Varia [September 1913] 1913-775/1913
  • S.

    Varia.

    Homosexualität und Paranoia.
    1.

    Die von der psychoanalytischen Auffassung!) vertretene Ansicht, daß sich
    der Verfolgungswahn ursprünglich auf eine ehemals geschätzte nahestende Per-
    son bezieht, findet sich künstlerisch dargestellt in der meisterhaften Schil-
    derung einer Psychose in Arno Holz' Tragödie , Sonnenfinsternis (Berlin 1908).

    Url: . . . Je mehr sich für ihn [Hollrieder] die Anzeichen gehäuft
    haben, daß die Psychose seines früheren Schülers, Schütztings, oder wie sie
    sonst wollen, sich immer deutlicher gegen ihn richtet. . . .

    La bella Cenci: Wie ist das nur möglich?

    Url: Falls eine solche überhaupt vorhanden sein sollte... mit
    Naturnotwendigkeit. (Auf ihr erneut fragendes Erstaunen. Er stand
    ihm am nächsten. (8. 26.)

    Auch die von Freud (①. c.) aufgedeckte homosexuelle Genese des para-
    noischen Wahnes scheint hier angedeutet, wenn der Psychotiker Musmann
    auf das Weib des Freundes eifersüchtig ist, es haft, weil sie ihm den Freund
    abspenstig macht:

    Hollrieder: ‥ . Es braucht nur irgend ‏מ'‎ Weibsbild aufzutauchen,
    und das Dreh-dich ist bei dir fertig.

    Und in einem solchen Anfall verwüstet er das Gemälde des Freundes, indem
    er das Porträt des , Weibes* durchsticht.

    2.

    Anláblich der Aufsehen erregenden Entlarvung des Österreichischen
    Generalstabsobersten Вей] als russischen Spion wurden in den Tagesblättern
    mit einer in unserer Publizistik seltenen Offenheit und Ausfiihrlichkeit die
    homosexuellen Anlagen, Neigungen und Betätigung Redls geschildert.

    Mit dieser Tatsache läßt sich in Zusammenhang bringen, daß die rasch
    publik gewordene Affäre bei einer Reihe von Personen zum Ausbruch von
    Verfolgungswahn führte. Wenige Tage nach dem Selbstmord Redls?) wurde
    um Mitternacht ein junger Mann mit zwei Schußwunden in der linken Brust-
    seite aufgefunden, die er sich selbst mit einer Browningpistole zugefügt hatte,
    „Er gab an, der Advokaturskandidat und Reservekadett Dr. Wilhelm K., gegenwärtig
    zur Waffenübung eingeriickt, zu sein. Er zeigte Spuren von Verfolgungswahn. Er bil-

    3) Vgl. Freud: Bemerkungen zu einem autobiographisch beschriebenen Fall
    von Paranoia. Jahrb. IIL

    ?) Es ist vielleicht auch von psychologischem Interesse, daß ang eblich der
    Vater, ein Bruder und die Schwester Redls durch Selbstmord endeten; möglicher-
    weise ist hierin (Identifizierung) einer der Gründe zu suchen, die ihn, als er sich
    entdeckt sah, nicht an Flucht denken ließen. — Auch der angeführte Fall des Ka-
    detten zeigt deutliche Identifizierung durch Nachahmung des Selbstmords.

  • S.

    Varia. 517

    dete sich nämlich ein, daß er unter dem Verdacht stehe, ein Helfershelfer
    RedlsundselbsteinSpionzusein,weshalbmanihnverfolge. Selbst-
    verständlich hat der unglückliche junge Mann, bisher Konzipient eines bekannten
    Wiener Advokaten, mit der Sache nicht das geringste zu tun, aber jedenfalls
    hat die Angelegenheit den Ausbruch seiner geistigen Krankheit gefordert. Dr.
    K. glaubte sich verfolgt. Er gab an, den Revolver und einen Geldbetrag
    von 100 Kronen einem Passanten, der ihm Hilfe herbeizuholen versprach,
    eingehåndigt zu haben. Es wurde auch keine Waffe bei ihm gefunden.“ — Kurz
    darauf berichtete der ,Naprzod“ aus Lemberg, daß sich im dortigen Kranken-
    haus sechs Personen unter Beobachtung befinden, die unter dem Eindruck
    der Affäre Redl in Verfolgungswahn verfielen und sich als Spione verfolgt
    wåhnen. —

    Daß die Verfolgung als Spion den Befürchtungen der Paranoiker
    eine gute Rationalisierung bietet, spricht durchaus nicht gegen den von Freud
    aufgedeckten, unbewuBten Einfluß abgewehrter homosexueller Regungen,

    Dr. Rank.
    Sprachlicher Rest eines magischen Brauches.

    In dem Roman E, T. A, Hoffmanns „Kater Murr“ wird bei der
    Schilderung jener Lebensepoche, in der der geniale Kater die Burschenherr-
    lichkeit kennen lernt, ein Ausdruck der Studentensprache zitiert, der mir
    durch seine Unverstündlichkeit schon längst aufgefallen ist. Die Methode, den auf
    das Kneipen am nächsten Morgen folgenden Katzenjammer durch das Trinken
    einiger Schnäpse zu kurieren, wird als „Haare auflegen“ bezeichnet. Durch
    Zufall bekam ich eines Tages die Erklärung in die Hand, nach welcher die
    Redensart einen letzten Uberrest, ein ,survival® einer bei den germanischen
    Völkern einst geübten Prozedur aus dem Bereiche der „kontagiösen Magie“
    (vgl. den Aufsatz von Prof, Freud über dieses Thema in Imago, 11, IV, Jhrg. 1913)
    darstellte. Der Abstand scheint groß genug und läßt sich doch leicht überwin-
    den. Zunächst existiert eine englische Version der Redensart, die den zu
    Grunde liegenden Gedanken schon weit besser erkennen läßt, Von einem,
    der die unangenehmen Folgen eines Trinkexzesses durch neuen Alkoholgenuß
    zu beheben sucht, sagt man; „He takes a hair of the dog that bit him,“
    „Er nimmt ein Haar von dem Hund, der ihn gebissen hat.“ In diesem Sinne
    kommt die Wendung z. B. in Bernaby Rudge von Ch. Dickens vor (Cap.
    LII). Die homöopathische Methode jener Kur wird also mit dem Fallin Pa-
    rallele gestellt, daß man gegen den BiB eines Hundes eines von seinen Haaren
    als Heilmittel anwendet. Das wire allerdings ein Musterfall der „konta-
    giósen Magie“, aber es wäre wohl zu kühn, aus einer gleichnisweisen Redens-
    ait die ehemalige Realität des Gleichnisses abzuleiten, Den Beweis, daß es
    sich „weder um eine Methapher noch um einen Scherz“ handelt, liefert der eng-
    lische Ethnologe Edward B. Tylor in seinem Werke: ,Primitive Culture
    (4. Aufl, S. 84.) durch Heranziehung einer Stelle des Håvamål, jenes Edda-
    liedes, in welchem Wotan seine weisen Lehren erteilt. Dort heißt es (Hav. 138) :
    „Hundehaar heilt Hundebiß“,

    Schließlich sei noch auf jene Fabel von Lessing hingewiesen, in der ein
    von einem tollen Hunde gebissener Mann dadurch geheilt werden soll, daß
    man ein Stück Brot auf die Wunde legt, von dem der Hund einen Teil ver-
    verzehrt hat. Die Tendenz ist natürlich rein moralisierend — Warnung vor
    blindem Jähzorn — aber das Material entstammt wohl kaum seiner oder seines
    Vorbildes Erfindung, sondern einem ähnlichen uralten Rezepte der „kontagiösen
    Magie“, Dr. Hanns Sachs.

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    518 Varia.

    Benvenuto Cellini

    berichtet im vierten Buche seiner Selbstbiographie Folgendes (Cap. 9, zitiert
    nach der Übersetzung Goethes): „Auch war ein Teil meiner Besoldung
    rickstindig geblieben und ich dachte nicht diesen Rest jemals zu erhalten,
    denn es waren schon drei Jahre verflossen. Aber der Herzog fiel in eine
    gefährliche Krankheit und konnte in 48 Stunden das Wasser nicht lassen.
    Als er nun merkte, daß ihm die Ärzte mit ihren Mitteln nicht helfen
    konnten, wendete er sich vielleicht zu Gott und beschloB, daB jeder seinen
    Rückstand erhalten solle, da wurde ich denn auch bezahlt.“ — Wir werden
    es nicht für Zufall halten, daß der Fürst, dem so viele Wege Gottgefälliges
    zu tun, offen standen, gerade jenen wählte, bei dem er etwas allzulang
    Zurückgehaltenes von sich lassen, d. h. also das lang ersehnte Ereignis
    als bereits eingetreten darstellen konnte. Die symbolische Vertretung der Ex-
    kremente durch Geld und umgekehrt ist uns bereits durch zahlreiche Quellen —
    Traumdeutung, Märchen, Sprichwort, Volks- und Gaunerbråuche 一 hinrei-
    chend vertraut geworden. Bemerkenswert in unserem Fall ist die durch
    Schmerzen und Todesangst bewirkte Regression auf eine Symbolik, die dem
    UnbewuBten angehört und sich beim Erwachsenen sonst im Wachzustande nicht
    durchsetzen kann, Dr. Hanns Sachs.

    D’Annunzio

    sagt von einem ersten wollüstigen LiebeskuB: „Ein Instinkt weckte in seiner
    Wollust etwas von der Idee des Saugens, etwas von jenem ersten Trieb des
    blinden neugeborenen Menschenkindes. Ihm war's, als stillte er zum erstenmal
    seine eigene, tiefste Unschuld“ („Vielleicht — vielleicht auch nicht“. S. 28),

    Sexualsymbolik in Bildern.

    Über den Maler Greuze findet sich in Muther’s „Geschichte der Ma-
    lerei* folgende die Sex ualsymbolik in Bildern Greuzes betreffende Stelle :

    „Nicht die Freuden der Sinnlichkeit malt er, sondern die Trauer um die
    verlorene Unschuld. Ratlos, wie ein aufgescheuchtes Reh blickt das arme
    Baby, dessen Krug zerbrochen ist. „Meine Unschuld gib mir wieder, gib mir
    mein verlorenes Glück.“ Ratlos, untröstlich blickt das junge Mädchen, das
    seinen Spiegel hat fallen lassen, auf die zerbrochene Scheibe, Alles Lebens-
    glückes beraubt, tränenden Auges schaut ein anderes Kind auf sein gestorbenes
    Vógelchen. „Glaubt nicht“, schrieb Diderot, „daß es um den Krug, den
    Spiegel oder das Vögelchen sich handelt. Die jungen Mädchen beweinen mehr,
    und sie weinen mit Recht.“ Dr. H. Hitschmann.

    Sexualsymbolik in der Lyrik.
    In einer modernen Gedichtsammlung!) findet sich folgender Hymnus :
    Auf einen Taktstock.

    Hohe Scheiben spiegeln blank im Tagesschein,
    Zur Schau gebreitet liegen Geigen, Trommeln, Flöten,
    Inmitten ruht ein weißer Stab aus schmalem Elfenbein.

    1) „Ernst Lissauer, Der Strom.“

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    Varia. 519

    Doch unter meinem Blick beginnt er sich zu råten,
    Glut

    Ist zitternd in ihm eingeschlossen,

    Er ist durchflossen

    Von wundertåt'gem Blut.

    Plötzlich umragen mich Wände und Bogen,

    Durch harrende Menge rauscht Rede und Lachen in wechselnden Wogen,
    Auf der Estrade verworrn

    In das Klimpern von Geigen

    Schreit Klarinette und Horn, —

    Da pocht der Stab laut auf; es wolbt sich hoch ein Schweigen;

    Steil ziindet er empor gleich einem Blitze,
    Aller Augen sehen gebannt nach seiner bannenden Spitze.

    Er winkt, und trommelnde Schlige raunen,
    Er schwebt, klar blasen dunkle Oboën,

    Er streicht, und Celli und Bisse drohen,

    Er stößt, da drohnt Feuer auf den Posaunen.

    Mannigfalt

    Uber den Klängen wandelt sich seine Gestalt.

    Er ragt, als Banner geschwungen hoch über festlichen Scharen,
    Er schreitet still als Kruzifix, getragen vor dem Trauerzug,

    Er wiegt über klingender See als Mowe den flimmernden Flug,
    Er blinkt als Pallasch vor reitenden Siegfanfaren.

    Er zuckt, er zaubert; seine Griffe ziehen
    Aus dem Orchester lange Melodien,

    Die sich als lichte Strähnen um ihn winden,
    Er herrscht und funkelt szepterlich,

    In Wink und Schlag und Strich

    Umgüldet von den glänzenden Gebinden.