Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung [Mai 1913] 1913-769/1913
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    Korrespondenzblatt
    der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.

    Redaktion:

    Dozent Dr. C. G. Jung, und Dr. F. Riklin,
    Zentralpräsident, Zentralsekretär
    in Küsnacht bei Zürich.


    I.
    Kongreß 1913.

    Der nächste (private) Kongreß der Internationalen psychoanalytischen
    Vereinigung wird am 7. und 8. September 1913 in München statt-finden.
    Es wird gebeten, die Vorträge bis zum 1. Juli bei Dr. C. G. Jung
    anzumelden. Dabei ist wünschenswert, daß die Vorträge die Dauer von
    20 Minuten nicht überschreiten.


    II.
    Vereinsberichte.

    1. Ortsgruppe Berlin.

    Sitzungen:

    November 1912: Dr. phil. M. Weißfeld (als Gast): „Versuch einer philo-sophischen Stellungnahme zu den Freudschen Lehren“.
    Dezember 1912: Diskussion zu obigem Vortrag.
    Januar 1913: Sanitätsrat Dr. Körber: „Die Äußerungen des Wider-standes in der Psychoanalyse“.
    März 1913: Dr. Abraham: Über unbewußte Wurzeln des neurotischen
    Kopfschmerzes.


    2. Ortsgruppe New York.

    Mitgliederliste.

    T. H. Ames, 52 West 53th Str., New York.
    C. E. Atwood, 14 East 60th Str., New York.
    L. E. Bisch, 268 West End Av., New York.
    A. A. Brill (Sekretär), 58 Central Park West, New York.
    F. J. Cassamajor, 342 West 56th Str., New York.
    L. P. Clark, 84 East 56th Str., New York.
    F. J. Farnell, 114 Broad Str., Providence R. J.

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    H. W. Fink (President), 1 West 83th Str., New York.
    B. M. Hinkle, 115 East 81th Str., New York.
    Josephine Jackson, 1971 Morton Av., Tasdedena, California.
    W. A. Karpas (Vicepresident), Bellevue Hospital, New York.
    M. Keshner, 264 East 7th Str., New York.
    C. P. Oberndorf, 249 West 74th Str., New York.
    B. Onuf, Amityville L. I.
    E. W. Scripture, 236 W. 74th Str., New York.
    L. Sheinman, Lebanon Hospital, New York.
    F. W. Stochran, 321 East 18th Str., New York.
    S. A. Tannenbaum, 243 East 7th Str., New York.
    W. Timme, 158 West 95th Str., New York.


    3. Ortsgruppe Wien.

    In der Sitzung vom 5. Februar 1913 hat der Ausschuß Herrn Hugo
    Heller, als Verleger der zwei psychoanalytischen Zeitschriften, kooptiert.

    12. Sitzung am 8. Januar 1913:

    Dr. Paul Federn: Beispiel von Libidoverschiebung während
    der Kur.

    Die psychoanalytische Behandlung muß die pathologische Libidoverschnürung
    zur Lösung bringen. Hiebei erfolgt die Verschiebung der Libido in der ent-gegengesetzten Richtung, als bei der Entstehung der neurotischen Erkrankung; es ergeben sich dabei im meisten Fällen ist nur das Resultat dieser Resultat ad
    integrum zu ordnen, indem früher verdrängte Libido frei wird und gleich-zeitig die durch den entsprechenden Libidoanteil unterhaltenen Symptome an
    Intensität verlieren, schließlich ganz verschwinden. Männer begegnet man
    aber Fällen, welche trotz Neurose einen beträchtlichen Teil ihrer Libido un-verdrängt behalten haben. An solchen Fällen gelingt es, wenn man das Augenmerk darauf richtet, auch mit dem Detail den Zusammenhang der Verteilung und
    der Verschiebung der Libido mit dem Wechsel oder Passieren von Symptomen
    zu beobachten. Es handelt sich dabei um Individuen mit angenuinem starker
    Triebstärke in normaler und perverser Richtung, bei welchen eine besondere
    organische Disposition, die sich auch in der Prävalenz bestimmter erogener
    Zonen äußert, wesentlich zur Entstehung der Neurose beigetragen hat. Eine
    solches Prävalenz des organischen Faktors findet sich regelmäßig bei den
    Fällen von Asthma bronchiale. Diese Krankheit macht deshalb so völlig
    den Eindruck einer rein organischen Störung. Erst die Untersuchung der
    seelischen Anlässe und die Aufklärung der scheinbaren Unbegründbarkeit
    der Anfälle, sowie die ungewöhnliche Beeinflußbarkeit durch suggestive und
    Stimmungseinflüsse haben den psychogenen Charakter der Erkrankung evident
    gemacht. - Die Psychoanalyse hat regelmäßig libidinöse Ursachen aufdecken
    können. An einem derartigen Falle von Bronchialasthma dessen psychogene
    Details einer weiteren Publikation vorbehalten bleiben sollen, konnten die Vor-
    gänge der Libidoverschiebung genau beobachtet und der psychogene Faktor
    in der Ätiologie vom organischen gut unterschieden werden.

    Als konstitutioneller Faktor war das Prävalenz der Geruchsinne
    und der Mundzone in erogener Hinsicht überaus deutlich. Diese Prävalenz
    ist nach meiner Erfahrung an mehreren Fällen und in Übereinstimmung mit
    vielen nicht psychoanalytischen Autoren ein regelmäßiger ätiologischer Befund bei

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    dieser Erkrankung. Der zweite wichtige konstitutionelle Faktor, der aber allen
    schweren Neurosen gemeinsam ist, ist die überraschende Intensität der Sexu-alität in den Kinderjahren. Konstitution und Milieueinflüsse gemeinsam ver-hindern das Auftreten der sexuellen Latenzperiode zwischen infantiler und
    pubertärer Sexualität.

    Im vorliegenden Einzelfalle waren die Geruchseindrücke von den ersten
    Kinderjahren an in ungewöhnlichem Maße sexuell lustvoll betont. Wie manche
    Tierarten und die Wilden hatte der Patient ein hervorstehendes Geruchs-interesse in dieser Richtung, welches von sympathischen und antipathischen Charakter
    von Menschen, Lokalitäten und Ereignissen durch Dezennien festhielt. Es ist
    regelmäßig zu beobachten, daß Individuen, denen Geruchssinn so glänzend ent-wickelt und mit dem Sexualtrieb so eng verknüpft ist, sogenannte „Schmutzmenschen“ zu sein pflegen, welche bis zu feinsten Nuancen nicht an die tat-sächlichen Ereignisse, sondern an die Variationen der äußeren Umstände ihrer
    manigfachen Stimmungen knüpfen. Die an den Geruchssinn fixierte Libido
    brachte dem Kinde in analog wie bei dem Tiere — die körperlichen Sekrete
    und Exkrete sowie die entsprechenden Organe an anderen Individuen zu Sexual-
    objekten. Dadurch entstanden manigfache Phantasien. Und so wurde das
    Kind durch perverse Beziehungen an die von ihm geliebten Personen fixiert.
    Sein völlig spontan entstandenes, durch kein äußeres Ereignis unterstütztes
    Sexualziel dieser intensiven libidinösen Beziehung war die Phantasie des Cunnil-ingus, welche nach dem 7. Lebensjahr auftrat, in welchem Jahre das Kind
    infolge von Tierbeobachtungen und durch Aufklärung von dem Geburtsvorgänge
    Nachricht erhalten hatte. Der Cunnilingus ist eine Perversität, welche nicht
    durch einfaches Verbleiben bei einer infantilen Sexualstufe erklärt werden kann.
    Der Cunnilingus erfüllt die infantile Sehnsucht, zur Mutter zurückzukommen.
    Der Anreiz zu dieser Perversität stammt von der Riechsphäre, das Organ
    gehört der Mundzone an und das Ziel ist der reifen Sexualität entnommen,
    es ist das Ziel, in die Vagina einzudringen. So ist der Cunnilingus dazu
    geeignet, daß durch diese Phantasien die normale von den Sexualorganen
    ausgehende Libido, infolge des gemeinsamen Zieles und Objektes, auf die
    im infantilen Stadium prävalente Mund- und Ruchzone verschoben wird.
    Diese Verschiebung wurde unterstützt durch die sonstige intensive, über
    ihre reifen erotischen Äußerungen keineswegs synchrone Fixierung an die
    Mutter. Da unser Patient wie die meisten Asthmatiker eine starke sexuelle
    Konstitution hatte, blieb trotzdem die eigenexuelle Sexualität ungestört. Nur
    war die Liebesfähigkeit für andere Frauen wesentlich gelähmt. Sie war am
    Ödipuskomplex fixiert. Und im Ödipuskomplex war die Libido von der Ge-nitalzone auf die Mundzone verschoben. Entsprechend dieser eigenartigen
    Fixierung waren in dem intensiven Phantasieleben des Kindes auch typische
    Mutterleibsphantasien ungemein häufig, welche auch die spontanen Spiele
    des Kindes beeinflußten.

    Das Asthma war zum erstenmal nach einer Trennung von der Mutter
    aufgetreten. Jedes Asthma ging in typische Phantasien und Tagträume, bei
    Nacht in das Individuum spezifische Asthmaträume, voraus. Die Analyse dieser
    Träume und der wachen Phantasien führte regelmäßig auf bestimmte libidinöse
    Bestrebungen zurück, welche mit dem Anfällen seinen Wunsch wenigstens
    so weit erreicht, daß es die Mutter oder andere geliebte Personen herbeizu-zwingen vermochte. Und in den begleitenden Phantasien und Träumen war
    auch die libidinöse Wunscherfüllung noch beim Erwachsenen dargestellt. So
    entspricht auch das Asthma der allgemeinen Formel, wie sie Freud für jedes
    hysterische Symptom aufgestellt hat, daß es eine im Bewußtsein verlassene

    Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalys.

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    stimmung. Mit fortschreitender Heilung pflegten diese Stimmungen noch auf-zutreten, ohne daß sie durch Regression bis zum wirklichen Asthma führten.
    Vorher konnte aus dem Auftreten der Asthmastimmung mit Bestimmtheit auf
    den kommenden Anfall gerechnet werden. Diese Stimmung wurde immer
    durch einen unerfüllten, bewußten oder unbewußten Wunsch ausgelöst und war
    bis in das reife Menschenalter des sich unglücklich und verlassen fühlenden
    Kindes. Während der Erwachsene auf ein Unglückgefühl mit vernünftigen
    Maßregeln und Plänen, auch mit Wünschen und Hoffnungen oder der Re-signation reagiert, hat das sich unglücklich fühlende Kind nur das Gefühl:
    Man soll mir helfen, ich mag das nicht und die Mutter soll kommen. Diese
    Hilfe sucht das Kind durch Schreien mit Jammern, durch Betonen und Zeigen
    des Unglücklichseins herbeizurufen. Das infantile Unglücksgefühl bei dem
    Neurotiker hat deshalb immer ein Publikum und verlangt die sofortige Ab-hilfe durch fremde Hilfe, auch in Fällen, wo das unmöglich ist. Bei unserem
    Kranken erbtegte sich dieses infantile Unglücksgefühl als die Stimmung des
    artigen Hilfe vor einem Publikum entstehenden, ansteigenden, erregenden
    und verzweifelten Kindes. Im Unbewußten war es noch immer die Mutter,
    nach der der Kranke wie der Kranke bei der Atemlosigkeit schreit. Da
    alle Sehnsucht nach der Mutter die pervers-infantile Bronch. wieder im Un-
    bewußten reaktivierte, wurde auch der konstitutionell ausgebildete, von der
    Ruchsphäre ausgelöste abnorme Reflex der Bronchialmuskel und die zum Asthma
    gehörige Sekretion nur in den Kindheit durch die Unglücksstimmung provoziert,
    die Rückkehr zu den infantilen Wünschen verriest sich in dem Ablauf der
    Phantasien und Träume des Patienten, welche der Steigerung von der ak-tuellen Enttäuschung bis zum Anfall parallel gingen.

    Es ergab sich, daß bei einundzwanzigmal disperierten Individuum endogene
    sexuelle und exogene infantile Momente, auch wenn letztere geeignet schienen,
    Katarhhe auszulösen, in Wirklichkeit dadurch das Asthma einleiten, daß sie
    eine infantile Situation durch unbewußte Assoziationen wiedererweckten, in
    welcher das Kind nach der Mutter mit perverser Libido begehrte, nach Be-
    ziehung nur zu der konnte. Von nicht rein sexuellen Momenten kamen noch
    unbewußte Phantasien hinzu, welche ein Wüten, Kämpfen, Streiten, Wett-laufen und Lachen bis zur Atemförderung repräsentierten.

    Daß das Asthma aus der Kindheit in die Pubertät und bis in das vierte
    Lebensdezentium anhielt, war durch das Ausbleiben der Latenzperiode er-leichtert, denn die in der Pubertät erwachende Penis-sexualität hat unmittelbar
    zum ersten kindliche Fixierung verstärken. Die zweite Ursache war, daß der
    Patient die infantile Einteilung umgehen, bei denen Erotismus und Vor-stellungen, welche nach dem Lust- und Unlustprinzip erfolgt, nicht aufgegeben
    hatte. Infolge dieses Festhaltens an der infantilen Reaktionsweise blieb der End-
    zwang unveränderlich das gleiche Scheitern des Versuches einer Wunsch-befriedigung, welches Scheitern im Asthma zur Darstellung kam. Trotz
    der schlichen Unlustreaktion konnte infolge der Unkontrollierbarkeit der
    unbewußten Vorgänge der unbewußte Versuch einer Befriedigung nach der in-fantilen Weise nicht aufgegeben werden, daher bleibt der Asthmaanfall nur
    für das Bewußtsein des erwachsenen Individuums ein Scheitern der Wünsche
    dar. Das Kind hatte tatsächlich mit den Anfällen seinen Wunsch wenigstens
    so weit erreicht, daß es die Mutter oder andere geliebte Personen herbeizu-zwingen vermochte. Und in den begleitenden Phantasien und Träumen war
    auch die libidinöse Wunscherfüllung noch beim Erwachsenen dargestellt. So
    entspricht auch das Asthma der allgemeinen Formel, wie sie Freud für jedes
    hysterische Symptom aufgestellt hat, daß es eine im Bewußtsein verlassene

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    infantile Sexualbefriedigung, dabei eine Kompromisaktion von libidinösen und anderen Wünschen und der Abwehr dagegen darstellt.

    Was hat nun die am Menschen geändert und wie wird die Libido durch die versohoben?

    1. Die Psychoanalyse hat die auslösenden Momente dem Bewußtsein
    richtig erklärt.
    2. Die unbewußten Phantasien, die zum Asthma geführt hatten, wurden
    bewußt gemacht und dabei malartige Affekte zur Erledigung gebracht.
    3. Dadurch wurde der Patient befähigt, dort, wo er vorher zu einem Scha-den in ungeeigneter Weise das Lust-Unlust-Prinzip herrschen ließ, nach dem
    Realitätsprinzip zu reagieren und seine Stimmungen rechtzeitig zu erkennen
    und zu beherrschen.
    4. Die Verschiebung der Libido von der Genitalzone auf die Riech-und
    Mundzone wurde rückgängig gemacht.
    5. Durch diese Rückverschiebung wurde es dem Patienten ermöglicht,
    sich von den infantilen Fixierungen an ungeeignete Objekte zu lösen: Er kam
    von der unbewußten Herrschaft der Mutterimago los.

    In der Diskussion hob Prof. Freud hervor, daß es zweckentsprechend
    ist, solche Sexualneurosen, denen ein gleichlich psychischer Mechanismus wie
    die Hysterie haben, aber die Symptome nicht durch eigentliche Konversion
    bilden, sondern dazu eine organisch präformierte, abnorme somatische Reaktion
    benützen, als Fixierungs-hysterien zu bezeichnen und als besondere
    Gruppe der Konversions- und Angst-hysterien bei zuordnen.
    Im Schlußwort hält es der Vortragende zum für wahrscheinlich, daß
    alle Fälle von Bronchialasthma psychogen ausgelöst werden, aber mit Rück-sicht auf die relativ geringe Anzahl von psychoanalysierten Fällen sei diese
    Frage noch unerledigt. (Autoreferat.)

    13. Sitzung am 15. Januar 1913.
    Prof. Freud: Animismus, Magie und Allmacht der Ge-
    danken (erschien in „Imago“, Februar 1913).

    14. Sitzung am 22. Januar 1913.
    Dr. Lorenz (als Gast): Die Geschichte des Bergmannes von
    Falun.
    Nach einer historischen und literarischen Orientierung über die zu
    Grunde liegende Begebenheit, ihre Überlieferung und die dichterische Aus-gestaltung der Vorgeschichte durch Arnim, E. T. A. Hoffmann, Richard Wagner
    und H. v. Hoffmannsthal gibt der Vortragende mit besonderer Berücksichtigung
    der Bearbeitungen Hoffmanns und Hofmannsthals eine Analyse des Wahnes
    und der Träume des Helden, aus der sich dessen infantile Fixierung an die
    Mutter mit ihrer neurotischen Darstellung in einer Mutterleibphantasie (das
    Berg-innere) ergibt.

    15. Sitzung am 29. Januar 1913.
    Kasuistische Mitteilungen und Referate.
    1. Rosenstein: Nichts zu Daten: Zahlenanalyse.
    2. Hitschmann: Übereinstimmungen zwischen Neurotikern.
    3. Rank: Demonstration einer Zeichnung.
    Mitteilung zweier Träume.
    4. Sadger: Über die Notwendigkeit, die Gefäß-erotik von der Anal-erotik zu trennen.
    5. Tausk: Traummechanismen und -symbole.

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    16. Sitzung am 5. Februar 1913.

    Dr. Sadger: Sexualität und Erotik im Kindesalter.

    Hält man sich an die etymologische Ableitung, so ist der Gebrauch der
    beiden Termini einfach: „Sexualität“ für das grob Sinnliche, an die Betätigung
    der Genitalien gebundene; Erotik für die geistige Seite des Geschlechtstriebes.
    Diese Grenzen haben sich aber allmählich im Sprachgebrauch verwischt.

    Der Vortragende kritisiert nun die Mollsche Zerlegung des Geschlechts-triebes sowie dessen Einwendungen gegen die Sexualität des Kindes und führt
    aus, was wir an ungefedertem Beweisen dafür besitzen, so die Beobachtungen
    über frühzeitige Erektion und Masturbation mit allen Zeichen des sexuellen
    Orgasmus, die von Kassowitz und Friedjung gemacht wurden. Schwerer
    nachweisbar ist die extragenitale Sexualität des Kindes; doch sprechen deut-lich die Beobachtungen von Lindner (Nadeln) und Bini (Analyse) dafür.

    Der Vortragende geht nun speziell auf die Muskelerotik ein, die auch
    in psychoanalytischen Kreisen Widerstand gefunden habe. Er führt die bereits
    in Freud's Sexualtheorie hervorgehobenen Exkretions-, beim Erbrechen Magen-
    an, ferner die Begünstigungen von Traumerotik bei Muskelreichen Frauen über Or-
    gasmus infolge Muskelkontraktion. Otto Adler sage direkt, der Orgasmus beim
    Koitus werde durch die Kontraktion der Muskeln hervorgerufen. Auch Tanz
    und Sport wirken nach H. Ellis sexuell erregend infolge der Muskelerotik.

    Man ist berechtigt, von Sexualität beim Kinde zu sprechen, wo sich
    Erscheinungen einstellen, die man vom sexuellen Orgasmus her kennt oder wo
    Neigungen bestehen, die sich trotz aller Hindernisse und Drohungen immer
    wieder durchsetzen.

    Sexualität im engeren Sinne ist also nicht nur an die Genitalien ge-bunden, sondern schließt auch die extragenitale Seite ein, während man die
    psychische besser als Erotik bezeichnet.

    In der Diskussion hebt Prof. Freud hervor, daß wir Erotik bisher in
    einem engeren Sinne (als Erogenität) gebraucht hätten. Sadgers Beispiele haben
    mit den Muskeln als Quellen der Erotik nichts zu tun. Die Muskeln sind Exe-
    kutivorgane, die Bahnen, auf denen sich die sexuellen Erreger entlädt. Der
    Orgasmus hat zur Folge die Kontraktion der Muskeln, aber daß die Kon-traktion der Muskeln selbst den Orgasmus ausmache, sei unrichtig. Inten-
    sive Muskelbetätigung könne gewiß auch Quelle der Erogenität sein, aber dafür
    wären ganz andere Beweise aufzubieten. Das sieht man erst, wenn man vom Neu-rotiker ausgeht, bei Patienten mit Gehstörungen, Abasien, ist die Muskel-betätigung deutlich sexueller Art.

    17. Sitzung am 12. Februar 1913.
    Kasuistische Mitteilungen und Referate.
    1. Tausk: Besprechung der Arbeiten von Ferenczi und Putnam über
    Philosophie und Psychoanalyse.
    2. Rank: Ref. d. Zentralblattes f. Psa., H. 4/5.
    3. Sachs: Der Stern als Genitalsymbol.
    4. Hitschmann: Paranoia und Analerotik.
    5. Hitschmann: Fehlleistungen.

    18. Sitzung am 19. Februar 1913.
    Dr. Karl Weiß: Zur Psychogenese von Refrain und Reim.

    Der Vortragende versucht es, Refrain und Reim vom Unbewußten zu
    erklären, und zwar die psychischen Bedingungen ihrer Entstehung und Ver-

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    wendung. Als Ausgangspunkt wird das für beide Phänomene charakteristische
    Element des Gleichklangs und Rhythmus gewählt. Der Gleichklang hat ein infan-tiles Vorbild in der Kindersprache, der Rhythmus im Lallen. Die durch das
    Wiedererkennen gewonnene Lust, das aus psychischer Ersparung stammt, ist
    das Motiv für den Gleichklang. Der Rhythmus ist selbständige Lustquelle;
    er gewinnt die Fähigkeit, Lust zu gewähren, daraus, daß er die Lust an einer elementaren Triebbefriedigung repräsentiert.

    Es wird dann das Verhältnis des Refrains zum Affekt besprochen und
    zwei Arten des Refrains unterschieden: der sinnlose, unartikulierte und der
    aus dem Chorgesang stammende. Eine Funktion des Refrains ist die Ver-änderung des Affekts, die Form überwindet den Widerstand, den wir gegen
    die Äußerung dieses Affekts haben. Anders Male dient der Refrain den
    Affekt und hemmt seine Abfuhr, was an Beispielen erläutert wird.

    Aus der Analyse eines Kinderreimes wird der Reim als Kompromiß-leistung zweier, der Zensur gegenüber konfliktloser Tendenzen aufgedeckt.
    Reim und Rhythmus sind autoerotisch (der Lyriker spricht nur von sich).
    Schließlich streift der Vortragende noch die Frage, warum der Antike der
    Reim gefehlt habe und glaubt, daß auch die Sexualverdrängung des Christen-tums daran teilhabe.

    19. Sitzung am 26. Februar 1913:
    Dr. Paul Federn: Berufs- und Arbeitsstörung durch
    Neurose. (Disk. „Gesellschaft und Neurose“, I. Wird publiziert.)

    20. Sitzung am 5. März 1913:
    Dr. Theodor Reik: Die „Allmacht der Gedanken“ bei
    Arthur Schnitzler (erscheint in „Imago“, Juniheft. 1913).

    21. Sitzung am 12. März 1913:
    Dr. V. Tausk: Der Vaterkomplex. („Gesellschaft und Neurose“, II.)

    22. Sitzung am 19. März 1913:
    Kasuistische Mitteilungen und Referate.
    1. Prof. Freud: Eine Traumdarstellung.
    2. Friedjung: Onanie als Quelle von Schamgefühl.
    3. Rank: Beitrag zur Psychologie des Attentäters.
    4. Dr. Reik: Psychoanalytische Forschung.
    5. Dr. Sachs: Ein religionsgeschichtlicher Beitrag.
    6. Dr. Weiß: Experimentelle Träume.

    23. Sitzung am 2. April 1913:
    Dr. Hanns Sachs: Zweifel (wird publiziert).

    24. Sitzung am 9. April 1913:
    Dr. J. Sadger: Ein Autoerotiker.

    25. Sitzung am 16. April 1913:
    Dr. Ed. Hitschmann: Neurose und Ehelosigkeit. (Disk. „Ge-sellschaft und Neurose“, III.)

    26. Sitzung am 23. April 1913:
    Dr. J. Sadger: Autoerotik und Narzißmus.

    27. Sitzung am 30. April 1913:
    Kasuistische Mitteilungen und Referate.

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    4. Ortsgruppe Zürich.

    Sitzung vom 17. Januar 1913.

    Dr. phil. Mensendieck: Zur Technik des Unterrichts und der Erziehung während der psa. Kur. - Die Erziehung neurotischer Kinder muß durch Arzt und Lehrer, durch Analytiker und Pädagogen ge-meinsam geleitet werden, wie es seit etwa zwei Jahren im Sanatorium Dr. Bircher geschieht. An einigen Beispielen aus der Unterrichtspraxis wird gezeigt, daß der Schüler sich in der Schule benimmt wie zu Hause und
    daß er stets bestrebt ist, die seinem bewußten Denken und Empfinden viel-leicht unangenehmen, der unbewußten Lebensgewohnheit aber entsprechende
    Situation wieder herzustellen. Darum muß dem Pädagogen die Komplexreaktion
    des Schülers bekannt sein, damit durch die Art der Arbeitsforderung und Arbeitsleistung Korrektur eintreten kann und die Arbeit des Analytikers unter-stützt wird. Unbedingt notwendig ist aber auch die analytische Selbsterkenntnis
    und Selbsterziehung des Pädagogen, damit er auf die Komplexe des Schülers
    nicht affektvoll reagiert, wodurch die unzweckmäßige Art der Lebensführung
    immer neue Unterstützung finden wird. (Der Vortrag erscheint im Jahrbuch.)

    Dr. Schmid: Zur Analyse einer 17jährigen Mörderin.

    Ein bisher grundbraves, etwas sentimentales Dienstmädchen erschlägt mit einer Küchenaxe ihre verwitwete Herrin, bei der sie seit sechs Monaten im
    Dienst war. Sie hatte vorher ihre Mutter nie verlassen und litt sehr am
    Heimweh. Ein Motiv zum Mord konnte weder von den Juristen noch von den
    Psychiatern gefunden werden.

    Auffallend war zunächst die mehrfach bewissene Tatsache, daß zwischen
    Herrin und Magd ein ähnliches Verhältnis bestanden hatte, wie zwischen
    Mutter und Tochter. In der Irrenanstalt hörte Patientin in den ersten Nächten
    Stimmen, die ihr sagten, die Mutter sei gestorben. Mit zunehmender Besserung
    der seichten Verwirrung trat die Befürchtung auf, die Mutter sei verhungert.
    Kurz vor dem Verlassen der Heimat hatte sich Patientin verlobt; seither hatte
    sie häufig geträumt, die Mutter sei krank oder tot.

    Verfasser analysierte 20 Träume der Patientin, notierte Einfälle dazu,
    verwertete aber absichtlich jede Erklärung, um sich nicht dem Vorwurf auszu-setzen, er habe Patientin seine Lösung des Problems suggeriert. Die Träume
    beweisen in auffallend durchsichtiger Art, daß es Patientin nach dem Ver-lassen der Heimat nicht möglich gewesen war, Libido frei zu bekommen zur
    Anpassung an die neue Umgebung; die Libido regressierte darum auf eine
    Situation ihrer frühesten Kindheit, in der Patientin nach Aussage der Mutter
    den Vater innig liebte, auf die Mutter aber auffallend eifersüchtig war, sie
    haßte diese eigentlich als kleines Kind. An Stelle des Vaters war in der
    aktuellen Situation der Verlobte, an Stelle der Mutter die Herrin getreten. Die
    Träume zeigten ferner eine ausgesprochene sadistische Komponente, die aller-dings durch das unbewußte Abwehren der Eifersucht in der Kindheit verdrängt
    und durch eine anormale Abhängigkeit an die Mutter kompensiert worden war.

    Verfasser weist weitgehende Analogien seines Falles mit Freuds Be-merkungen über einen Fall von Zwangsneurose nach. Es ist ihm zweifelhaft, daß
    der Mord selbst durch das weibliche Ödipusproblem allein als Regression in
    eine Situation der Kindheit erklärt werden kann; er glaubt, durch Annahme
    von archaischen Mechanismen, wie sie Jung in „Wandlungen und Symbole
    der Libido“ aufgedeckt hat, eine plausiblere Erklärung zu finden. (Der Vor-trag wird im Jahrbuch für psa. u. ps.-path. Forschung in extenso erscheinen.)

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    Korrespondenzblatt der Intern. Psychoanalyt. Vereinigung.

    Sitzung vom 31. Januar 1913.
    Diskussion über Dr. Jungs Libidotheorie.
    Sitzung vom 14. Februar 1913.
    Fortsetzung der Diskussion über Dr. Jungs Libidotheorie.
    Sitzung vom 28. Februar 1913.
    Fortsetzung der Diskussion über Dr. Jungs Libidotheorie,


    III.
    Mitteilungen.

    Dr. C. G. Jung hat am 27. März im „Liberalclub“ in New York
    (Vorsitzender: Rev. Dr. Percy Grant) einen Vortrag über Psychoanalyse
    gehalten.