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Dichterausspriiche zur Beurteilung der Sexualverdrångung.
Jede Begierde, die wir ersticken, brütet in unserer Seele und ver-
giftet uns. 0. Wilde.Der SchuB, der in der Flinte stecken bleibt, verdirbt sie, so die Kraft
im Menschen. Hebbel.Wem die Keuschheit schwer fällt, dem ist sie zu widerraten: daß sie
nicht der Weg zur Holle werde — das ist Schlamm und Brunst der Seele,Nietzsche.
Vieler Menschen Tugend besteht nur darin, daß sie nichts vertragen
können. Berthold Auerbach.Jener Trieb der Natur, von dem man Öffentlich nicht gern redet,
rächt jede Unterdrückung mit derselben Rache: er wird zum Betrug: so
oder so. Natürlich oder unnatürlich, beim Matrosen, beim Priester, beim
Asketen, beim Ehemann und beim Philosophen, stets verwandelt er sich in
Betrug. Selbstbetrug, Betrug am andern Geschlecht, am Freunde, an der
Natur selbst, Betrug ist seine Verwandlungsform, die er unter hohem Druck
annimmt. R. H. Bartsch.Es fragt sich, ob nicht gerade dieses durch die Kultur unserer Zeit
verbotene Erotische von der Kunst dargestellt werden m uB, weil es einem
tief inneren Bedürfnisse des Menschen, einer Sehnsucht nach Ergänzung seiner
lückenhaften Existenz entspricht. Konrad Lange.(Mitgeteilt von Dr. E. Hitschmann.)
Bernard Shaw hat im November vorigen Jahres in einem offenen
Briefe an die „Times“ gegen den Bischof von Kensington Stellung genommen,
welcher sich öffentlich an einer in seinen Augen unsittlichen Schaustellung im
» Palace-Theater“ entrüstet hatte. Shaw sagt dort unter anderem: „Die A n-
regung, Befriedigung und Erziehung unseres geschlechtli-
chen Gefühls ist mit der vornehmste Zweck und der hóchste
Ruhm des Theaters. Diese Aufgabe hat es mit allen schönen Künsten
gemein. Die Lichthôfe des Victoria- und Albert-Museums in der Diözese des
Bischofs sind angefüllt mit nackten Figuren von auBerordentlicher Schönheit,
die eigens dort aufgestellt sind, damit sie das Verlangen unseres Körpers auf
so viel Schönheit, Feinheit und auf den Ausdruck der höchsten menschlichen
Eigenschaften hinlenken. Beim Anblick dieser Skulpturen werden unsere
jungen Leute die niedrigen Gegenstände ihrer sinnlichen Wünsche widerwärtig
finden. In der National Gallery ist für die Bedürfnisse der Sinne und der
Seele unparteiisch gesorgt. Männer haben dort manche Venus angebetet und
sich in manche Jungfrau Maria verliebt. Bei der religiösen Ekstase gibt es
eine wollüstige Seite und bei der Ekstase der Wollust eine religiöse. Die
Meinung, daß die eine Verzückung weniger heilig sei als die andere, gibtS.
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gleichzeitig der jenes Psychiaters recht, der die Heiligen dadurch in Mißkredit
zu bringen sucht, daß er zeigt, wie die gleiche Leidenschaft, die diese über
sich selbst erhöht, die Sünder unter sich selbst erniedrigt, Das sogenannte
Hohelied Salomonis, das wir jetzt als ein erotisches Gedicht erkannt haben,
wurde von den Übersetzern des siebzehnten Jahrhunderts für einen Gesang
Christi an seine Kirche gehalten und wird bis auf den heutigen Tag noch
als solcher in unseren Bibeln bezeichnet.Lassen wir uns nun einmal die Folgen ansehen, wenn man junge Leute
— von den alten ganz zu schweigen — von sinnlicher Kunst fernhålt. In
England gibt es Familien, in denen die Kinder in folgenden Auffassungen
großgezogen werden: Eine unverhüllte Statue ist ein Greuel; ein Mädchen
oder ein Junge, die ein von Paul Veronese gemaltes Bild anschauen, sind auf
ewig verdorben ; das Theater, in dem „Tristan und Isolde“ oder „Romeo
und Julia“ gegeben wird, ist die Pforte zur Hölle; der Anblick des mensch-
lichen Körpers, sobald er schön bekleidet ist und vielleicht mehr von seinen
Linien verrät als die Tracht eines Chinesen, ist ein Akt schamlosester Un-
anstindigkeit. Von chinesischer Geschlechtsmoral darf ich in den Spalten
der „Times“ nichts schreiben. Aber über die englische und schottische Ge-
schlechtsmoral, die sich aus dem Verhungernlassen und aus der lästerlichen
Schmähung des lebensnotwendigen sinnlichen Gefühls ergibt, will ich folgendes
sagen: Diese Art Sexualmoral ist krankhaft und schändlich, ist ekelhaft
heimgesucht von den Dingen, durch die sie in Versuchung geführt wird, ist
unbarmherzig in der Verfolgung aller jener göttlichen Anmut, die auf dem
Boden unserer geschlechtlichen Instinkte dann erwachsen kann, wenn diese
nicht absichtlich verderbt und vergiftet werden, Könnte diese schreckliche
Sexualmoral, wie manche Leute es möchten, auch nur für eine einzige Generation
unserer ganzen bürgerlichen Gesellschaft aufgezwungen werden, der Bischof
würde selbt auf die Gefahr hin, ein Märtyrer zu werden, das Palace-Theater
unter bischöflichem Priestersegen wieder öffnen und die junge Dame, an deren
Vorstellungen er jetzt Anstoß nimmt, auf die Bühne zurückgeleiten — selbst
wenn sie den letzten Fetzen ihrer so leichten Kleidung auszöge.(Nach der deutschen Veröffentlichung in der ,,Arbeiter-Zeitung“
vom 15. XI. 1913 mitgeteilt von Dr. Rank.)Multatuli hat in seinen „Ideen“ (deutsch in „Die Abenteuer des kleinen
Walther“, übersetzt von Spohr, S. 239) die ,heuchlerische** Auffassung des
„„Hohenliedes'* psychologisch zersetzt :„Es ist nicht einfach, die psychologischen Gründe zu entwickeln, warum
das Geschöpf, das die Liederlichkeit selbst war, etwas Unanständiges gefunden
haben würde in der erotischen Färbung dieses Prachtwerkes [des Hohen-
liedes], die es unanstößig fand und erhaben sogar, solange sie sich einredete,
daß die liebe Sulamith die bräutliche Kirche des Herrn Jesus bedeutete.
Und — sonderbar ! — diese Abneigung gegen eine natürlicheinfache Auf-
fassung war wiederum keine absolute Heuchelei. Die Personen ihrer Art
sind zu verkircht, um etwas Schönes zu finden an der naiven Schil-
derung von Empfindungen, die sie an sich nur zu betrachten kriegten als
verstohlene Ausschweifung . . . Und umgekehrt, sie würden die verzweifelt
fern gesuchte Anspielung dieses Stückes auf eine Lehre von der Kirche nicht
so mit aller Gewalt festhalten, wenn nicht just das erotische Element, das
sie negieren, die Sache so anziehend machte. Das Suchen und Finden einer
christologischen Bedeutung in dem pikanten Drama ist ein Vorwand um — ganz,
ganz im Glauben, und also unsündig zu naschen von einer Frucht, die zuS.
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den verbotenen gehören würde, sobald man aufhórte, den Baum, von dem sie
gepflickt wurde, zu taufen mit dem Namen der Dogmatik. — Hôchstwahr-
scheinlich ist diese Folgerung anwendbar sowohl auf die Geschichte der Bibel
als auf die der Individuen . . . . Die menschenkundigen Religionswalter
haben zu allen Zeiten eingesehen, daß sie in ihrer Industrie das hysterische
Element nicht entbehren konnten und also die Bibel nicht eines so unter-
haltenden Kapitels berauben dürften, Lieber also, als daß sie es wegen der
Unsittlichkeit brandmarkten und als ,unecht“ verbannten, erhoben sie, ohne
den geringsten Schaden für gewünschte und brauchbar befundene Reizung,
diese Sinnlichkeit selbst zu einem heiligen Symbol: . . . Vielleicht auch
waren diese Kirchenväter nicht so sehr Menschenkenner als vielmehr im Be-
sitze der unbewußten Verschlagenheit, die wir häufig bei den dümmsten
Personen antreffen,% (Mitgeteilt von Dr. Rank.)
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