Schlusswort der Onanie-Diskussion 1912-061/1925.2
  • S.

    SCHLUSSVVORT DER ONANIE-DISKUSSION

    Meine Herren! Die älteren Mitglieder dieses Kreises werden
    sich zu erinnern wissen, daß wir schon vor mehreren Jahren den
    Versuch einer solchen Sammeldiskussion ‚ eines Symposions
    nach dem Ausdruck amerikanischer Kollegen — über das Thema
    der Onanie unternommen haben. Damals ergaben sich so bedeu—
    tende Abweichungen der geäußerten Meinungen, daß wir uns
    nicht getrauen konnten, unsere Verhandlungen der Öffentlichkeit
    vonulegen. Seither haben wir —— dieselben Personen wie auch
    neu hinzugekommene —— in unausgesetzter Berührung mit den
    Tatsachen der Erfahrung und in fortlaufendern Gedankeneustausch
    untereinander unsere Ansichten soweit geklärt und auf gemein-
    samen Boden gehoben, daß uns das damals unterlassene Weg-nis
    nicht mehr so groß erscheinen muß.

    Ich habe wirklich den Eindruck, daß die Übereinstimmungen
    unter uns über das Thema der Onanie jetzt stärker und tief—
    gehender sind als die — sonst nicht zu verleugnenden —
    Uneinigkeiten. Mancher Anschein eines Widerspruches wird nur
    durch die Vielseitigkeit der Gesichtspunkte, die Sie entwickelt
    haben, hervorgerufen, während es sich in Wahrheit um Ansichten
    handelt, die gut nebeneinander Raum finden.

    Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen ein Resumé vorführe, über
    welche Punkte wir einig oder uneinig zu sein scheinen

    Einig sind wir wohl alle:

  • S.

    Schlußwort der Onam'ediskmsiorl 597

    a) über die Bedeutung der den nnanistischen Akt begleitenden
    oder ihn vertretenden Phantasien,

    b) über die Bedeutung des mit der Onanie verknüpften Schuld—
    bewußtseins, woher immer dieses stammen mag, -

    c) über die Unmöglichkeit, eine qualitative Bedingung für die
    Schädlichkeit der Onanie anzugeben. (His-rüber nicht ohne
    Ausnahme einig.)

    Unausgeglichene Meinungsverschiedenheiten
    haben sich gezeigt:

    a) in Betreff der Leugnung des somatischen Faktors der Onanie-
    wirkung, '

    b) in Betrefl der Abweisung der Onanieschädlichkeit überhaupt7

    c) in Bezug auf die Herkunft des Schuldgefühls, das die einen
    von Ihnen direkt aus der Unbefriedigung ableiten wollen,
    während andere soziale Faktoren oder die jeweilige Ein-
    stellung der Persönlichkeit mit heranziehen,

    d) in Bezug auf die Ubiquität der Kinderonanie.

    Endlich bestehen bedeutungsvulle Unsicherheiten:

    a) über den Mechanismus der schädlichen Wirkung der
    0nanie, falls eine solche anzuerkennen ist,

    II) über die ätiologische Beziehung der Onanie zu den Aktual-
    neurosen.

    In den meisten der zwischen uns strittigen Punkte danken
    wir die Infragestellnng der auf starke und selbständige Erfahrung
    gestützten Kritik unseres Kollegen W. Stekel. Gewiß haben
    wir einer künftigen Schar von Beobachtern und Forschern noch
    sehr viel zur Feststellung und Klärung übrig gelassen, aber wir
    wollen uns damit trösten7 daß wir ehrlich und nicht enghenig
    gearbeitet und dabei Richtungen eingeschlagen haben, auf denen
    sich auch die spätere Forschung bewegen wird.

    Von meinen eigenen Beiträgen zu den uns beschäftigenden
    Fragen dürfen Sie nun nicht viel erwarten. Sie kennen meine
    Vorliebe für die fragmentarische Behandlung eines Gegenstandes

  • S.

    528 Beiträge zu den Wiener Diskussionen

    zugunsten der Hervorhebung jener Punkte, die mir die gesicherte
    sten scheinen. Ich habe nichts Neues zu geben, keine Lösungen,
    bloß einige Wiederholungen von Dingen, die ichschonfrüherein—
    mal behauptet, einige Verteidigungen dieser alten Aufstellungen
    gegen AngriFfe aus Ihrer Mitte, und dazu noch wenige Bemer—
    kungen, wie sie sich dem Zuhörer bei Ihren Vorträgen auf?
    drängen mußten.

    Ich habe bekanntlich die Onanie nach den Lehensaltem
    geschieden in I} die Säuglingsonanie, unter der alle autoerotischen,
    der sexuellen Befriedigung dienenden Vornahmen verstanden
    sind, 2) die Kinderonanie, die aus ersterer unmittelbar hervor-
    geht und sich bereits an bestimmten erogenen Zonen fixiert hat,
    und 3) die Pubertätsonanie, welche entweder an die Kinder-
    onanie anschließt oder durch die Latenzzeit von ihr getrennt ist.
    In manchen der Darstellungen, die ich von Ihnen gehört habe,
    ist diese zeitliche Scheidung nicht ganz zu ihrem Recht
    gekommen. Die durch den medizinischen Sprachgebrauch nahe—
    gelegte angebliche Einheit der Onanie hat manche allgemeine
    Behauptung veranlaßt, wo die Differenzierung nach jenen drei
    Lebensepochen eher berechtigt gewesen wäre. Ich habe es auch
    bedauert, daß wir die Onanie des Weibes nicht in ähnlichem
    Maße wie die des Mannes berücksichtigen konnten, und meine,
    die weibliche Onanie sei eines besonderen Studiums wert, und
    gerade bei ihr fiele ein starker Akzent auf die durch das Lebens-
    alter bedingten Modifikationen.

    Ich komme nun zu den Einwendungen, die Reitler gegen
    mein teleologisches Argument für die Ubiquität der Säuglings»
    Onanie gerichtet hat. Ich bekenne, daß ich dies Argument preis»
    gebe. Wenn die „Sexualtheorie“ noch eine Auflage erleben
    sollte, so wird diese den beanstandeten Satz nicht mehr ent?
    halten, Ich werde darauf verzichten, die Absichten der Natur
    erraten zu wollen, und werde mich damit begnügen, den Sach-
    verhalt zu beschreiben.

  • S.

    Schlußwort der Onanizdiskussian 599

    Auch Reitlers Bemerkung, daß gewisse nur dem Menschen
    eigenn'imliche Einrichtungen am Genitalapparat die Hintanhaltung
    des Sexualverkehrs im Kindesalter anzustreben scheinen, muß
    ich für sinnreich und bedeutsam erklären. Aber hier knüpfen
    meine Bedenken an. Der Verschluß der weiblichen Sexualhöhlung
    und der Wegfall des die Erektion versichernden Penisknochens
    sind doch nur gegen den Koitus selbst gerichtet, nicht gegen die
    sexuellen Erregungen überhaupt, Reitler scheint mir die Ziel—
    strebigkeit der Natur allzu menschenähnlich zu erfassen, als
    handle es sich bei ihr wie bei Menschenwerk um die konsequente
    Durchführung einer einzigen Absicht. Soviel wir sehen, gehen
    aber in den natürlichen Vorgängen meist eine ganze Reihe von
    Zielstrebungen nebeneinander her, ohne einander aufzuhehen.
    Wenn wir schon in menschlichen Terminis von der Natur
    sprechen, müssen wir sagen, sie erscheine uns als das, was wir
    beim Menschen inkonsequent heißen würden. Ich glaube meiner-
    seits, Reitler sollte nicht soviel Gewicht auf seine eigenen
    teleologischen Argumente legen. Die Verwertung der Teleologie
    als heuristische Hypothese hat ihre Bedenken; man weiß im
    einzelnen Falle nie, ob man an eine „Harmonie“ oder an eine
    „Disharmonie“ geraten ist. Es ist, wie wenn man einen Nagel
    in eine Zimmerwand einzuschlagen hat; man weiß nicht, trifft
    man auf eine Fuge oder auf den Stein.

    In der Frage des Zusammenhanges der Onanie und der
    Pollutionen mit der Verursachung der sog. Neurasthenie befinde
    ich mich, wie viele von Ihnen, im Gegensatz zu Stekel und
    halte gegen ihn meine früheren Angaben mit einer später anzu-
    führenden Einschränkung aufrecht. Ich sehe nichts, was uns
    nötigen könnte, auf die Unterscheidung von Aktualneurosen und
    Psychoneurosen zu verzichten, und kann die Genese der Sym—
    ptome bei den ersteren nur als eine toxische hinstellen. Kollege
    Stekel scheint mir hier die Psychogeneität wirklich sehr zu
    überspannen. Ich sehe es noch immer so, wie es mir zuerst vor

  • S.

    550 Beiträge zu den Wiener Dislmssiamm

    mehr als fünfzehn Jahren erschienen ist, daß die beiden Aktual-
    neurosen — Neurasthenie und Angstneurose _ (vielleicht ist
    die eigentliche Hypochondrie als dritte Aktualneurose anzureiben)
    das sometische Entgegenkommen für die Psychoneurosen leisten,
    des Erregungsmaterial liefern, welches dann psychisch ausgewählt
    und umkleidet wird, so daß, allgemein gesprochen, der Kern des
    psychoneurotischen Symptoms —— das Sandkorn im Zentrum der
    Perle — von einer sometischen Sexualäußerung gebildet wird.
    Dies ist fiir die Angstneurose und ihr Verhältnis zur Hysterie
    freilich deutlicher als für die Neuresthenie, über welche sorg.
    fältige psychoanalytische Untersuchungen noch nicht angestellt
    werden sind. Bei der Angstneurose ist es, wie Sie sich oftmals
    überzeugen konnten, im Grunde ein Stückchen der nicht abge-
    führten Koituserregung, welches als Angstsymptoni zum Vor-
    schein kommt oder den Kern einer hysterischen Symptombildung
    abgibt.

    Kollege Stekel teilt mit mehreren außerhalb der Psyche
    analyse stehenden Autoren die Neigung, die morphologischen
    Differenzierungen, die wir innerhalb des Gewirres der Neurosen
    statuiert haben, zu verwerfen und sie alle unter einen Hut ——
    etwa den der Psychasthenie —— zu bringen. Wir haben ihm darin
    oftmals widersprechen und halten an der Erwartung fest, daß
    sich die morphologisch»kliniscben Diflerenzen als noch unver—
    standene Anzeichen wesensverschiedener Prozesse wertvoll erweisen
    werden. Wenn er uns — mit Recht —— verhält, daß er beiden
    sog. Neurasthenikem regelmäßig dieselben Komplexe und Kon-
    flikte vorgefunden hat wie bei anderen Neurotikern, so trifft
    dies Argument wohl nicht die Streitfrage. Wir wissen längst,
    daß wir die nämlichen Komplexe und Konflikte auch bei allen
    Gesunden und Normalen zu erwarten haben. Ja, wir haben uns
    daran gewöhnt, jedem Kultur-menschen ein gewisses Maß von
    Verdrängung perverser Begungen, von Analerotik, Homosexualität
    u. dgl. sowie ein Stück Vater» und Mutterkomplex und noch

  • S.

    Schlußwart der Onan‘mliskussian 551

    andere Komplexe zuzumuten, wie wir bei der Elementaranalyse
    eines organischen Körpers die Elemente: Kohlenstoff, Sauerstoff,
    Wasserstoff, Stickstoff und etwas Schwefel mit Sicherheit nach-
    zuweisen hoffen. Was die organischen Körper voneinander unter-
    scheidet7 ist das Mengenverhältnis dieser Elemente und die
    Konstitution der Verbindungen, die sie miteinander eingehen.
    So handelt es sich bei den Normalen und Neurotikern nicht
    um die Existenz dieser Komplexe und Konflikte, sondern um
    die Frage, ob dieselben pathogen geworden sind, und wenn,
    welche Mechanismen sie dabei in Anspruch genommen haben,

    Das Wesentliche meiner seinerzeit aufgestellten und heute
    verteidigten Lehren über die Aktualneurosen liegt in der auf
    den Versuch gestützten Behauptung, daß deren Symptome nicht
    wie die psychoneurotischen analytisch zu zersetzen sind. Also
    daß die Obstipation, der Kopfschmerz, die Ermüdung der sog.
    Neurastheniker nicht die historische oder symbolische Zurück—
    führung auf wirksame Erlebnisse gestatten, sich nicht als sexuelle
    Ersatzbefriedigungen, als Kompromisse entgegengesetzter Trieb—
    regungen verstehen lassen wie die (eventuell selbst gleichartig
    erscheinenden) psychoneurotischen Symptome. Ich glaube nicht,
    daß es gelingen wird, diesen Satz mit Hilfe der Psychoanalyse
    umzustürzen. Dagegen räume ich heute ein, was ich damals
    nicht glauben konnte, daß eine analytische Behandlung indirekt
    auch einen heilenden Einfluß auf die Aktualsymptome nehmen
    kann, indem sie entweder dazu führt, daß die aktuellen Schäd—
    lichkeiten besser vertragen werden, oder indem sie das kranke
    Individuum in den Stand setzt, sich durch Änderung des sexu-
    ellen Regimes diesen aktuellen Schädlichkeiten zu entziehen.
    Das sind ja gewiß erwünschte Aussichten für unser therapeutisches
    Interesse.

    Sollte ich aber in der theoretischen Frage der Aktualneurosen
    am Ende des Irrtums überwiesen werden, so werde ich mich
    mit dem Fortschritt unserer Erkenntnis, der den Standpunkt des

  • S.

    559 Bßi!riige zu den Wiener Diskussan

    Einzelnen entwerten muß, zu trösten wissen. Sie werden nun
    fragen, warum ich bei so lohenswerten Einsichten in die not-
    wendige Begrenztheit der eigenen Unfehlharkeit nicht lieber
    gleich den neuen Anregungen nachgebe und es vorziehe, das oft
    gesehene Schauspiel des alten Mannes zu wiederholen, der starr
    an seinen Meinungen festhält, Ich antworte, weil ich die Evidenz
    noch nicht erkenne, der ich nachgehen soll. In früheren Jahren
    haben meine Ansichten manche Veränderung erfahren, die ich
    vor der Öffentlichkeit nicht verheimlicht habe. Man hat mir aus
    diesen Wandlungen Vorwürfe gemacht, wie man sie heute aus
    meinen Beharrungen machen wird. Nicht, daß mich diese oder
    jene Vorwürfe abschrecken würden. Aber ich weiß, ich habe ein
    Schicksal zu erfüllen. Ich kann ihm nicht entkommen und
    brauche ihm nicht entgegen zu gehen. Ich werde es abwarten
    und mich unterdes gegen unsere Wissenschaft so verhalten, wie
    ich es von früher her erlernt habe.

    Ungern nehme ich Stellung zu der von Ihnen viel behandelten
    Frage nach der Schädlichkeit der Onanie, denn dies ist kein
    ordentlicher Zugang zu den Problemen, die uns beschäftigen.
    Aber wir müssen es wohl alle. Die Welt scheint sich für nichts
    anderes an der Onanie zu interessieren. Wir hatten, wie Sie sich
    erinnern, an unseren ersten Diskussionsahenden über das Thema
    einen distinguierten Kinderarzt dieser Stadt als Gast in unserer
    Mitte. Was verlangte er in wiederholten Anfragen von uns zu
    erfahren? Nur, inwiefern die Onanie schädlich sei, und warum sie
    dem einen schade, dem anderen nicht. So müssen wir denn unsere
    Forschung nötigen, diesem praktischen Bedürfnis Rede zu stehen.

    Ich gestehe es, ich kann auch hierin nicht den Standpunkt
    Stekels teilen7 trotz der vielen tapferen und richtigen Bemer-
    kungen, die er uns über diese Frage vorgetragen hat. Für ihn
    ist die Schädlichkeit der Onanie eigentlich ein unsinniges Vor-
    urteil, welchem wir nur infolge persönlicher Beengung nicht
    gründlich genug abschwören wollen. Ich meine aber, wenn wir

  • S.

    Schlußwort der Onaniediskussion 555

    das Problem sine ira et studio —— soweit es eben uns möglich
    ist — ins Auge fassen, müssen wir eher aussagen, daß solche
    Parteinahme unseren grundlegenden Ansichten über die Ätiologie
    der Neurosen widerspricht. Die Onanie entspricht im wesentlichen
    der infantilen Sexualbetätigung und dann der Festhalth der-
    selben in reiferen Jahren. Die Neurosen leiten wir ab von einem
    Konflikt zwischen den Sexualstrebungen eines Individuums und
    seinen sonstigen (Ich-)Tendenzen. Nun könnte jemand sagen: für
    mich liegt der pathogene Faktor dieses ätiologischen Verhältnisses
    nur in der Reaktion des lchs gegen seine Sexualität. Er würde
    damit etwa behaupten, jede Person könnte sich frei von Neurose
    halten, wenn sie nur ihre sexuellen Strebungen ohne Ein-
    schränkung befriedigen wollte. Aber es ist offenbar willkürlich
    und sichtlich auch unzweckmäßig, so zu entscheiden und nicht
    auch die Sexualstrebungen selbst an der Pathogeneität teilnehmen
    zu lassen. Geben Sie aber zu, daß die sexuellen Antriebe pathogen
    wirken können, so dürfen Sie diese Bedeutung nicht mehr der
    Onanie streitig machen, die ja nur in der Ausführung solcher
    sexuellen Triebregungen besteht. Gewiß werden Sie in jedem
    Falle, der die Onanie als pathogen zu beschuldigen scheint, die
    Wirkung weiter zurückführen können, auf die Triebe, die sich
    in der Onanie äußern, und auf die Widerstände, die sich gegen
    diese Triebe richten; die Onanie ist ja weder somatisch noch
    psychologisch etwas Letztes, kein wirkliches Agens, sondern nur
    ein Name für gewisse Tätigkeiten, aber trotz aller Weiterführungen
    bleibt das Urteil über die Krankheitsverursachung doch mit Recht
    an diese Tätigkeit geknüpft. Vergessen Sie auch nicht daran, die
    Onanie ist nicht gleichzusetzen der Sexualbetätigung überhaupt,
    sondern ist solche Betätigung mit gewissen einschränkenden
    Bedingungen. Es bleibt also auch möglich, daß gerade diese
    Besonderheiten der onanistischen Betätigung die Träger ihrer
    pathogenen Wirkung seien.

    Wir werden also vom Argument weg wieder an die klinische

  • S.

    554

    Beiträge 54 den Wiener Diskussian

    Beobachtung gewiesen, und diese mahnt uns, die Rubrik
    „Schädliche Wirkungen der Onanie“ nicht zu streichen. Jedenfalls
    haben wir es bei den Neurosen mit Fällen zu tun, in denen
    die Onanie Schaden gebracht hat.

    Dieser Schaden scheint sich auf drei verschiedenen Wegen
    durchzusetzen:

    a)

    b)

    6)

    als organische Schädigung nach unhekanntem Mechanis-
    mus, wobei die von Ihnen oft erwähnten Gesichtspunkte
    der Maßlosigkeit und der inadäquaten Befriedigung in
    Betracht kommen.

    auf dem Wege der psychischen Vorbildlichkeit,
    insoferne zur Befriedigung eines großen Bedürfnisses nicht
    die Veränderung der Außenwelt angestrebt werden muß.
    Wo sich aber eine ausgiebige Reaktion auf diese Vorbild-
    lichkeit entwickelt, können die wertvollsten Charakter
    eigenschaften angebahnt werden.

    durch die Ermöglichung der Fixierung infantiler
    Sexualziele und des Verbleibens im psychischen
    Infantilismus. Damit ist dann die Disposition für den Verfall
    in Neurose gegeben. Als Psychoanalytiker müssen wir für
    diesen Erfolg der: Onanie — gemeint ist hier natürlich
    die Pubertätsonanie und die über die Zeit hinaus fort-
    gesetzte — das größte Interesse aufbringen. Halten wir
    uns vor Augen, welche Bedeutung die Onanie als Exekution
    der Phantasie gewinnt, dieses Zwischenreiches, welches
    sich zwischen dem Leben nach dem Lust‚ und dem nach
    dem Realitätsprinzip eingeschaltet hat, wie die Onanie es
    ermöglicht, in der Phantasie sexuelle Entwicklungen und
    Sublimierungen zu vollziehen, die doch keine Fortschritte,
    sondern nur schädliche Kompromißhilduugen sind. Derselhe
    Kompromiß macht allerdings nach Stekels wichtiger
    Bemerkung schwere Perversionsneigungen unschädlich und
    wendet die ärgsten Folgen der Abstinenz ab.

  • S.

    Schlußwart der Onaniediskusrion 555

    Eine dauernde Abschwächung der Potenz kann ich nach meinen
    ärztlichen Erfahrungen nicht aus der Reihe der Onaniefolgen
    ausschließen, wenngleich ich Stekel zugebe, daß sie in einer
    Anzahl von Fällen als bloß scheinbare zu entlarven ist. Gerade
    diese Folge der Onanie kann man aber nicht ohne weiteres zu
    den Schädigungen rechnen. Eine gewisse Herabsetzung der männ-
    lichen Potenz und der mit ihr verknüpften brutalen Initiative
    ist kulturell recht verwertbar. Sie erleichtert dem Kulturmenschen
    die Einhaltung der von ihm geforderten Tugenden der sexuellen
    Mäßigkeit und Verläßlichkeit. Tugend bei voller Potenz wird
    meist als eine schwierige Aufgabe erfunden.

    Wenn Ihnen diese Behauptung zynisch erscheint, so nehmen
    Sie an, daß sie nicht als Zynismus gemeint ist. Sie will nichts
    sein als ein Stück dürrer Beschreibung, dem es gleich gilt, ob
    es Wohlgefallen oder Ärgernis erwecken kann. Die Onanie hat
    eben auch, wie so vieles andere, les defauts de ses uertus und
    umgekehrt les L'ertus de ses defauts. Wenn man einen kompli-
    zierten sachlichen Zusammenhang in einseitig praktischen: Interesse
    auf Schaden oder Nutzen zerfasert7 wird man sich solche unlielr
    same Funde gefallen lassen müssen.

    Ich meine übrigens, daß wir mit Vorteil von einander trennen
    können, was man die direkten Schädigungen durch die Onanie
    heißen kann, und was sich in indirekter Weise aus dem
    Widerstand und der Auflehnung des Ichs gegen diese Sexual-
    betätigung ableitet. Auf diese letzteren Wirkungen bin ich hier
    nicht eingegangen.

    Nun noch einige notgedrungene Worte zur zweiten der an uns
    gerichteten peinlichen Fragen. Vorausgesetzt, daß die Onanie
    schädlich werden kann, unter welchen Bedingungen und bei
    welchen Individuen erweist sie sich als schädlich?

    Ich möchte mit der Mehrzahl von Ihnen eine allgemeine
    Beantwortung dieser Frage ablehnen. Sie deckt sich ja zu einem
    Teil mit der anderen umfassenderen Frage, wenn die sexuelle

  • S.

    556 Beiträge zu den Wiener Diskussionen

    Betätigung überhaupt für ein Individuum pathogen wird. Ziehen
    wir dieses Stück ab, so erübrigt eine Detailfrage, welche sich
    auf die Charaktere der Onanie bezieht, insoferne sie eine besondere
    Art und Weise der Sexualbefriedigung darstellt. Hier gälte es
    nun, Bekanntes und in anderem Zusammenhange Vorgebrachtcs
    zu wiederholen, den Einfluß des quantitativen Faktors und des
    Zusammenwirkens mehrfacher pathogen wirksamer Momente zu
    würdigen, vor allem aber müßten wir den sogenannten konstitu»
    tionellen Dispositionen des Individuums einen großen Platz ein»
    räumen. Gestehen wir es aber nur: es ist eine üble Sache, mit
    diesen zu arbeiten. Wir pflegen die individuelle Disposition nämlich
    ex post zu erschließen, nachträglich, wenn die Person bereits
    erkrankt ist, schreiben wir ihr diese oder jene Disposition zu.
    Wir haben kein Mittel zur Hand, sie vorher zu erraten. Wir
    benehmen uns da wie jener schottische König in einem Roman
    von Victor Hugo, der sich eines unfehlbaren Mittels rühmte,
    um die Hexerei zu erkennen. Er ließ die Beschuldigte in heißem
    Wasser abbrühen, und dann kostete er die Suppe. Je nach dem
    Geschmack urteilte er dann: Ja, das war eine Hexe, oder: Nein,
    das war keine.

    Ich könnte Sie noch auf ein Thema aufmerksam machen,
    welches in unseren Besprechungen zu wenig behandelt werden
    ist, das der sogenannten unbewußten Onanie. Ich meine die
    Onanie im Schlafe, in abnormen Zuständen, in Anfällen. Sie
    erinnern sich, wieviel hysterische Anfälle den onanistischen Akt
    in versteckter oder unkenntlicher Weise wiederbringen, nachdem
    das Individuum auf diese Art der Befriedigung verzichtet hat,
    und wieviel Symptome der Zwangsneurose diese einst verbotene
    Art der Sexualbetätigung zu ersetzen und zu wiederholen suchen.
    Man kann auch von einer therapeutischen Wiederkehr der Onanie
    sprechen. Mehrere von Ihnen werden bereits wie ich die Erfahrung
    gemacht haben, daß es einen großen Fortschritt bedeutet, wenn
    der Patient sich‚während der Behandlung wiederum der Onanie

  • S.

    Schlußworz der Omniedilrkum'an 557

    getrant, wenngleich er nicht die Absicht hat, dauernd auf dieser
    infnntilen Station zu verweilen. Ich darf Sie dabei auch daran
    mahnen, daß eine ansehnliche Zahl gerade der schwersten Neuroliker
    in den historischen Zeiten ihrer Erinnerung die Onanie vermieden
    hai7 während sich durch die Psychoanalyse nachweisen läßt, daß
    ihnen diese Sexualiätigkeit in vergessenen Frühzeiten keineswegs
    fremd geblieben war.

    Doch ich denke, wir brechen hier ab. Wir sind ja alle in dem
    Urteil einig, daß das Thema der Onanie schier nnerschöpflich ist.

    Freud. Ill. „