Zur sexuellen Aufklärung der Kinder 1907-003/1924
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    ZUR SEXUELLEN AUFKLARUNG DER
    KINDER

    OFFENER BRIEF AN Dr M. FURST

    Dieser Offene Brief erschien in „Soziale Medizin
    und Hygiene“, Bd. II, 1907, dann in der Zweiten Folge
    der „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“,

    Geehrter Herr Kollege!

    Wenn Sie von mir eine Äußerung über die „sexuelle Auf-
    klärung der Kinder“ verlangen, so nehme ich an, daß Sie keine
    regelrechte und förmliche Abhandlung mit Berücksichtigung der
    ganzen, über Gebühr angewachsenen Literatur erwarten, sondern
    das selbständige Urteil eines einzelnen Arztes hören wollen, dem
    seine Berufstätigkeit besondere Anregung geboten hat, sich mit
    den sexuellen Problemen zu beschäftigen. Ich weiß, daß Sie meine
    wissenschaftlichen Bemühungen mit Interesse verfolgt haben und
    mich nicht wie viele andere Kollegen darum ohne Prüfung
    abweisen, weil ich in der psychosexuellen Konstitution und in
    Schädlichkeiten des Sexuallebens die wichtigsten Ursachen der so
    häufigen neurotischen Erkrankungen erblicke; auch meine „Drei
    Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in denen ich die Zusammen-
    setzung des Geschlechtstriebes und die Störungen in der Entwicklung
    des Geschlechtstriebes zur Sexualfunktion darlege, haben kürzlich
    eine freundliche Erwähnung in Ihrer Zeitschrift gefunden.

    Ich soll Ihnen also die Fragen beantworten, ob man den
    Kindern überhaupt Aufklärungen über die Tatsachen des
    Geschlechtslebens geben darf, in welchem Alter dies geschehen

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    kann und in welcher Weise. Nehmen Sie nun gleich zu Anfang
    mein Geständnis entgegen, daß ich eine Diskussion über. den
    zweiten und dritten Punkt ganz begreiflich finde, daß es aber
    får meine Einsicht völlig unfaBbar ist, wie der erste dieser Frage-
    punkte ein Gegenstand von Meinungsverschiedenheit werden
    konnte. Was will man denn erreichen, wenn man den Kindern
    — oder sagen wir der Jugend --- solche Aufklårungen über das
    menschliche Geschlechtsleben vorenthált? Fürchtet man, ihr
    Interesse fiir diese Dinge vorzeitig zu wecken, ehe es sich in
    ihnen selbst regt? Ной man, durch solche Verhehlung den
    Geschlechtstrieb überhaupt zuriickzuhalten bis zur Zeit, da er
    in die ihm von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung allein
    geöffneten Bahnen einlenken kann? Meint man, daß die Kinder
    får die Tatsachen und Råtsel des Geschlechtslebens kein Inter-
    esse oder kein Verstindnis zeigten, wenn sie nicht von fremder
    Seite darauf hingewiesen würden? Hilt man es für möglich,
    daß ihnen die Kenntnis, welche man ihnen versagt, nicht auf
    anderen Wegen zugeführt wird? Oder verfolgt man wirklich
    und ernsthaft die Absicht, daß sie späterhin alles Geschlechtliche
    als etwas Niedriges und Verabscheuenswertes beurteilen mögen,
    von dem ihre Eltern und Erzieher sie so lange als möglich fern-
    halten wollten ? 1
    Ich weiß wirklich nicht, in welcher dieser Absichten ich
    das Motiv für das tatsächlich geübte Verstecken des Sexuellen
    vor den Kindern erblicken soll; ich weiß nur, daß sie alle gleich
    toricht sind, und daB es mir schwer fillt, sie durch ernsthafte
    Widerlegungen auszuzeichnen. Ich erinnere mich aber, daß ich
    in den Familienbriefen des groBen Denkers und Menschenfreundes
    Multatuli einige Zeilen gefunden habe, die als Antwort mehr
    als bloß genügen können."

    „Im allgemeinen werden einzelne Dinge nach meinem Gefühl
    zu sehr umschleiert. Man tut recht, die Phantasie der Kinder

    1) Multatuli- Briefe, herausgegeben von W. Spohr, 1906, Bd. I, S. 26. "

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    136 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    reinzuhalten, aber diese Reinheit wird nicht bewahrt durch
    Unwissenheit. Ich glaube eher, daB das Verdecken von etwas den
    Knaben und das Mädchen um so mehr die Wahrheit argwóhnen
    14Bt. Man spurt aus Neugierde Dingen nach, die uns, wenn sie
    uns ohne viel Umstände mitgeteilt würden, wenig oder kein
    Interesse einflóBen würden. Wäre diese Unwissenheit noch zu be-
    wahren, so könnte ich mich damit versShnen。 aber das ist nicht
    möglich; das Kind kommt in Berührung mit anderen Kindern, es
    bekommt Biicher in die Hånde, die es zum Nachdenken bringen;
    gerade die Geheimtuerei, womit das dennoch Begriffene von den
    Eltern behandelt wird, erhöht das Verlangen, mehr zu wissen.
    Dieses Verlangen, nur zum Teil, nur heimlich befriedigt, erhitzt
    das Herz und verdirbt die Phantasie, das Kind siindigt bereits, und
    die Eltern meinen noch, daß es nicht weiß, was Sünde ist.“
    Ich weiß nicht, was man hierüber Besseres sagen könnte,
    aber vielleicht läßt sich einiges hinzufügen. Es ist gewiß nichts
    anderes als die gewohnte Priiderie und das eigene schlechte
    Gewissen in Sachen der Sexualitåt, was die Erwachsenen zur
    » Geheïmtuerei“ vor den Kindern veranlaBt; aber möglicherweise
    wirkt da auch ein Stiick theoretischer Unwissenheit mit, dem
    man durch die Aufklårung der Erwachsenen entgegentreten kann.
    Man meint nåmlich, daB den Kindern der Geschlechtstrieb fehle
    und sich erst zur Pubertätszeit mit der Reife der Geschlechts-
    organe bei ihnen einstelle. Das ist ein grober, fiir die Kenntnis
    wie fiir die Praxis folgenschwerer Irrtum. Es ist so leicht, ihn
    durch die Beobachtung zu korrigieren, daB man sich verwundern
    muß, wie er überhaupt entstehen konnte. In Wahrheit bringt
    das Neugeborene Sexualität mit auf die Welt, gewisse Sexual-
    empfindungen begleiten seine Entwicklung durch die Säuglings-
    und Kinderzeiten, und die wenigsten Kinder dürften sexuellen
    Betätigungen und Empfindungen vor ihrer Pubertät entgehen.
    Wer die ausführliche Darlegung dieser Behauptungen kennen
    lernen will, möge sie in meinen erwähnten , Drei Abhandlungen

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    zur Sexualtheorie, Wien 1905“ aufsuchen. Er wird dort erfahren,
    daB die eigentlichen Reproduktionsorgane nicht die einzigen
    Körperteile sind, welche sexuelle Lustempfindungen vermitteln,
    und daB die Natur es recht zwingend so eingerichtet hat, daB
    selbst Reizungen der Genitalien wåhrend der Kinderzeit unver-
    meidlich sind. Man bezeichnet diese Lebenszeit, in welcher durch
    die Erregung verschiedener Hautstellen (erogener Zonen), durch
    die Betätigung gewisser biologischer Triebe und als Miterregung
    bei vielen affektiven Zustinden ein gewisser Betrag von sicher
    sexueller Lust erzeugt wird, mit einem von Havelock Ellis
    eingefithrten Ausdrucke als die Periode des Autoerotismus. Die
    Pubertät leistet nichts anderes, als daß sie unter allen lust-
    erzeugenden Zonen und Quellen den Genitalien das Primat
    verschafft und dadurch die Erotik in den Dienst der Fortpflanzungs-
    funktion zwingt, ein ProzeB, der natiirlich gewissen Hemmungen
    unterliegen kann und sich bei vielen Personen, den spåteren
    Perversen und Neurotikern, nur in unvollkommener Weise voll-
    zieht. Anderseits ist das Kind der meisten psychischen Leistungen
    des Liebeslebens (der Zårtlichkeit, der Hingebung, der Eifersucht)
    lange vor erreichter Pubertåt fåhig, und oft genug stellt sich auch
    der Durchbruch dieser seelischen Zustände zu den körperlichen
    Empfindungen der Sexualerregung her, so daß das Kind über
    die Zusammengehórigkeit der beiden nicht im Zweifel bleiben
    kann. Kurz gesagt, das Kind ist lange vor der Pubertät ein bis auf
    die Fortpflanzungsfåhigkeit fertiges Liebeswesen, und man darf es
    aussprechen, daß man ihm mit jener , Geheimtuerei“ nur die Fähig-
    keit zur intellektuellen Bewältigung solcher Leistungen vorenthält,
    für die es psychisch vorbereitet und somatisch eingestellt ist.
    Das intellektuelle Interesse des Kindes für die Rätsel des
    Geschlechtslebens, seine sexuelle Wißbegierde äußert sich denn
    auch zu einer unvermutet frühen Lebenszeit. Es muß wohl so
    zugehen, daß die Eltern für dieses Interesse des Kindes wie mit
    Blindheit geschlagen sind oder sich sofort bemühen, es zu

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    138 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    ersticken, falls sie es nicht übersehen können, wenn Beobachtungen
    wie die nun mitzuteilende nicht häufiger gemacht werden können.
    Ich kenne da einen prächtigen Jungen von jetzt vier Jahren,
    dessen verständige Eltern darauf verzichten, ein Stück der Ent-
    wicklung des Kindes gewaltsam zu unterdrücken. Der kleine
    Hans, der sicherlich keinem verführenden Einflusse von seiten
    einer Warteperson unterlegen ist, zeigt schon seit einiger Zeit
    das lebhafteste Interesse für jenes Stück seines Körpers, das. er
    als „Wiwimacher“ zu bezeichnen pflegt. Schon mit drei Jahren
    hat er die Mutter gefragt: „Mama, hast du auch einen Wiwi-
    macher?“ Worauf die Mama geantwortet: „Natürlich, was hast
    du denn gedacht?“ Dieselbe Frage hat er zu wiederholten Malen
    an den Vater gerichtet. Im selben Alter zuerst in einen Stall
    geführt, hat er beim Melken einer Kuh zugeschaut und dann
    verwundert ausgerufen: „Schau, aus dem Wiwimacher kommt
    Milch.“ Mit dreidreiviertel Jahren ist er auf dem Wege, durch
    seine Beobachtungen selbständig richtige Kategorien zu entdecken.
    Er sieht, wie aus einer Lokomotive Wasser ausgelassen wird und
    sagt: „Schau, die Lokomotive macht Wiwi; wo hat sie denn den
    Wiwimacher?“ Später setzt er nachdenklich hinzu: „Ein Hund
    und ein Pferd hat einen Wiwimacher; ein Tisch und ein Sessel
    nicht.“ Vor kurzem hat er zugesehen, wie man sein einwöchiges
    Schwesterchen badet, und dabei bemerkt: „Aber ihr Wiwi-
    macher ist noch klein. Wenn sie wächst, wird er schon größer
    werden.“ (Dieselbe Stellung zum Problem der Geschlechtsunter-
    schiede ist mir auch von anderen Knaben gleichen Alters berichtet
    worden.) Ich möchte ausdrücklich bestreiten, daß der kleine Hans
    ein sinnliches oder gar ein pathologisch veranlagtes Kind sei; ich
    meine nur, er ist nicht eingeschüchtert worden, wird nicht vom
    Schuldbewußtsein geplagt und gibt darum arglos von seinen
    Denkvorgüngen Kunde.’

    り [Zusatz 1924 2] Über die spätere neurotische Erkrankung und Herstellung dieses
    „kleinen Hans“ siehe „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“ im VIIL Band
    dieser Gesamtausgabe.

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    Das zweite große Problem, welches dem Denken der Kinder
    — wohl erst in etwas späteren Jahren — Aufgaben stellt, ist
    die Frage nach der Herkunft der Kinder, die zumeist an die
    unerwünschte Erscheinung eines neuen kleinen Bruders oder
    Schwesterchens anknüpft. Es ist dies die älteste und die brennendste
    Frage der jungen Menschheit; wer Mythen und Überlieferungen
    zu deuten versteht, kann sie aus dem Rätsel heraushören, welches
    die thebaische Sphirix dem Odipus aufgibt. Durch die in der
    Kinderstube gebräuchlichen Antworten wird der ehrliche Forscher-
    trieb des Kindes verletzt, meist auch dessen Vertrauen zu seinen
    Eltern zum erstenmal erschüttert; von da an beginnt es zumeist
    den Erwachsenen zu mißtrauen und seine intimsten Interessen
    vor ihnen geheimzuhalten. Ein kleines Dokument mag zeigen,
    wie quälend sich gerade diese Wißbegierde oft bei älteren Kindern
    gestaltet, der Brief eines mutterlosen, elfeinhalbjährigen Mädchens,
    welches über das Problem mit seiner jüngeren Schwester
    spekuliert hat:

    „Liebe Tante Mali!“

    „Ich bitte Dich, sei so gut und schreibe mir, wie Du die Christel oder
    den Paul bekommen hast, Du mußt es ja wissen, da Du verheiratet bist.
    Wir haben uns nämlich gestern abend darüber gestritten und wünschen
    die Wahrheit zu wissen. Wir haben ja sonst niemanden, den wir fragen
    könnten. Wann kommt Ihr denn nach Salzburg? Weißt Du, liebe Tante
    Mali, wir können halt nicht begreifen, wie der Storch die Kinder bringt.
    Trudel hat geglaubt, der Storch bringt sie im Hemde. Dann möchten wir
    auch wissen, ob er sie aus dem Teiche nimmt und warum man die
    Kinder nie im Teich sieht. Ich bitte Dich, sag’ mir auch, wieso man
    vorher weiß, wann man sie bekommt. Schreibe mir darüber ausführlich
    Antwort,

    Mit tausend Grüßen und Küssen von uns allen

    Deine neugierige Lilli.“

    Ich glaube nicht, daß dieser rührende Brief den beiden Schwestern
    die geforderte Aufklärung brachte. Die Schreiberin ist später an

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    140 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    jener Neurose erkrankt, die sich von unbeantworteten unbewuBten
    Fragen ableitet, an Zwangsgrübelsucht."

    Ich glaube nicht, daB nur ein einziger Gand vorliegt, um
    Kindern die Aufklärung, nach der ihre WiBbegierde verlangt, zu
    verweigern. Freilich, wenn es die Absicht der Erzieher ist, die
    Fähigkeit der Kinder zum selbständigen Denken möglichst früh-
    zeitig zugunsten der so hochgeschåtzten ,,Bravheit zu ersticken,
    so kann dies nicht besser als durch Irreführung auf sexuellem
    und durch Einschüchterung auf religiósem Gebiete versucht
    werden. Die stärkeren Naturen widerstehen allerdings diesen
    Beeinflussungen und werden zu Rebellen gegen die elterliche und
    später gegen jede andere Autorität. Erhalten die Kinder jene
    Aufklärungen nicht, um die sie sich an Ältere gewendet haben,
    so quälen sie sich im Geheimen mit dem Problem weiter und
    bringen Lösungsversuche zustande, in denen das geahnte Richtige
    auf die merkwürdigste Weise mit grotesk Unrichtigem vermengt
    ist, oder sie flüstern einander Mitteilungen zu, in welchen zufolge
    des Schuldbewußtseins der jugendlichen Forscher dem Sexualleben
    das Gepräge des Gräßlichen und Ekelhaften aufgedrückt wird.
    Diese kindlichen Sexualtheorien wären wohl einer Sammlung und
    Würdigung wert. Meist haben die Kinder von diesem Zeitpunkte
    an die einzig richtige Stellung zu den Fragen des Geschlechts
    verloren, und viele unter ihnen finden sie überhaupt nicht
    wieder.

    Es scheint, daß die überwiegende Mehrheit männlicher und
    weiblicher Autoren, welche über die sexuelle Aufklärung der
    Jugend geschrieben haben, sich im bejahenden Sinn entscheiden.
    Aber aus dem Ungeschick der meisten Vorschläge, wann und
    wie dies zu geschehen hat, ist man versucht zu schließen, daß
    dies Zugeständnis den Betreffenden nicht leicht geworden ist.
    Ganz vereinzelt steht nach meiner Literaturkenntnis jener
    reizende Aufklärungsbrief da, den eine Frau Emma Eckstein

    1) Die Grübelsucht machte aber nach Jahren einer Dementia praecox Platz,

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    Zur sexuellen Aufklirung der Kinder 141

    an ihren etwa zehnjåhrigen Sohn zu schreiben vorgibt.‘ Wie
    man es sonst macht, daß man den Kindern die längste Zeit jede
    Kenntnis des Sexuellen vorenthilt, um ihnen dann einmal in
    schwülstig-feierlichen Worten eine auch nur halb aufrichtige
    Eröffnung zu schenken, die überdies meist zu spit kommt, das
    ist offenbar nicht ganz das Richtige. Die meisten Beantwortungen
    der Frage „wie sag's ich meinem Kinde?“ machen mir
    wenigstens einen so kliglichen Eindruck, daß ich vorziehen
    würde, wenn die Eltern sich überhaupt nicht um die Aufklärung
    bekümmern würden. Es kommt vielmehr darauf an, daß die
    Kinder niemals auf die Idee geraten, man wolle ihnen aus den
    Tatsachen des Geschlechtslebens eher ein Geheimnis machen als
    aus anderem, was ihrem Verstündnisse noch nicht zugünglich ist.
    Und um dies zu erzielen, ist es erforderlich, daB das Geschlecht-
    liche von allem Anfange an gleich wie anderes Wissenswerte
    behandelt werde. Vor allem ist es Aufgabe der Schule, der
    Erwähnung des Geschlechtlichen nicht auszuweichen, die großen
    Tatsachen der Fortpflanzung beim Unterrichte über die Tierwelt
    in ihre Bedeutung einzusetzen und sogleich zu betonen, daß der
    Mensch alles Wesentliche seiner Organisation mit den hóheren
    Tieren teilt. Wenn dann das Haus nicht auf Denkabschreckung
    hinarbeitet, wird es sich wohl öfter ereignen, was ich einmal in
    einer Kinderstube belauscht habe, daß ein Knabe seinem jüngeren
    Schwesterchen vorhålt: „Aber wie kannst du denken, daß der
    Storch die kleinen Kinder bringt. Du weißt ja, daß der Mensch
    ein Säugetier ist, und glaubst du denn, daB der Storch den
    anderen Säugetieren die Jungen bringt?“ Die Neugierde des
    Kindes wird dann nie einen hohen Grad erreichen, wenn sie
    auf jeder Stufe des Lernens die entsprechende Befriedigung findet.
    Die Aufklärung über die spezifisch menschlichen Verhältnisse des
    Geschlechtslebens und der Hinweis auf die soziale Bedeutung
    desselben hätte sich dann am Schlusse des Volksschulunterrichtes

    1) E. Eckstein, Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes. 1904.

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    142 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    (und vor Eintritt in die Mittelschule), also nicht nach dem
    Alter von zehn Jahren, anzuschließen. Endlich würde sich der
    Zeitpunkt der Konfirmation wie kein anderer dazu eignen, dem
    bereits über alles Körperliche aufgeklärten Kinde die sittlichen
    Verpflichtungen, welche an die Ausübung des Triebes geknüpft
    sind, darzulegen. Eine solche stufenweise fortschreitende und
    eigentlich zu keiner Zeit unterbrochene Aufklärung über das
    Geschlechtsleben, zu welcher die Schule die Initiative ergreift,
    erscheint mir als die einzige, welche der Entwicklung des Kindes
    Rechnung trägt und darum die vorhandene Gefahr glücklich
    vermeidet.

    Ich halte es für den bedeutsamsten Fortschritt in der Kinder-
    erziehung, daß der französische Staat an Stelle des Katechismus
    ein Elementarbuch eingeführt hat, welches dem Kinde die ersten
    Kenntnisse seiner staatsbürgerlichen Stellung und der ihm dereinst
    zufallenden ethischen Pflichten vermittelt. Aber dieser Elementar-
    unterricht ist in arger Weise unvollständig, wenn er nicht das
    Gebiet des Geschlechtslebens mit umschließt. Hier ist die Lücke,
    deren Ausfüllung Erzieher und Reformer in Angriff nehmen
    sollten! In Staaten, welche die Kindererziehung ganz oder teil-
    weise in den Händen der Geistlichkeit belassen haben, darf man
    allerdings solche Forderung nicht erheben. Der Geistliche wird
    die Wesensgleichheit von Mensch und Tier nie zugeben, da er
    auf die unsterbliche Seele nicht verzichten kann, die er braucht,
    um die Moralforderung zu begründen. So bewährt es sich denn
    wieder einmal, wie unklug es ist, einem zerlumpten Rock einen
    einzigen seidenen Lappen aufzunähen, wie unmöglich es ist, eine
    vereinzelte Reform durchzuführen, ohne an den Grundlagen des
    Systems zu ändern!