S.
UBER INFANTILE SEXUALTHEORIEN
Erschien in ,Serualprobleme“, der Zeitschrift
„Mutterschutz“, Neue Folge, IX. Jahrgang 1908;
dann in der zweiten Folge der „Sammlung Kleiner
Schriften zur Neurosenlehre“,Das Material, auf welches die nachstehende Zusammen-
stellung sich stiitzt, stammt aus mehreren Quellen. Erstens aus
der unmittelbaren Beobachtung der ÅuBerungen und des Treibens
der Kinder, zweitens aus den Mitteilungen erwachsener Neuro-
tiker, die wåhrend einer psychoanalytischen Behandlung erzåhlen,
was sie von ihrer Kinderzeit bewuBt in Erinnerung haben, und
zum dritten Anteile aus den Schliissen, Konstruktionen und ins
BewuBte übersetzten unbewuBten Erinnerungen, die sich aus den
Psychoanalysen mit Neurotikern ergeben.DaB die erste dieser drei Quellen nicht får sich allein alles
Wissenswerte geliefert hat, begriindet sich durch das Verhalten
der Erwachsenen gegen das kindliche Sexualleben. Man mutet
den Kindern keine Sexualtåtigkeit zu, gibt sich darum keine
Miihe, eine solche zu beobachten, und unterdriickt anderseits die
Äußerungen derselben, die der Aufmerksamkeit würdig wären.
Die Gelegenheit, aus dieser lautersten und ergiebigsten Quelle
zu schöpfen, ist daher eine recht eingeschränkte. Was aus den
unbeeinflußten Mitteilungen Erwachsener über ihre bewußten
Kindheitserinnerungen stammt, unterliegt höchstens der Ein-
wendung der möglichen Verfälschung in der Rückschau, wird
aber außerdem nach dem Gesichtspunkte zu werten sein, daßS.
Uber infantile Sexualtheorien 169
die Gewåhrspersonen später neurotisch geworden sind. Das
Material der dritten Herkunft wird allen Anfechtungen unter-
liegen, die man gegen die VerlåBlichkeit der Psychoanalyse und
die Sicherheit der aus ihr gezogenen Schliisse ins Feld zu fithren
pflegt; die Rechtfertigung dieses Urteils kann also hier nicht
versucht werden; ich will nur versichern, daB derjenige, welcher
die psychoanalytische Technik kennt und ausiibt, ein weitgehen-
des Zutrauen zu ihren Ergebnissen gewinnt.Fir die Vollständigkeit meiner Resultate kann ich nicht ein-
stehen, bloB får die Sorgfalt, mit der ich mich um ihre
Gewinnung bemiiht habe.Eine schwierige Frage bleibt es, zu entscheiden, inwieweit
man das, was hier von den ‘Kindern im allgemeinen berichtet
wird, von allen Kindern, das heiBt von jedem einzelnen Kinde,
voraussetzen darf. Erziehungsdruck und verschiedene Intensität
des Sexualtriebes werden gewiß große individuelle Schwankungen
im Sexualverhalten des Kindes ermöglichen, vor allem das zeit-
liche Auftreten des kindlichen Sexualinteresses beeinflussen. Ich
habe darum meine Darstellung nicht nach aufeinanderfolgenden
Kindheitsepochen gegliedert, sondern in einem zusammengefaßt,
was bei verschiedenen Kindern bald früher, bald später zur
Geltung kommt. Es ist meine Überzeugung, daß sich doch kein
Kind — kein vollsinniges wenigstens oder gar geistig begabtes
— der Beschäftigung mit den sexuellen Problemen in den Jahren
vor der Pubertät entziehen kann.Ich denke nicht groß von dem Einwurfe, daß die Neurotiker
eine besondere, durch degenerative Anlage ausgezeichnete
Menschenklasse sind, aus deren Kinderleben auf die Kindheit
anderer zu schließen untersagt sein müßte. Die Neurotiker sind
Menschen wie andere auch, von den normalen nicht scharf abzu-
grenzen, in ihrer Kindheit nicht immer leicht von denjenigen,
die später gesund bleiben, zu unterscheiden. Es ist eines der wert-
vollsten Ergebnisse unserer psychoanalytischen Untersuchungen,S.
170 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
daß ihre Neurosen keinen besonderen, ihnen eigentümlich und
allein zukommenden psychischen Inhalt haben, sondern daß sie,
wie C. G. Jung es ausdriickt, an denselben Komplexen erkranken,
mit denen auch wir Gesunde kämpfen. Der Unterschied ist nur
der, daß die Gesunden diese Komplexe zu bewältigen wissen
ohne groben, praktisch nachweisbaren Schaden, während den
Nervösen die Unterdrückung dieser Komplexe nur um den Preis
von kostspieligen Ersatzbildungen gelingt, also praktisch mißlingt.
Nervöse und Normale stehen einander in der Kindheit natürlich noch
viel näher als im späteren Leben, so daß ich einen methodischen
Fehler nicht darin erblicken kann, die Mitteilungen von Neu-
rotikern über ihre Kindheit zu Analogieschlüssen über das normale
Kindheitsleben zu verwerten. Da aber die späteren Neurotiker
sehr häufig einen besonders starken Geschlechtstrieb und eine
Neigung zur Frühreife, vorzeitiger Äußerung desselben, in ihrer
Konstitution mitbringen, werden sie uns vieles von der infantilen
Sexualbetåtigung greller und deutlicher erkennen lassen, als
unserer ohnedies stumpfen Beobachtungsgabe an anderen Kindern
möglich wäre. Der wirkliche Wert dieser von erwachsenen Neu-
rotikern herrührenden Mitteilungen wird sich allerdings erst
abschätzen lassen, wenn man nach dem Vorgange von Havelock
Ellis auch die Kindheitserinnerungen erwachsener Gesunder der
Sammlung gewürdigt haben wird.Infolge der Ungunst äußerer wie innerer Verhältnisse haben
die nachstehenden Mitteilungen vorwiegend nur auf die Sexual-
entwicklung des einen Geschlechtes, ‚des männlichen nämlich,
Bezug. Der Wert einer Sammlung aber, wie ich sie hier versuche,
braucht kein bloß deskriptiver zu sein. Die Kenntnis der infantilen
Sexualtheorien, wie sie sich im kindlichen Denken gestalten, kann
nach verschiedenen Richtungen interessant sein, überraschender-
weise auch für das Verständnis der Mythen und Märchen.
Unentbehrlich bleibt sie aber für die Auffassung der Neurosen
selbst, innerhalb deren diese kindlichen Theorien noch in GeltungS.
Uber infantile Sexualtheorien 171
sind und einen bestimmenden Einfluß auf die Gestaltung der
Symptome gewinnen,* 5 *
Wenn wir unter Verzicht auf unsere Leiblichkeit als bloß
denkende Wesen, etwa von einem anderen Planeten her, die
Dinge dieser Erde frisch ins Auge fassen könnten, so würde viel-
leicht nichts anderes unserer Aufmerksamkeit mehr auffallen als
die Existenz zweier Geschlechter unter den Menschen, die ein-
ander sonst so ähnlich, doch durch die äußerlichsten Anzeichen
ihre Verschiedenheit betonen. Es scheint nun nicht, daß auch die
Kinder diese Grundtatsache zum Ausgange ihrer Forschungen
über sexuelle Probleme wählen. Da sie Vater und Mutter kennen,
soweit sie sich ihres Lebens erinnern, nehmen sie deren Vorhanden-
sein als eine weiter nicht zu untersuchende Realität hin, und
ebenso verhält sich der Knabe gegen ein Schwesterchen, von
dem er nur durch eine geringe Altersdifferenz von ein oder zwei
Jahren getrennt ist. Der Wissensdrang der Kinder erwacht hier
überhaupt nicht spontan, etwa infolge eines eingeborenen Kausalitäts-
bedürfnisses, sondern unter dem Stachel der sie beherrschenden
eigensüchtigen Triebe, wenn sie — etwa nach Vollendung des
zweiten Lebensjahres — von der Ankunft eines neuen Kindes
betroffen werden. Diejenigen Kinder, deren Kinderstube nicht
im Hause selbst eine solche Einquartierung empfängt, sind dann
noch imstande, sich nach ihren Beobachtungen in anderen Häusern
in diese Situation zu versetzen. Der selbst erfahrene oder mit
Recht befürchtete Entgang an Fürsorge von seiten der Eltern, die
Ahnung, allen Besitz von nun an für alle Zeiten mit dem Neu-
ankömmlinge teilen zu müssen, wirken erweckend auf das
Gefühlsleben des Kindes und verschärfend auf seine Denkfähigkeit.
Das ältere Kind äußert unverhohlene Feindseligkeit gegen den
Konkurrenten, die sich in unliebenswürdiger Beurteilung desselben,
in Wünschen, daß „der Storch ihn wieder mitnehmen möge“
und dergleichen Luft macht und gelegentlich selbst zu kleinenS.
172 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
Attentaten auf das hilflos in der Wiege Daliegende führt. Eine
größere Altersdifferenz schwächt den Ausdruck dieser primären
Feindseligkeit in der Regel ab; ebenso kann in etwas späteren
Jahren, wenn Geschwister ausbleiben, der Wunsch nach einem
Gespielen, wie das Kind ihn anderswo beobachten konnte, die
Oberhand erhalten.Unter der Anregung dieser Gefühle und Sorgen kommt das
Kind nun zur Beschäftigung mit dem ersten, großartigen Problem
des Lebens und stellt sich die Frage, woher die Kinder
kommen, die wohl zuerst lautet, woher dieses einzelne störende
Kind gekommen ist. Den Nachklang dieser ersten Rätselfrage
glaubt man in unbestimmt vielen Råtseln des Mythus und der
Sage zu vernehmen; die Frage selbst ist, wie alles Forschen, ein
Produkt der Lebensnot, als ob dem Denken die Aufgabe gestellt
würde, das Wiedereintreffen so gefiirchteter Ereignisse zu verhüten.
Nehmen wir indes an, daB sich das Denken des Kindes alsbald
von seiner Anregung frei macht und als selbständiger Forscher-
trieb weiter arbeitet. Wo das Kind nicht bereits zu sehr einge-
schiichtert ist, schlägt es früher oder später den nächsten Weg
ein, Antwort von seinen Eltern und Pflegepersonen, die ihm die
Quelle des Wissens bedeuten, zu verlangen. Dieser Weg geht
aber fehl. Das Kind erhilt entweder ausweichende Antwort oder
einen Verweis fiir seine WiBbegierde oder wird mit jener mytho-
logisch bedeutsamen Auskunft abgefertigt, die in deutschen Landen
lautet: Der Storch bringe die Kinder, die er aus dem Wasser
hole. Ich habe Grund anzunehmen, daB weit mehr Kinder, als
die Eltern ahnen, mit dieser Lösung unzufrieden sind und ihr
energische Zweifel entgegensetzen, die nur nicht immer offen
eingestanden werden. Ich weiß von einem dreijährigen Knaben,
der nach erhaltener Aufklärung zum Schrecken seiner Kinderfrau
vermiBt wurde und sich am Ufer des groBen SchloBteiches
wiederfand, wohin er geeilt war, um die Kinder im Wasser zu
beobachten, von einem anderen, der seinem Unglauben keineS.
Uber infantile Sexualtheorien 175
andere als die zaghafte Aussprache gestatten konnte, er wisse
es besser, nicht der Storch bringe die Kinder, sondern der —
Fischreiher. Es scheint mir aus vielen Mitteilungen hervorzugehen,
daB die Kinder der Storchtheorie den Glauben verweigern, von
dieser ersten Täuschung und Abweisung an aber ein MiBtrauen
gegen die Erwachsenen in sich nåhren, die Ahnung von etwas
Verbotenem gewinnen, das ihnen von den „Großen“ vorenthalten
wird, und darum ihre weiteren Forschungen mit Geheimnis
verhiillen. Sie haben dabei aber auch den ersten AnlaB eines
„psychischen Konflikts“ erlebt, indem Meinungen, für die sie
eine triebartige Bevorzugung empfinden, die aber den Großen
nicht „recht“ sind, in Gegensatz zu anderen geraten, die durch
die Autorität der „Großen“ gehalten werden, ohne ihnen selbst
genehm zu sein. Aus diesem psychischen Konflikte kann bald
eine „psychische Spaltung“ werden; die eine Meinung, mit der
die Bravheit, aber auch die Sistierung des Nachdenkens verbunden
ist, wird zur herrschenden bewußten; die andere, für die die
Forscherarbeit unterdes neue Beweise erbracht hat, die nicht
gelten sollen, zur unterdrückten, ,unbewuBten“. Der Kernkomplex
der Neurose findet sich auf diese Weise konstituiert.Ich habe kürzlich durch die Analyse eines fünfjährigen Knaben,
die dessen Vater mit ihm angestellt und mir dann zur Veröffent-
lichung überlassen hat, den unwiderleglichen Nachweis für eine
Einsicht erhalten, auf deren Spur mich die Psychoanalysen
Erwachsener längst geführt hatten. Ich weiß jetzt, daß die
Graviditätsveränderung der Mutter den scharfen Augen des
Kindes nicht entgeht, und daß dieses sehr wohl imstande ist,
eine Weile nachher den richtigen Zusammenhang zwischen der
Leibeszunahme der Mutter und dem Erscheinen des Kindes her-
zustellen. In dem erwähnten Falle war der Knabe dreieinhalb
Jahre alt, als seine Schwester geboren wurde, und vierdreiviertel,
als er sein besseres Wissen durch die unverkennbarsten Anspielungen
erraten ließ. Diese frühzeitige Erkenntnis wird aber immerS.
174 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
geheim gehalten und spåter im Zusammenhange mit den weiteren
Schicksalen der kindlichen Sexualforschung verdrångt und ver-
gessen.Die ,,Storchfabel gehört also nichtzu den infantilen Sexualtheorien;
es ist im Gegenteile die Beobachtung der Tiere, die ihr Sexual-
leben so wenig verhillen, und denen sich das Kind so verwandt
fåhlt, die den Unglauben des Kindes bestårkt. Mit der Erkennt-
nis, das Kind wachse im Leibe der Mutter, die das Kind noch
selbständig erwirbt, wäre es auf dem richtigen Wege, das Problem,
an dem es zuerst seine Denkkraft erprobt, zu låsen. Im weiteren
Fortschreiten wird es aber gehemmt durch eine Unwissenheit,
die sich nicht ersetzen låBt, und durch falsche Theorien, welche
der Zustand der eigenen Sexualität ihm aufdrångt.Diese falschen Sexualtheorien, die ich nun erörtern werde,
haben alle einen sehr merkwiirdigen Charakter. Obwohl sie in
grotesker Weise fehlgehen, enthalten sie doch, jede von ihnen,
ein Stück echter Wahrheit, in dieser Zusammensetzung analog
den „genial“ geheiBenen Lósungsversuchen Erwachsener an den
får den Menschenverstand überschwierigen Weltproblemen. Das
Richtige und Triftige an diesen Theorien erklärt sich durch deren
Abkunft von den Komponenten des Sexualtriebes, die sich bereits
im kindlichen Organismus regen; denn nicht psychische Willkür
oder zufillige Eindriicke haben diese Annahmen entstehen lassen,
sondern die Notwendigkeiten der psychosexuellen Konstitution,
und darum können wir von typischen Sexualtheorien der Kinder
sprechen, darum finden wir die nåmlichen irrigen Meinungen
bei allen Kindern, deren Sexualleben uns zugänglich wird.Die erste dieser Theorien knüpft an die Vernachlässigung der
Geschlechtsunterschiede an, die wir eingangs als kennzeichnend
får das Kind hervorgehoben haben. Sie besteht darin, allen
Menschen, auch den weiblichen Personen, einen
Penis zuzusprechen, wie ihn der Knabe vom eigenen
Körper kennt. Gerade in jener Sexualkonstitution, die wir als dieS.
Uber infantile Sexualtheorien 175
„normale“ anerkennen müssen, ist der Penis schon in der Kind-
heit die leitende erogene Zone, das hauptsåchlichste autoerotische
Sexualobjekt, und seine Wertschätzung spiegelt sich logisch in
dem Unvermógen, eine dem Ich ähnliche Persönlichkeit ohne
diesen wesentlichen Bestandteil vorzustellen. Wenn der kleine
Knabe das Genitale eines Schwesterchens zu Gesicht bekommt,
so zeigen seine AuBerungen, daB sein Vorurteil bereits stark genug
ist, um die Wahrnehmung zu beugen; er konstatiert nicht etwa
das Fehlen des Gliedes, sondern sagt regelmäßig, wie trästend
und vermittelnd: der... ist aber noch klein; nun wenn sie
groBer wird, wird er schon wachsen. Die Vorstellung des Weibes
mit dem Penis kehrt noch spit in den Träumen des Erwach-
senen wieder; in nächtlicher sexueller Erregung wirft er ein
Weib nieder, entblóBt es und bereitet sich zum Koitus, um dann
beim Anblick des wohlausgebildeten Gliedes an Stelle der weib-
lichen Genitalien den Traum und die Erregung abzubrechen. Die
zahlreichen Hermaphroditen des klassischen Altertums geben diese
einst allgemeine infantile Vorstellung getreulich wieder; man kann
beobachten, daB sie auf die meisten normalen Menschen nicht
verletzend wirkt, während die wirklich von der Natur zugelassenen
hermaphroditischen Bildungen der Genitalien fast immer den
größten Abscheu erregen.Wenn sich diese Vorstellung des Weibes mit dem Penis bei
dem Kinde „fixiert“, allen Einflüssen des späteren Lebens wider-
steht, und den Mann unfähig macht, bei seinem Sexualobjekt auf
den Penis zu verzichten, so muß ein solches Individuum bei sonst
normalem Sexualleben ein Homosexueller werden, seine Sexual-
objekte unter den Månnern suchen, die durch andere somatische
und seelische Charaktere an das Weib erinnern. Das wirkliche
Weib, wie es später erkannt wird, bleibt als Sexualobjekt unmöglich
får ihn, da es des wesentlichen sexuellen Reizes entbehrt, ja im
Zusammenhange mit einem anderen Eindruck des Kinderlebens
kann es zum Abscheu fiir ihn werden. Das hauptsächlich von derS.
176 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
Peniserregung beherrschte Kind hat sich gewöhnlich durch Rei-
zung desselben mit der Hand Lust geschafft, ist von den Eltern
oder Wartepersonen dabei ertappt und mit der Drohung, man
werde ihm das Glied abschneiden, geschreckt worden. Die Wir-
kung dieser „Kastrationsdrohung” ist im richtigen Verhältnisse
zur Schätzung dieses Kórperteiles eine ganz außerordentlich tief-
greifende und nachhaltige. Sagen und Mythen zeugen von dem
Aufruhr des kindlichen Gefiihlslebens, von dem Entsetzen, das
sich an den Kastrationskomplex knüpft, der dann später auch ent-
sprechend widerwillig vom Bewußtsein erinnert wird. An diese
Drohung mahnt nun das später wahrgenommene, als verstimmelt
aufgefaBte Genitale des Weibes und darum erweckt es beim
Homosexuellen Grausen anstatt Lust. An dieser Reaktion kann
nichts mehr geändert werden, wenn der Homosexuelle von der
Wissenschaft erfährt, daß die kindliche Annahme, auch die Frau
besitze einen Penis, doch nicht so irre geht. Die Anatomie hat
die Klitoris innerhalb der weiblichen Schamspalte als das dem
Penis homologe Organ erkannt, und die Physiologie der Sexual-
vorgånge hat hinzufügen können, daß dieser kleine und nicht
mehr wachsende Penis sich in der Kindheit des Weibes tatsäch-
lich wie ein echter und rechter Penis benimmt, daB er zum Sitz
von Erregungen wird, die zu seiner Berührung veranlassen, daß
seine Reizbarkeit der Sexualbetåtigung des kleinen Mädchens männ-
lichen Charakter verleiht, und daß es eines Verdrångungsschubes
in den Pubertätsjahren bedarf, um durch Hinwegräumung dieser
männlichen Sexualität das Weib entstehen zu lassen. Wie nun
viele Frauen in ihrer Sexualfunktion daran verkiimmern, daB
diese Klitoriserregbarkeit hartnäckig festgehalten wird, so daß sie
im Koitusverkehr anåsthetisch bleiben, oder daß die Verdrängung
zu übermäßig erfolgt, so daß ihre Wirkung durch hysterische
Ersatzbildung teilweise aufgehoben wird; dies alles gibt der
infantilen Sexualtheorie, das Weib besitze wie der Mann einen
Penis, nicht unrecht.S.
Uber infantile Sexualtheorien 177
An dem kleinen Mädchen kann man mit Leichtigkeit
beobachten, daß es die Schätzung des Bruders durchaus teilt. Es
entwickelt ein großes Interesse für diesen Korperteil beim Knaben,
das aber alsbald vom Neide kommandiert wird. Es fühlt sich
benachteiligt, es macht Versuche, in solcher Stellung zu urinieren,
wie es dem Knaben durch den Besitz des großen Penis ermöglicht
wird, und wenn es den Wunsch äußert: Ich möchte lieber
ein Bub sein, so wissen wir, welchem Mangel dieser Wunsch
abhelfen soll.Wenn das Kind den Andeutungen folgen könnte, die von der
Erregung des Penis ausgehen, so würde es der Lösung seines
Problems um ein Stück näher rücken. Daß das Kind im Leibe
der Mutter wächst, ist offenbar nicht genug Erklärung. Wie
kommt es hinein? Was gibt den Anstoß zu seiner Entwicklung?
Daß der Vater etwas damit zu tun hat, ist wahrscheinlich; er
erklärt ja, das Kind sei auch sein Kind.) Anderseits hat der
Penis gewiß auch seinen Anteil an diesen nicht zu erratenden
Vorgängen, er bezeugt es durch seine Miterregung bei all dieser
Gedankenarbeit. Mit dieser Erregung sind Antriebe verbunden,
die das Kind sich nicht zu deuten weiß, dunkle Impulse zu
gewaltsamem Tun, zum Eindringen, Zerschlagen, irgendwo ein
Loch aufreiBen. Aber wenn das Kind so auf dem besten Wege
scheint, die Existenz der Scheide zu postulieren und dem Penis
des Vaters ein solches Eindringen bei der Mutter zuzuschreiben
als jenen Akt, durch den das Kind im Leibe der Mutter
entsteht, so bricht an dieser Stelle doch die Forschung ratlos ab,
denn ihr steht die Theorie im Wege, daß die Mutter einen
Penis besitzt wie ein Mann, und die Existenz des Hohlraumes,
der den Penis aufnimmt, bleibt für das Kind unentdeckt, Daß
die Erfolglosigkeit der Denkbemühung dann ihre Verwerfungı) Vgl. hiezu die Analyse des fünfjährigen Knaben im Jahrbuch für psycho-
analytische und psychopathologische Forschungen. 1. Halbbd. 1909. [Bd. VIII dieser
Gesamtausgabe.]Freud, V. 12
S.
178 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
und ihr Vergessen erleichtert, wird man gern annehmen. Dieses
Grübeln und Zweifeln wird aber vorbildlich fiir alle spätere
Denkarbeit an Problemen und der erste MiBerfolg wirkt fiir alle
Zeiten lihmend fort.Die Unkenntnis der Vagina ermöglicht dem Kinde auch die
Überzeugung von der zweiten seiner Sexualtheorien. Wenn das
Kind im Leibe der Mutter wächst und aus diesem entfernt
wird, so kann dies nur auf dem einzig möglichen Wege der
Darmöffnung geschehen. Das Kind muß entleert werden
wie ein Exkrement, ein Stuhlgang. Wenn dieselbe Frage
in späteren Kinderjahren Gegenstand des einsamen Nachdenkens
oder der Besprechung zwischen zwei Kindern wird, so stellen
sich wohl die Auskünfte ein, das Kind komme aus dem sich
öffnenden Nabel, oder der Bauch werde aufgeschnitten und das
Kind herausgenommen, wie es dem Wolfe im Märchen von
Rotkäppchen geschieht. Diese Theorien werden laut ausgesprochen
und später auch bewußt erinnert; sie enthalten nichts Anstößiges
mehr. Dieselben Kinder haben dann völlig vergessen, daß sie
in früheren Jahren an eine andere Geburtstheorie glaubten,
welcher gegenwärtig die seither eingetretene Verdrängung der
analen Sexualkomponente im Wege steht. Damals war der
Stuhlgang etwas, wovon in der Kinderstube ohne Scheu gesprochen
werden durfte, das Kind stand seinen konstitutionellen koprophilen
Neigungen noch nicht so ferne; es war keine Degradation, so
zur Welt zu kommen wie ein Haufen Kot, den der Ekel noch
nicht verdammt hatte. Die Kloakentheorie, die für so viele
Tiere ja zu Recht besteht, war die natürlichste und die einzige,
die sich dem Kinde als wahrscheinlich aufdrängen konnte,Dann war es aber nur konsequent, daß das Kind das schmerzliche
Vorrecht des Weibes, Kinder zu gebären, nicht gelten ließ, Wenn
die Kinder durch den After geboren werden, so kann der Mann
ebensogut gebären wie das Weib. Der Knabe kann also auch
phantasieren, daß er selbst Kinder bekommt, ohne daß wir ihnS.
Uber infantile Sexualtheorien 179
darum femininer Neigungen zu beschuldigen brauchen. Er betätigt
dabei nur seine noch regsame Analerotik.Wenn sich die Kloakentheorie der Geburt im Bewußtsein
spåterer Kinderjahre erhålt, was gelegentlich vorkommt, so bringt
sie auch eine allerdings nicht mehr ursprüngliche Lösung der
Frage nach der Entstehung der Kinder mit sich. Es ist dann
wie im Mårchen. Man iBt etwas Bestimmtes und davon bekommt
man ein Kind, Die Geisteskranke belebt diese infantile Geburts-
theorie dann wieder. Die Maniaka etwa führt den besuchenden
Arzt zu einem Häufchen Kot, das sie in einer Ecke ihre Zelle
abgesetzt hat, und sagt ihm lachend: Das ist das Kind, das ich
heute geboren habe. |Die dritte der typischen Sexualtheorien ergibt sich den Kindern,
wenn sie durch irgendeine der häuslichen Zufälligkeiten zu
Zeugen des elterlichen Sexualverkehrs werden, über den sie
dann doch nur sehr unvollstindige Wahrnehmungen machen
können, Welches Stück desselben dann immer in ihre Beob-
achtung fällt, ob die gegenseitige Lage der beiden Personen
oder die Geräusche oder gewisse Nebenumstände, sie gelangen
in allen Fillen zur nimlichen, wir kónnen sagen sadistischen
Auffassung des Koitus, sehen in ihm etwas, was der
stärkere Teil dem schwächeren mit Gewalt antut, und vergleichen
ihn, zumal die Knaben, mit einer Rauferei, wie sie sie aus ihrem
Kinderverkehr kennen, und die ja auch der Beimengung sexueller
Erregung nicht ermangelt. Ich habe nicht feststellen können,
daB die Kinder diesen von ihnen beobachteten Vorgang zwischen
den Eltern als das zur Lösung des Kinderproblems erforderliche
Stück agnoszieren würden; öfter hatte es den Anschein, als würde
diese Beziehung von den Kindern gerade darum verkannt, weil
sie dem Liebesakte solche Deutung ins Gewalttitige gegeben
haben. Aber diese Auffassung macht selbst den Eindruck einer
Wiederkehr jenes dunkeln Impulses zur grausamen Betätigung,
der sich beim ersten Nachdenken über das Rätsel, woher die12*
S.
180 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
Kinder kommen, an die Peniserregung knüpfte, Es ist auch die
Möglichkeit nicht abzuleugnen, daß jener frühzeitige sadistische
Impuls, der den Koitus beinahe hätte erraten lassen, selbst unter
dem Einflusse dunkelster Erinnerungen an den Verkehr der Eltern
aufgetreten ist, für die das Kind, als es noch in den ersten
Lebensjahren das Schlafzimmer der Eltern teilte, das Material
aufgenommen hatte, ohne es damals zu verwerten.‘Die sadistische Theorie des Koitus, die in ihrer Isoliertheit
zur Irreführung wird, wo sie hätte Bestätigung bringen können,
ist wiederum der Ausdruck einer der angeborenen sexuellen
Komponenten, die bei dem einzelnen Kinde mehr oder minder
stark ausgeprägt sein mag, und sie hat daher ein Stück weit
recht, errät zum Teil das Wesen des Geschlechtsaktes und den
„Kampf der Geschlechter“, der ihm vorhergeht. Nicht selten ist
das Kind auch in der Lage, diese seine Auffassung durch
akzidentelle Wahrnehmungen zu stützen, die es zum Teil richtig,
zum anderen wieder falsch, ja gegensätzlich erfaßt. In vielen
Ehen sträubt sich die Frau wirklich regelmäßig gegen die
eheliche Umarmung, die ihr keine Lust und die Gefahr neuer
Schwangerschaft bringt, und so mag die Mutter dem für schlafend
gehaltenen (oder sich schlafend stellenden) Kinde einen Eindruck
bieten, der gar nicht anders denn als ein Wehren gegen eine
Gewalttat gedeutet werden kann. Andere Male noch gibt die
ganze Ehe dem aufmerksamen Kinde das Schauspiel eines unaus-
gesetzten, in lauten Worten und unfreundlichen Gebärden sich
äußernden Streites, wo dann das Kind sich nicht zu wundern
braucht, daß dieser Streit sich auch in die Nacht fortsetzt und
endlich durch dieselben Methoden ausgetragen wird, die das Kind
im Verkehre mit seinen Geschwistern oder Spielgenossen zu
gebrauchen gewöhnt ist.1) In dem 1794 veröffentlichten, autobiographischen Buche „Monsieur Nicolas“
bestätigt Restif dela Brétonne dieses sadistische Mißverständnis des Koitus
in der Erzählung eines Eindruckes aus seinem vierten Lebensjahre,S.
Uber infantile Sexualtheorien 181
Als eine Bestätigung seiner Auffassung sieht das Kind es aber
auch an, wenn es Blutspuren im Bett oder an der Wische der
Mutter entdeckt. Diese sind ihm ein Beweis dafür, daß in der
Nacht wieder ein solcher Überfall des Vaters auf die Mutter
stattgefunden hat, während wir dieselbe frische Blutspur lieber
als Anzeichen einer Pause im sexuellen Verkehre deuten werden.
Manche sonst unerklärliche „Blutscheu“ der Nervösen findet
durch diesen Zusammenhang ihre Aufklärung. Der Irrtum des
Kindes deckt wiederum ein Stückchen Wahrheit; unter gewissen,
bekannten Verhältnissen wird die Blutspur allerdings als Zeichen
des eingeleiteten sexuellen Verkehres gewürdigt.In loserem Zusammenhange mit dem unlösbaren Problem,
woher die Kinder kommen, beschåftigt sich das Kind mit der
Frage, was das Wesen und der Inhalt des Zustandes sei, den
man ,Verheiratetsein^ heißt, und beantwortet diese Frage ver-
schieden, je nach dem Zusammentreffen von zufålligen Wahr-
nehmungen bei den Eltern mit den eigenen noch lustbetonten
Trieben. Nur daB es sich vom Verheiratetsein Lustbefriedigung
verspricht und ein Hinwegsetzen über die Scham vermutet,
scheint allen diesen Beantwortungen gemeinsam. Die Auffassung,
die ich am häufigsten gefunden habe, lautet, daß „man vor
einander uriniert“; eine Abänderung, die so klingt, als ob
sie symbolisch ein Mehrwissen andeuten wollte: daß der Mann
in den Topf der Frau uriniert. Andere Male wird der
Sinn des Heiratens darin verlegt: daß man einander den
Popo zeigt (ohne sich zu schämen). In einem Falle, in dem es
der Erziehung gelungen war, die Sexualerfahrung besonders lange
aufzuschieben, kam das vierzehnjåhrige und bereits menstruierte
Mädchen über Anregung der Lektüre auf die Idee, das Verheiratet-
sein bestehe in einer „Mischung des Blutes“, und da die eigene
Schwester noch nicht die Periode hatte, versuchte die Liisterne
ein Attentat auf eine Besucherin, welche gestanden hatte, eben zu
menstruieren, um sie zu dieser „Blutvermischung” zu nötigen.S.
182 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
Die infantilen Meinungen iiber das Wesen der Ehe, die nicht
selten von der bewuBten Erinnerung festgehalten werden, haben
får die Symptomatik späterer neurotischer Erkrankung große
Bedeutung. Sie schaffen sich zunächst Ausdruck in Kinderspielen, in
denen man das miteinander tut, was das Verheiratetsein ausmacht,
und dann später einmal kann sich der Wunsch verheiratet zu sein
die infantile Ausdrucksform wählen, um in einer zunächst unkennt-
lichen Phobie oder einem entsprechenden Symptom aufzutreten.'Es wiren dies die wichtigsten der typischen, in frithen Kind-
heitsjahren und spontan, nur unter dem Einflusse der sexuellen
Triebkomponenten produzierten Sexualtheorien des Kindes. Ich
weiß, daß ich weder die Vollständigkeit des Materials noch die
Herstellung des liickenlosen Zusammenhanges mit dem sonstigen
Kinderleben erreicht habe. Einzelne Nachtråge kann ich hier
noch anfügen, die sonst jeder Kundige vermißt hätte. So zum
Beispiel die bedeutsame Theorie, daß man ein Kind durch einen
KuB bekommt, die wie selbstverståndlich die Vorherrschaft der
erogenen Mundzone verrät. Nach meiner Erfahrung ist diese
Theorie ausschlieBlich feminin und wird als pathogen manchmal
bei Mädchen angetroffen, bei denen die Sexualforschung in der
Kindheit die stärksten Hemmungen erfahren hat. Eine meiner
Patientinnen gelangte durch eine zufillige Wahrnehmung zur
Theorie der „Couvade“, die bekanntlich bei manchen Völkern
allgemeine Sitte ist und wahrscheinlich die Absicht hat, dem nie
völlig zu besiegenden Zweifel an der Paternität zu widersprechen.
Da ein etwas sonderbarer Onkel nach der Geburt seines Kindes
tagelang zu Hause blieb und die Besucher im Schlafrock empfing,
schloB sie, daB bei einer Geburt beide Eltern beteiligt seien und
zu Bette gehen miiBten.Um das zehnte oder elfte Lebensjahr tritt die sexuelle Mit-
teilung an die Kinder heran. Ein Kind, welches in ungehemmteren1) Die für die spätere Neurose bedeutsamsten Kinderspiele sind das ,Doktorspiel“
und „Papa- und Mama“-Spielen.S.
Uber infantile Sexualtheorien 185
sozialen Verhältnissen aufgewachsen ist oder sonst glücklichere
Gelegenheit zur Beobachtung gefunden hat, teilt anderen mit,
was es weiß, weil es sich dabei reif und überlegen empfinden
kann. Was die Kinder so erfahren, ist meist das Richtige, das
heißt es wird ihnen die Existenz der Vagina und deren Bestimmung
verraten, aber sonst sind diese Aufklärungen, die sie voneinander
entlehnen, nicht selten mit Falschem vermengt, mit Überresten
der älteren infantilen Sexualtheorien behaftet. Vollständig und
zur Lösung des uralten Problems ausreichend sind sie fast nie.
Wie früher die Unkenntnis der Vagina, so hindert jetzt die des
Samens die Einsicht in den Zusammenhang. Das Kind kann
nicht erraten, daß aus dem männlichen Geschlechtsglied noch
eine andere Substanz entleert wird als der Harn, und gelegentlich
zeigt sich ein „unschuldiges Mädchen“ noch in der Brautnacht
entrüstet darüber, daß der Mann „in sie hineinuriniere“. An
diese Mitteilungen in den Jahren der Vorpubertät schließt sich
nun ein neuer Aufschwung der kindlichen Sexualforschung; aber
die Theorien, welche die Kinder jetzt schaffen, haben nicht mehr
das typische und ursprüngliche Gepräge, das für die frühkind-
lichen, primären, charakteristisch war, solange die infantilen
Sexualkomponenten ungehemmt und unverwandelt ihren Ausdruck
in Theorien durchsetzen konnten. Die späteren Denkbemühungen
zur Lösung der sexuellen Rätsel schienen mir die Sammlung
nicht zu verlohnen, sie können auch auf pathogene Bedeutung
wenig Anspruch mehr erheben. Ihre Mannigfaltigkeit ist natürlich
in erster Linie von der Natur der erhaltenen Aufklärung
abhängig; ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, daß sie die
unbewußt gewordenen Spuren jener ersten Periode des sexuellen
Interesses wieder erwecken, so daß nicht selten masturbatorische
Sexualbetätigung und ein Stück der Gefühlsablösung von den
Eltern an sie anknüpft. Daher das verdammende Urteil der
Erzieher, daß solche Aufklärung in diesen Jahren die Kinder
pverderbe“.S.
184 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre
Einige wenige Beispiele mögen zeigen, welche Elemente oft
in diese späten Grübeleien der Kinder über das Sexualleben ein-
gehen. Ein Mädchen hat von den Schulkolleginnen gehört, daß
der Mann der Frau ein Ei gibt, welches sie in ihrem Leibe
ausbrütet. Ein Knabe, der auch vom Ei gehört hat, identifiziert
dieses „Ei“ mit dem vulgär ebenso benannten Hoden und zer-
bricht sich den Kopf darüber, wie denn der Inhalt des Hoden-
sackes sich immer wieder erneuern kann. Die Aufklärungen
reichen selten so weit, um wesentliche Unsicherheiten über die
Geschlechtsvorgänge zu verhüten. So können Mädchen zur
Erwartung kommen, der Geschlechtsverkehr finde nur ein einziges-
mal statt, dauere aber da sehr lange, vierundzwanzig Stunden,
und von diesem einen Male kämen der Reihe nach alle Kinder.
Man sollte meinen, dieses Kind habe Kenntnis von dem Fort-
pflanzungsvorgang bei gewissen Insekten gewonnen; aber diese
Vermutung bestätigt sich nicht, die Theorie erscheint als eine
selbständige Schöpfung. Andere Mädchen übersehen die Tragzeit,
das Leben im Mutterleibe, und nehmen an, daß das Kind unmittelbar
nach der Nacht des ersten Verkehrs zum Vorschein komme.
Marcell Prévost hat diesen Jungmädchenirrtum in einer der
» Lettres de femmes“ zu einer lustigen Geschichte verarbeitet. Schwer
zu erschöpfen und vielleicht im allgemeinen nicht uninteressant
ist das Thema dieser späten Sexualforschung der Kinder oder auf
der kindlichen Stufe zurückgehaltenen Adoleszenten, aber es liegt
meinem Interesse ferner, und ich muß nur noch hervorheben,
daß dabei von den Kindern viel Unrechtes zutage gefördert wird,
was dazu bestimmt ist, älterer, besserer, aber unbewußt gewordener
und verdrängter Erkenntnis zu widersprechen.Auch die Art, wie die Kinder sich gegen die ihnen zugehenden
Mitteilungen verhalten, hat ihre Bedeutung. Bei manchen ist die
Sexualverdrängung soweit gediehen, daß sie nichts anhören wollen,
und diesen gelingt es auch, bis in späte Jahre unwissend zu
bleiben, scheinbar unwissend wenigstens, bis in der PsychoanalyseS.
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der Neurotischen das aus frither Kindheit stammende Wissen zum
Vorschein kommt. Ich weiB auch von zwei Knaben zwischen
zehn und dreizehn Jahren, welche die sexuelle Aufklärung zwar
anhorten, aber dem Gewährsmanne die ablehnende Antwort
gaben: Es ist möglich, daß dein Vater und andere Leute so
etwas tun, aber von meinem Vater weiB ich es gewiB, daB er
es nie tun würde. Wie mannigfaltig immer dieses spätere
Benehmen der Kinder gegen die Befriedigung der sexuellen
WiBbegierde sein mag, für ihre ersten Kinderjahre dürfen
wir ein durchaus gleichfórmiges Verhalten annehmen und
glauben, daß sie damals alle aufs eifrigste bestrebt warenzu erfahren, was die Eltern miteinander tun, woraus dann die
Kinder werden.
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