S.
SCHLUSSVVORT DER ONANIE-DISKUSSION
Meine Herren! Die älteren Mitglieder dieses Kreises werden
sich zu erinnern wissen, daß wir schon vor mehreren Jahren den
Versuch einer solchen Sammeldiskussion ‚ eines Symposions
nach dem Ausdruck amerikanischer Kollegen — über das Thema
der Onanie unternommen haben. Damals ergaben sich so bedeu—
tende Abweichungen der geäußerten Meinungen, daß wir uns
nicht getrauen konnten, unsere Verhandlungen der Öffentlichkeit
vonulegen. Seither haben wir —— dieselben Personen wie auch
neu hinzugekommene —— in unausgesetzter Berührung mit den
Tatsachen der Erfahrung und in fortlaufendern Gedankeneustausch
untereinander unsere Ansichten soweit geklärt und auf gemein-
samen Boden gehoben, daß uns das damals unterlassene Weg-nis
nicht mehr so groß erscheinen muß.Ich habe wirklich den Eindruck, daß die Übereinstimmungen
unter uns über das Thema der Onanie jetzt stärker und tief—
gehender sind als die — sonst nicht zu verleugnenden —
Uneinigkeiten. Mancher Anschein eines Widerspruches wird nur
durch die Vielseitigkeit der Gesichtspunkte, die Sie entwickelt
haben, hervorgerufen, während es sich in Wahrheit um Ansichten
handelt, die gut nebeneinander Raum finden.Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen ein Resumé vorführe, über
welche Punkte wir einig oder uneinig zu sein scheinenEinig sind wir wohl alle:
S.
Schlußwort der Onam'ediskmsiorl 597
a) über die Bedeutung der den nnanistischen Akt begleitenden
oder ihn vertretenden Phantasien,b) über die Bedeutung des mit der Onanie verknüpften Schuld—
bewußtseins, woher immer dieses stammen mag, -c) über die Unmöglichkeit, eine qualitative Bedingung für die
Schädlichkeit der Onanie anzugeben. (His-rüber nicht ohne
Ausnahme einig.)Unausgeglichene Meinungsverschiedenheiten
haben sich gezeigt:a) in Betreff der Leugnung des somatischen Faktors der Onanie-
wirkung, 'b) in Betrefl der Abweisung der Onanieschädlichkeit überhaupt7
c) in Bezug auf die Herkunft des Schuldgefühls, das die einen
von Ihnen direkt aus der Unbefriedigung ableiten wollen,
während andere soziale Faktoren oder die jeweilige Ein-
stellung der Persönlichkeit mit heranziehen,d) in Bezug auf die Ubiquität der Kinderonanie.
Endlich bestehen bedeutungsvulle Unsicherheiten:
a) über den Mechanismus der schädlichen Wirkung der
0nanie, falls eine solche anzuerkennen ist,II) über die ätiologische Beziehung der Onanie zu den Aktual-
neurosen.In den meisten der zwischen uns strittigen Punkte danken
wir die Infragestellnng der auf starke und selbständige Erfahrung
gestützten Kritik unseres Kollegen W. Stekel. Gewiß haben
wir einer künftigen Schar von Beobachtern und Forschern noch
sehr viel zur Feststellung und Klärung übrig gelassen, aber wir
wollen uns damit trösten7 daß wir ehrlich und nicht enghenig
gearbeitet und dabei Richtungen eingeschlagen haben, auf denen
sich auch die spätere Forschung bewegen wird.Von meinen eigenen Beiträgen zu den uns beschäftigenden
Fragen dürfen Sie nun nicht viel erwarten. Sie kennen meine
Vorliebe für die fragmentarische Behandlung eines GegenstandesS.
528 Beiträge zu den Wiener Diskussionen
zugunsten der Hervorhebung jener Punkte, die mir die gesicherte
sten scheinen. Ich habe nichts Neues zu geben, keine Lösungen,
bloß einige Wiederholungen von Dingen, die ichschonfrüherein—
mal behauptet, einige Verteidigungen dieser alten Aufstellungen
gegen AngriFfe aus Ihrer Mitte, und dazu noch wenige Bemer—
kungen, wie sie sich dem Zuhörer bei Ihren Vorträgen auf?
drängen mußten.Ich habe bekanntlich die Onanie nach den Lehensaltem
geschieden in I} die Säuglingsonanie, unter der alle autoerotischen,
der sexuellen Befriedigung dienenden Vornahmen verstanden
sind, 2) die Kinderonanie, die aus ersterer unmittelbar hervor-
geht und sich bereits an bestimmten erogenen Zonen fixiert hat,
und 3) die Pubertätsonanie, welche entweder an die Kinder-
onanie anschließt oder durch die Latenzzeit von ihr getrennt ist.
In manchen der Darstellungen, die ich von Ihnen gehört habe,
ist diese zeitliche Scheidung nicht ganz zu ihrem Recht
gekommen. Die durch den medizinischen Sprachgebrauch nahe—
gelegte angebliche Einheit der Onanie hat manche allgemeine
Behauptung veranlaßt, wo die Differenzierung nach jenen drei
Lebensepochen eher berechtigt gewesen wäre. Ich habe es auch
bedauert, daß wir die Onanie des Weibes nicht in ähnlichem
Maße wie die des Mannes berücksichtigen konnten, und meine,
die weibliche Onanie sei eines besonderen Studiums wert, und
gerade bei ihr fiele ein starker Akzent auf die durch das Lebens-
alter bedingten Modifikationen.Ich komme nun zu den Einwendungen, die Reitler gegen
mein teleologisches Argument für die Ubiquität der Säuglings»
Onanie gerichtet hat. Ich bekenne, daß ich dies Argument preis»
gebe. Wenn die „Sexualtheorie“ noch eine Auflage erleben
sollte, so wird diese den beanstandeten Satz nicht mehr ent?
halten, Ich werde darauf verzichten, die Absichten der Natur
erraten zu wollen, und werde mich damit begnügen, den Sach-
verhalt zu beschreiben.S.
Schlußwort der Onanizdiskussian 599
Auch Reitlers Bemerkung, daß gewisse nur dem Menschen
eigenn'imliche Einrichtungen am Genitalapparat die Hintanhaltung
des Sexualverkehrs im Kindesalter anzustreben scheinen, muß
ich für sinnreich und bedeutsam erklären. Aber hier knüpfen
meine Bedenken an. Der Verschluß der weiblichen Sexualhöhlung
und der Wegfall des die Erektion versichernden Penisknochens
sind doch nur gegen den Koitus selbst gerichtet, nicht gegen die
sexuellen Erregungen überhaupt, Reitler scheint mir die Ziel—
strebigkeit der Natur allzu menschenähnlich zu erfassen, als
handle es sich bei ihr wie bei Menschenwerk um die konsequente
Durchführung einer einzigen Absicht. Soviel wir sehen, gehen
aber in den natürlichen Vorgängen meist eine ganze Reihe von
Zielstrebungen nebeneinander her, ohne einander aufzuhehen.
Wenn wir schon in menschlichen Terminis von der Natur
sprechen, müssen wir sagen, sie erscheine uns als das, was wir
beim Menschen inkonsequent heißen würden. Ich glaube meiner-
seits, Reitler sollte nicht soviel Gewicht auf seine eigenen
teleologischen Argumente legen. Die Verwertung der Teleologie
als heuristische Hypothese hat ihre Bedenken; man weiß im
einzelnen Falle nie, ob man an eine „Harmonie“ oder an eine
„Disharmonie“ geraten ist. Es ist, wie wenn man einen Nagel
in eine Zimmerwand einzuschlagen hat; man weiß nicht, trifft
man auf eine Fuge oder auf den Stein.In der Frage des Zusammenhanges der Onanie und der
Pollutionen mit der Verursachung der sog. Neurasthenie befinde
ich mich, wie viele von Ihnen, im Gegensatz zu Stekel und
halte gegen ihn meine früheren Angaben mit einer später anzu-
führenden Einschränkung aufrecht. Ich sehe nichts, was uns
nötigen könnte, auf die Unterscheidung von Aktualneurosen und
Psychoneurosen zu verzichten, und kann die Genese der Sym—
ptome bei den ersteren nur als eine toxische hinstellen. Kollege
Stekel scheint mir hier die Psychogeneität wirklich sehr zu
überspannen. Ich sehe es noch immer so, wie es mir zuerst vorS.
550 Beiträge zu den Wiener Dislmssiamm
mehr als fünfzehn Jahren erschienen ist, daß die beiden Aktual-
neurosen — Neurasthenie und Angstneurose _ (vielleicht ist
die eigentliche Hypochondrie als dritte Aktualneurose anzureiben)
das sometische Entgegenkommen für die Psychoneurosen leisten,
des Erregungsmaterial liefern, welches dann psychisch ausgewählt
und umkleidet wird, so daß, allgemein gesprochen, der Kern des
psychoneurotischen Symptoms —— das Sandkorn im Zentrum der
Perle — von einer sometischen Sexualäußerung gebildet wird.
Dies ist fiir die Angstneurose und ihr Verhältnis zur Hysterie
freilich deutlicher als für die Neuresthenie, über welche sorg.
fältige psychoanalytische Untersuchungen noch nicht angestellt
werden sind. Bei der Angstneurose ist es, wie Sie sich oftmals
überzeugen konnten, im Grunde ein Stückchen der nicht abge-
führten Koituserregung, welches als Angstsymptoni zum Vor-
schein kommt oder den Kern einer hysterischen Symptombildung
abgibt.Kollege Stekel teilt mit mehreren außerhalb der Psyche
analyse stehenden Autoren die Neigung, die morphologischen
Differenzierungen, die wir innerhalb des Gewirres der Neurosen
statuiert haben, zu verwerfen und sie alle unter einen Hut ——
etwa den der Psychasthenie —— zu bringen. Wir haben ihm darin
oftmals widersprechen und halten an der Erwartung fest, daß
sich die morphologisch»kliniscben Diflerenzen als noch unver—
standene Anzeichen wesensverschiedener Prozesse wertvoll erweisen
werden. Wenn er uns — mit Recht —— verhält, daß er beiden
sog. Neurasthenikem regelmäßig dieselben Komplexe und Kon-
flikte vorgefunden hat wie bei anderen Neurotikern, so trifft
dies Argument wohl nicht die Streitfrage. Wir wissen längst,
daß wir die nämlichen Komplexe und Konflikte auch bei allen
Gesunden und Normalen zu erwarten haben. Ja, wir haben uns
daran gewöhnt, jedem Kultur-menschen ein gewisses Maß von
Verdrängung perverser Begungen, von Analerotik, Homosexualität
u. dgl. sowie ein Stück Vater» und Mutterkomplex und nochS.
Schlußwart der Onan‘mliskussian 551
andere Komplexe zuzumuten, wie wir bei der Elementaranalyse
eines organischen Körpers die Elemente: Kohlenstoff, Sauerstoff,
Wasserstoff, Stickstoff und etwas Schwefel mit Sicherheit nach-
zuweisen hoffen. Was die organischen Körper voneinander unter-
scheidet7 ist das Mengenverhältnis dieser Elemente und die
Konstitution der Verbindungen, die sie miteinander eingehen.
So handelt es sich bei den Normalen und Neurotikern nicht
um die Existenz dieser Komplexe und Konflikte, sondern um
die Frage, ob dieselben pathogen geworden sind, und wenn,
welche Mechanismen sie dabei in Anspruch genommen haben,Das Wesentliche meiner seinerzeit aufgestellten und heute
verteidigten Lehren über die Aktualneurosen liegt in der auf
den Versuch gestützten Behauptung, daß deren Symptome nicht
wie die psychoneurotischen analytisch zu zersetzen sind. Also
daß die Obstipation, der Kopfschmerz, die Ermüdung der sog.
Neurastheniker nicht die historische oder symbolische Zurück—
führung auf wirksame Erlebnisse gestatten, sich nicht als sexuelle
Ersatzbefriedigungen, als Kompromisse entgegengesetzter Trieb—
regungen verstehen lassen wie die (eventuell selbst gleichartig
erscheinenden) psychoneurotischen Symptome. Ich glaube nicht,
daß es gelingen wird, diesen Satz mit Hilfe der Psychoanalyse
umzustürzen. Dagegen räume ich heute ein, was ich damals
nicht glauben konnte, daß eine analytische Behandlung indirekt
auch einen heilenden Einfluß auf die Aktualsymptome nehmen
kann, indem sie entweder dazu führt, daß die aktuellen Schäd—
lichkeiten besser vertragen werden, oder indem sie das kranke
Individuum in den Stand setzt, sich durch Änderung des sexu-
ellen Regimes diesen aktuellen Schädlichkeiten zu entziehen.
Das sind ja gewiß erwünschte Aussichten für unser therapeutisches
Interesse.Sollte ich aber in der theoretischen Frage der Aktualneurosen
am Ende des Irrtums überwiesen werden, so werde ich mich
mit dem Fortschritt unserer Erkenntnis, der den Standpunkt desS.
559 Bßi!riige zu den Wiener Diskussan
Einzelnen entwerten muß, zu trösten wissen. Sie werden nun
fragen, warum ich bei so lohenswerten Einsichten in die not-
wendige Begrenztheit der eigenen Unfehlharkeit nicht lieber
gleich den neuen Anregungen nachgebe und es vorziehe, das oft
gesehene Schauspiel des alten Mannes zu wiederholen, der starr
an seinen Meinungen festhält, Ich antworte, weil ich die Evidenz
noch nicht erkenne, der ich nachgehen soll. In früheren Jahren
haben meine Ansichten manche Veränderung erfahren, die ich
vor der Öffentlichkeit nicht verheimlicht habe. Man hat mir aus
diesen Wandlungen Vorwürfe gemacht, wie man sie heute aus
meinen Beharrungen machen wird. Nicht, daß mich diese oder
jene Vorwürfe abschrecken würden. Aber ich weiß, ich habe ein
Schicksal zu erfüllen. Ich kann ihm nicht entkommen und
brauche ihm nicht entgegen zu gehen. Ich werde es abwarten
und mich unterdes gegen unsere Wissenschaft so verhalten, wie
ich es von früher her erlernt habe.Ungern nehme ich Stellung zu der von Ihnen viel behandelten
Frage nach der Schädlichkeit der Onanie, denn dies ist kein
ordentlicher Zugang zu den Problemen, die uns beschäftigen.
Aber wir müssen es wohl alle. Die Welt scheint sich für nichts
anderes an der Onanie zu interessieren. Wir hatten, wie Sie sich
erinnern, an unseren ersten Diskussionsahenden über das Thema
einen distinguierten Kinderarzt dieser Stadt als Gast in unserer
Mitte. Was verlangte er in wiederholten Anfragen von uns zu
erfahren? Nur, inwiefern die Onanie schädlich sei, und warum sie
dem einen schade, dem anderen nicht. So müssen wir denn unsere
Forschung nötigen, diesem praktischen Bedürfnis Rede zu stehen.Ich gestehe es, ich kann auch hierin nicht den Standpunkt
Stekels teilen7 trotz der vielen tapferen und richtigen Bemer-
kungen, die er uns über diese Frage vorgetragen hat. Für ihn
ist die Schädlichkeit der Onanie eigentlich ein unsinniges Vor-
urteil, welchem wir nur infolge persönlicher Beengung nicht
gründlich genug abschwören wollen. Ich meine aber, wenn wirS.
Schlußwort der Onaniediskussion 555
das Problem sine ira et studio —— soweit es eben uns möglich
ist — ins Auge fassen, müssen wir eher aussagen, daß solche
Parteinahme unseren grundlegenden Ansichten über die Ätiologie
der Neurosen widerspricht. Die Onanie entspricht im wesentlichen
der infantilen Sexualbetätigung und dann der Festhalth der-
selben in reiferen Jahren. Die Neurosen leiten wir ab von einem
Konflikt zwischen den Sexualstrebungen eines Individuums und
seinen sonstigen (Ich-)Tendenzen. Nun könnte jemand sagen: für
mich liegt der pathogene Faktor dieses ätiologischen Verhältnisses
nur in der Reaktion des lchs gegen seine Sexualität. Er würde
damit etwa behaupten, jede Person könnte sich frei von Neurose
halten, wenn sie nur ihre sexuellen Strebungen ohne Ein-
schränkung befriedigen wollte. Aber es ist offenbar willkürlich
und sichtlich auch unzweckmäßig, so zu entscheiden und nicht
auch die Sexualstrebungen selbst an der Pathogeneität teilnehmen
zu lassen. Geben Sie aber zu, daß die sexuellen Antriebe pathogen
wirken können, so dürfen Sie diese Bedeutung nicht mehr der
Onanie streitig machen, die ja nur in der Ausführung solcher
sexuellen Triebregungen besteht. Gewiß werden Sie in jedem
Falle, der die Onanie als pathogen zu beschuldigen scheint, die
Wirkung weiter zurückführen können, auf die Triebe, die sich
in der Onanie äußern, und auf die Widerstände, die sich gegen
diese Triebe richten; die Onanie ist ja weder somatisch noch
psychologisch etwas Letztes, kein wirkliches Agens, sondern nur
ein Name für gewisse Tätigkeiten, aber trotz aller Weiterführungen
bleibt das Urteil über die Krankheitsverursachung doch mit Recht
an diese Tätigkeit geknüpft. Vergessen Sie auch nicht daran, die
Onanie ist nicht gleichzusetzen der Sexualbetätigung überhaupt,
sondern ist solche Betätigung mit gewissen einschränkenden
Bedingungen. Es bleibt also auch möglich, daß gerade diese
Besonderheiten der onanistischen Betätigung die Träger ihrer
pathogenen Wirkung seien.Wir werden also vom Argument weg wieder an die klinische
S.
554
Beiträge 54 den Wiener Diskussian
Beobachtung gewiesen, und diese mahnt uns, die Rubrik
„Schädliche Wirkungen der Onanie“ nicht zu streichen. Jedenfalls
haben wir es bei den Neurosen mit Fällen zu tun, in denen
die Onanie Schaden gebracht hat.Dieser Schaden scheint sich auf drei verschiedenen Wegen
durchzusetzen:a)
b)
6)
als organische Schädigung nach unhekanntem Mechanis-
mus, wobei die von Ihnen oft erwähnten Gesichtspunkte
der Maßlosigkeit und der inadäquaten Befriedigung in
Betracht kommen.auf dem Wege der psychischen Vorbildlichkeit,
insoferne zur Befriedigung eines großen Bedürfnisses nicht
die Veränderung der Außenwelt angestrebt werden muß.
Wo sich aber eine ausgiebige Reaktion auf diese Vorbild-
lichkeit entwickelt, können die wertvollsten Charakter
eigenschaften angebahnt werden.durch die Ermöglichung der Fixierung infantiler
Sexualziele und des Verbleibens im psychischen
Infantilismus. Damit ist dann die Disposition für den Verfall
in Neurose gegeben. Als Psychoanalytiker müssen wir für
diesen Erfolg der: Onanie — gemeint ist hier natürlich
die Pubertätsonanie und die über die Zeit hinaus fort-
gesetzte — das größte Interesse aufbringen. Halten wir
uns vor Augen, welche Bedeutung die Onanie als Exekution
der Phantasie gewinnt, dieses Zwischenreiches, welches
sich zwischen dem Leben nach dem Lust‚ und dem nach
dem Realitätsprinzip eingeschaltet hat, wie die Onanie es
ermöglicht, in der Phantasie sexuelle Entwicklungen und
Sublimierungen zu vollziehen, die doch keine Fortschritte,
sondern nur schädliche Kompromißhilduugen sind. Derselhe
Kompromiß macht allerdings nach Stekels wichtiger
Bemerkung schwere Perversionsneigungen unschädlich und
wendet die ärgsten Folgen der Abstinenz ab.S.
Schlußwart der Onaniediskusrion 555
Eine dauernde Abschwächung der Potenz kann ich nach meinen
ärztlichen Erfahrungen nicht aus der Reihe der Onaniefolgen
ausschließen, wenngleich ich Stekel zugebe, daß sie in einer
Anzahl von Fällen als bloß scheinbare zu entlarven ist. Gerade
diese Folge der Onanie kann man aber nicht ohne weiteres zu
den Schädigungen rechnen. Eine gewisse Herabsetzung der männ-
lichen Potenz und der mit ihr verknüpften brutalen Initiative
ist kulturell recht verwertbar. Sie erleichtert dem Kulturmenschen
die Einhaltung der von ihm geforderten Tugenden der sexuellen
Mäßigkeit und Verläßlichkeit. Tugend bei voller Potenz wird
meist als eine schwierige Aufgabe erfunden.Wenn Ihnen diese Behauptung zynisch erscheint, so nehmen
Sie an, daß sie nicht als Zynismus gemeint ist. Sie will nichts
sein als ein Stück dürrer Beschreibung, dem es gleich gilt, ob
es Wohlgefallen oder Ärgernis erwecken kann. Die Onanie hat
eben auch, wie so vieles andere, les defauts de ses uertus und
umgekehrt les L'ertus de ses defauts. Wenn man einen kompli-
zierten sachlichen Zusammenhang in einseitig praktischen: Interesse
auf Schaden oder Nutzen zerfasert7 wird man sich solche unlielr
same Funde gefallen lassen müssen.Ich meine übrigens, daß wir mit Vorteil von einander trennen
können, was man die direkten Schädigungen durch die Onanie
heißen kann, und was sich in indirekter Weise aus dem
Widerstand und der Auflehnung des Ichs gegen diese Sexual-
betätigung ableitet. Auf diese letzteren Wirkungen bin ich hier
nicht eingegangen.Nun noch einige notgedrungene Worte zur zweiten der an uns
gerichteten peinlichen Fragen. Vorausgesetzt, daß die Onanie
schädlich werden kann, unter welchen Bedingungen und bei
welchen Individuen erweist sie sich als schädlich?Ich möchte mit der Mehrzahl von Ihnen eine allgemeine
Beantwortung dieser Frage ablehnen. Sie deckt sich ja zu einem
Teil mit der anderen umfassenderen Frage, wenn die sexuelleS.
556 Beiträge zu den Wiener Diskussionen
Betätigung überhaupt für ein Individuum pathogen wird. Ziehen
wir dieses Stück ab, so erübrigt eine Detailfrage, welche sich
auf die Charaktere der Onanie bezieht, insoferne sie eine besondere
Art und Weise der Sexualbefriedigung darstellt. Hier gälte es
nun, Bekanntes und in anderem Zusammenhange Vorgebrachtcs
zu wiederholen, den Einfluß des quantitativen Faktors und des
Zusammenwirkens mehrfacher pathogen wirksamer Momente zu
würdigen, vor allem aber müßten wir den sogenannten konstitu»
tionellen Dispositionen des Individuums einen großen Platz ein»
räumen. Gestehen wir es aber nur: es ist eine üble Sache, mit
diesen zu arbeiten. Wir pflegen die individuelle Disposition nämlich
ex post zu erschließen, nachträglich, wenn die Person bereits
erkrankt ist, schreiben wir ihr diese oder jene Disposition zu.
Wir haben kein Mittel zur Hand, sie vorher zu erraten. Wir
benehmen uns da wie jener schottische König in einem Roman
von Victor Hugo, der sich eines unfehlbaren Mittels rühmte,
um die Hexerei zu erkennen. Er ließ die Beschuldigte in heißem
Wasser abbrühen, und dann kostete er die Suppe. Je nach dem
Geschmack urteilte er dann: Ja, das war eine Hexe, oder: Nein,
das war keine.Ich könnte Sie noch auf ein Thema aufmerksam machen,
welches in unseren Besprechungen zu wenig behandelt werden
ist, das der sogenannten unbewußten Onanie. Ich meine die
Onanie im Schlafe, in abnormen Zuständen, in Anfällen. Sie
erinnern sich, wieviel hysterische Anfälle den onanistischen Akt
in versteckter oder unkenntlicher Weise wiederbringen, nachdem
das Individuum auf diese Art der Befriedigung verzichtet hat,
und wieviel Symptome der Zwangsneurose diese einst verbotene
Art der Sexualbetätigung zu ersetzen und zu wiederholen suchen.
Man kann auch von einer therapeutischen Wiederkehr der Onanie
sprechen. Mehrere von Ihnen werden bereits wie ich die Erfahrung
gemacht haben, daß es einen großen Fortschritt bedeutet, wenn
der Patient sich‚während der Behandlung wiederum der OnanieS.
Schlußworz der Omniedilrkum'an 557
getrant, wenngleich er nicht die Absicht hat, dauernd auf dieser
infnntilen Station zu verweilen. Ich darf Sie dabei auch daran
mahnen, daß eine ansehnliche Zahl gerade der schwersten Neuroliker
in den historischen Zeiten ihrer Erinnerung die Onanie vermieden
hai7 während sich durch die Psychoanalyse nachweisen läßt, daß
ihnen diese Sexualiätigkeit in vergessenen Frühzeiten keineswegs
fremd geblieben war.Doch ich denke, wir brechen hier ab. Wir sind ja alle in dem
Urteil einig, daß das Thema der Onanie schier nnerschöpflich ist.Freud. Ill. „
freudgs3
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