Zur psychoanalytischen Bewegung [Mai 1916] 1916-761/1916
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    Zur psychoanalytischen Bewegung.

    Im September 1915 hielt Herr Dr. Johs. Stromme in der Norwegi-
    schen Psychiatrischen Vereinigung einen Vortrag über „Die Psychoana-
    lyse und ihre Technik“. Der Vortragende erklärte zu Beginn seiner Aus-
    fithrungen, daß er sich zur Schule Jungs rechne und sich nur mit dessen
    Theorie befassen werde. Demgemäß enthält der Vortrag eine Darstellung der
    Libidotheorie Jungs und seiner darauf fuBenden analytischen Technik, ins-
    besonders auch der Traumdeutung, doch wird anerkannt, daß die urspriing-
    liche und unmodifizierte Methode, wie sie von Freud gelehrt wurde, griind-
    licher war und tiefer führte. „Wenn ich tiefergehend sage, muß dies nicht
    aufgefaBt werden, als ob Freud mehr oberflächlich sei. Im Gegenteil, nie-
    mand hat mehr ausführlich die latenten Traumgedanken bloBlegen können.
    Die Methode Jungs hilt sich weit mehr an der Oberfläche. . . .* Zu
    therapeutischen Zwecken genügt nach Ansicht des Vortragenden eine solche
    oberflächliche Analyse, weil sie „mehr als genügend Assoziationsmaterial
    produziert“, Er schließt seine Darlegung mit den Worten: „Wir haben alle
    Grund Freud und Jung dankbar zu sein für den genialen Einsatz in
    dem Kampf gegen das soziale Übel: Die Neurose = die Faulheit = die
    Lebensliige. *

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    Im Frauenbildungsverein in Wien hielt Frau Dr. H. von Hug-Hell-
    muth eine Vortragsreihe iiber „Neue Wege zum Verstindnis der
    Kinderseele* mit folgendem Programm :

    I. Vortrag 18. Februar: Einführungsvortrag: Die Rolle des UnbewuBten
    im Seelenleben des Erwachsenen und des Kindes.

    TI. Vortrag 25. Februar: Das Liebesbediirfnis des Kindes.

    III. Vortrag 3. März: Das Triebleben des Kindes; seine Ein- und
    Unterordnung.

    IV. Vortrag 10. März: Die zweifache Lüge der Erwachsenen in der
    Kinderstube.

    M Vortrag 17. März: Kinderlaunen, -unarten und -fehler.

    VI. Vortrag 24. März: Vom Fragen der Kinder,

    VII, Vortrag 31. Mirz: Das Kinderspiel.

    A ei i Kindertråume ; Tagtriume des Kindes.

    Е . à - April: Seelische Gesundheit des Kindes: die Vorbe-
    dingung zur Erzielung von Edelmenschen.

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    In der „Wiener Urania“ fand Sonn i
    tag den 27, Februar ein Vortrag
    von Dr. Hanns Sachs über „Traum und dichterische Phantasie“ statt.

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    Zwei Bücher von Herrn Prof. Freud, nämlich die „Studien über Hy-
    sterie (mit Breuer) und „Über Psychoanalyse, fünf Vorlesungen gehalten
    zur 20jährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester Mass.“ sind
    nunmehr in 3. Auflage im Verlage von F. Deuticke erschienen.

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    Im selben Verlage wurde ein neues Buch von Leo Kaplan (Zürich) ver-

    offentlicht, das den Titel ,Psychoanalytische Probleme“ führt.
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    Der Seminardirektor Dr. Schneider in Bern wurde von der Unterrichts-
    verwaltung seines Postens entsetzt. Die Grundlage dieser MaBregelung bildete
    der Bericht einer ,Expertenkommission“, welcher im Berner „Bund“ vom
    28. Jänner 1916 abgedruckt wurde. Wir reproduzieren im folgenden jenen
    Teil des Berichtes, der sich mit der Psychoanalyse beschäftigt und halten jede
    polemische Stellungnahme für überflüssig :

    „Eine besondere Beurteilung erfordert der Unterricht Dr. Schneiders
    in der Psychologie. Schon im Jahre 1912 — wenn nicht vorher — hat im
    Psychologieunterricht am Oberseminar die Psychoanalyse einen großen Teil der
    Unterrichtszeit fiir sich in Anspruch genommen. Auf das Bedenkliche dieser
    Tatsache muß mit allem Nachdruck hingewiesen werden. Beilage I, 18 ff,
    führt uns in eine Atmosphäre, von deren Vorhandensein sich kaum jemand
    einen Begriff zu machen wagte. Zum Gegenstand selbst bemerken wir fol-
    gendes: Ohne Zweifel hat die Psychoanalyse über das UnterbewuBtsein bemer-
    kenswerte Untersuchungen und Aufklirungen geliefert. Indessen fällt dem
    ruhig Urteilenden auf, daB einzelne Psychoanalytiker eine Formel gefunden
    zu haben glauben, mit der sie äußerst verwickelte Seelenvorgünge lösen wollen.
    Ferner überrascht das Gesuchte, Gektinstelte in vielen Beispielen, die
    Sich auch in den zusammenfassenden Buche von Dr. Pfistor in Zürich vor-
    finden. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß der Unter-
    suchende vielfach Dinge in die Menschen, insbesondere in die Kinder hinein-
    analysiert, von deren Richtigkeit er bloB durch theoretische Spekulation
    überzeugt worden sei. Beispiele finden sich in der Beilage. Es müßte also
    eigentlich überraschen, daB ein Seminardirektor alle diese Behauptungen und
    Scheinbeweise kritiklos entgegennimmt und sie zum Gegenstand einer aus-
    führlichen Behandlung im Seminarunterricht wählt. Aber Herr Dr. Schneider
    verfügt nieht über die Kraft, geistige oder rein praktische Materien zu erfassen
    und sie selbstindig zu verarbeiten, was schon in den Bemerkungen über
    sein Lehrverfahren eingangs angedeutet worden ist,

    Gesetzt nun aber den Fall, die Behauptungen der Psychoanalytiker seien
    von Anfang bis zu Ende richtig, so erhebt sich dennoch die Frage, ob dieses
    Gebiet im Seminarunterricht Verwertung finden solle. In dieser neuen Wissen-
    Schaft spielt das Sexuelle eine Hauptrolle. Für uns steht es fest, dab, falls
    die Psychoanalyse im Seminarunterrieht überhaupt berührt werden soll, dies
    mit demjenigen groBen MaB von Takt geschehen müsse, das wir für die
    sexuelle Aufklärung verlangen. "Theoretisch steht Dr. Schneider auf dem
    richtigen Boden, sagt doch der Beleg I, 21 u. ff: ,Deshalb sollte man in
    der Schule die Sache ganz natürlich erwähnen. . . nicht aufklären wollen, die
    Gelegenheit an den Haaren herbeiziehen ; in feiner taktvoller Weise, nicht grob
    und allzu naturalistisch sein wollen; denn es ist ein feiner Schleier über das
    Sexuelle gelegt, die natürliche Scham, sie ist wie der Staub auf den Flügeln

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    des Schmetterlings.* Dr. Schneider vergibt auch hier, wen er vor sich hat,
    Was er für den Unterricht in der Schule fordert, das fordern wir auch fiir
    den Unterricht im Seminar, wenn auch hier die Aufklärung weiter gehen darf,
    Nur fordert das „natürliche Erwähnen“ eben auch feinen Takt; der aber
    hat Dr. Schneider völlig gefehlt, Wie hätte er sich sonst monatelang mit
    seinen Schülern in diesem Schlamm des UnterbewuDtseins bewegen können?

    Was nun noch bedenklicher ist: Dr. Schneider hat Seminaristen ana-
    lysiert und dabei nicht bemerkt, daß er sich zum Schüler in ein Verhältnis
    begab, das beanstündet werden muß, Und was müssen wir halten von einem
    Volksschullehrer, der dann gestützt auf seinen Seminarunterricht seelische Re-
    gungen des Kindes kurzerhand auf die Sexualität zurückführt ?

    Ferner hat Dr. Schneider in den Klassen Jahr fiir Jahr einzelne
    Schüler hypnotisiert. Welch nachteilige Wirkungen auf die Willenskraft der
    Versuchsobjekte eintreten bedarf keines Beweises. Dr. Schneider hat ferner
    den Seminaristen die Anschaffung des Buches von Dr. Pfister empfohlen und
    erklärt noch jetzt, er sehe nicht ein, warum er das nicht tun solle, Er be-
    hauptet auch, was er jetzt treibe, sei gar nicht mehr Psychoanalyse.

    Wir wollen gern hoffen, daß er die krassen Ausführungen vom Jahre
    1912 seither gemieden habe; doch Beleg I, 10—17, beweist uns nur zur
    Gentige, daß er sich mit seiner Aussage täuscht und es ist bedenklich und
    für einen Seminardirektor endgültig belastend, daß er sich überhaupt jemals
    soweit hat gehen lassen und unbelehrbar ist.“

    Herr Dr. Schneider hat eine Erwiderung publiziert, in welcher er
    unter anderem darauf hinwies, daB das Werk Pfisters bei hervorragenden
    Fachminnern, wie dem verstorbenen Prof. Dürr, reiche Anerkennung ge-
    funden hat.