Kern herum alles zu gruppieren, andernteils durch Reihenbildung das Thema von diesem Kern aus bis in die letzten Ausläufer zu verfolgen, wäre die einzig richtige und erprobte. Je weiter man sich vom Kern entferne, desto unsicherer wäre allerdings die Deutung, und es wire Sache des persönlichen Geschmacks sowie des Geschicks, an der richtigen Stelle halt zu machen. Auch sei nicht alles von einem Punkt aus zu betrachten; die Stoffe unterlägen auch der Einwirkung anderer Themata, die man berücksichtigen müsse.
Auch Freud nimmt den Begriff der Verdrängung gegen eine mißbräuchliche Verwendung in Schutz; manches, was Rank als Verdrängung bezeichnet habe, sei eine Verschiebung oder Milderung. Freud hebt die Häufigkeit des Inzestes bei den „Göttern“ hervor und knüpft daran die Bemerkung, dass alles, was später verboten und schließlich heilig gesprochen wurde, etwas ist, worauf ursprünglich alle verzichtet haben: es stecke darin die doppelte Bedeutung des Wortes sacer. Die Heilung des Orestes einer psychischen Kur gleichzusetzen, findet Freud zu liebenswürdig; es hätten da sicher andere Momente, wie die Einführung des Apollo‑Kultus u. a., eingewirkt.
Adler möchte zunächst den Titel geändert wissen; es solle im Titel angedeutet werden, daß es sich in der Arbeit um die Aufdeckung eines Kernes handelt; Rank möge sich aber auch in der Arbeit mit der Aufdeckung dieses Kernes begnügen und sich nicht auf detaillierte Deutungen einlassen. Er hält die Arbeit als Bestätigung mancher Erfahrungen aus den Psycho‑Neurosen für wichtig; insbesondere Anfänger könnten daraus lernen. Er gibt aus seiner psycho‑therapeutischen Praxis einige Beispiele, die Ranks Resultate bestätigen: Zur Deutung des Gürtellösens als sexuelles Symbol führt er den hysterischen Anfall einer Patientin an, wobei sie sich den Gürtel öffnet; Die Deutung ergab dann die sexuelle Auffassung dieser Handlung. Zum Anfall Orests, worin er sich einen Finger abbeisst, und zur sexuellen Deutung dieses Symptoms, gibt Adler ein Analogon aus den Hysterien. Eine Patientin sei bei nacht aus einem Traum aufgekommen und habe bemerkt, daß sie sich den Finger blutig gebissen habe. Die Deutung ergibt einen Penis für den Finger (wie bei Orest), und die Symptomhandlung lässt auf eine Abwehr der Mundperversion schliessen. Auch zur sexuellen Symbolik der Schlange bringt Adler eine Bestätigung aus der Neurosen‑Psychologie bei. Eine seiner Patientinnen sagte, zwischen ihr und ihrem Vater bestehe eine Verbindung von der Gestalt einer Schlange und zum Teil eines Vogels. Auf Adlers Wunsch habe sie diese Vorstellung dann zeichnerisch dargestellt, wobei sich diese Verbindung unverkennbar als ein Penis entpuppt habe. Er erwähnt auch, daß bei Kindern das Glied „Schlange“ heisse; es sei das ein sehr gebräuchlicher Ausdruck. (Dazu bemerkt Freud, daß die Teufel auf den mittelalterlichen Bildern ihr Glied schlangenförmig gestaltet haben). Auch zu Ranks Deutung der Hautkrankheiten (Aussatz) als Abwehr exhibitionistischer Regungen (Hartmann v. der Aue: Armer Heinrich) bemerkt Adler, dass Exantheme im Traum und in der Hysterie häufig vorkämen. Er erzählt von einem Traum einer Exhibitionistin (Hysterika), worin sie ihre Freundin (oder Cousine) sich entblössen lässt; diese Freundin hat ein Geschwür an der Brust. Schließlich erwähnt Adler noch die symbolische Bedeutung der Nase als Geschlechtsorgan in Traum und Neurose. Er sei sich aber über diese Symbolik noch nicht ganz klar. (Zu der Mitteilung Adlers über die „Ausschläge“ bemerkt Freud, dass Ausschläge in der Kindheit dem Kinde eben die beste Gelegenheit zur Selbstentblössung gäben). Adler rügt dann den oberflächlichen Versuch der Erklärung des Verbrechens: mit dem Hinweis darauf, dass jedes Verbrechen sexuelle Wurzeln habe, sei noch nichts erklärt. Den Zug in den Mythen und Legenden, dass die Eltern um die verbrecherischen Neigungen des Kindes wissen, erklärt Adler so, daß der Dichter mit seinen Instinkten dahinterstecke; er trägt diesen Zug hinein. Schließlich betont Adler noch, daß sich an der häufigen Bearbeitung inzestuöser Stoffe das besondere Interesse der Dichter und des Volkes zeige.
Kahane erwähnt als Inzest‑Fall in Perikles v. Tyrus. In der Deutung scheint ihm der Vortragende manchmal zu weit zu gehen; es mute ihn das wie eine „Überspannung“ eines Gummibandes an. Er betont besonders die Neigung der Eltern zu den Kindern und weist auf den Sexualneid der Eltern hin: auf die Feindschaft der Eltern gegen die Sexualität der Kinder. Das Verbot der Masturbation oder auch des normalen Geschlechtsverkehrs der Söhne oder Töchter durch die Eltern entspringe gewiss nicht moralischen Motiven, sondern wurzele im Sexualneid. Kahane bemerkt, dass ihm das Verhältnis von Mutter und Sohn allein als wichtig erscheine. Schliesslich knüpft er an eine Bemerkung Federns an, wonach in südlichen Ländern die Mütter rasch altern und dann für den Sohn nicht begehrenswert erscheinen; daraus ergäbe sich bei Dichtern die Notwendigkeit den Sohn älter und die Mutter jünger zu machen.
Anschließend an die Diskussion erzählt Freud einen Fall als Beispiel für die Einwirkung des sexuellen Traumas: er habe seit ungefåhr 1½ Wochen eine Hysterika in Behandlung; gleich in der ersten Sitzung teilt sie eine Exhibitionsszene aus ihrem vierten Jahr mit; sie hat sich damals vor ihrem Bruder ausgezogen, der darüber entrüstet war. Später hatte sie mit dem Bruder ein fast inzestuöses Verhältnis. Vom elften Jahr an zeigten sie ihre Körper einander und verfolgten so ihre Entwicklung. Zwischen dem 11. und 14. Jahr kam es zwischen ihnen zu intimen körperlichen Berührungen mit Ausschluss der Hände; sie lagen aufeinander und machten Koitusversuche. Das alles sind bei der Patientin bewusste Erinnerungen. In einer Sitzung, wo es mit der Kur nicht recht vorwärts ging, kam das Gespräch auf Alltägliches; sie erzählt, sie sei eine berühmte „Fleckputzerin“ betreibe leidenschaftlich gerne Obstzucht, insbesondere von Äpfeln. Sie erzählt auch ein Erlebnis mit ihrem Vater, der die Brüste einer deutschen Dame „fromm“ genannt habe und sich darüber aufgehalten habe, daß das Kleid der Dame diese Brüste sehen lasse. Sie bemerkte dem Vater gegenüber, er hätte die Brüste ganz gerne gesehen, wenn sie weniger fromm gewesen wären (fromme Brüste = birnförmige Brüste: pomme au poire); wozu Kahane bemerkt: fromm weil sie abends auf die Kniee sinken.