Charakter und Analerotik 1908-002/1924
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    CHARAKTER UND ANALEROTIK

    Zuerst erschienen in der Psychiatrisch-Neuro-
    logischen Wochenschrift, redigiert von Dr. Johann
    Bresler, Lublinitz (Schlesien), IX, Jahrg., Nr. 52,
    1908, dann in der Zweiten Folge der „Sammlung
    Kleiner Schriften zur Neurosenlehre,“

    Unter den Personen, denen man durch psychoanalytische
    Bemiihung Hilfe zu leisten sucht, begegnet man eigentlich recht
    häufig einem Typus, der durch das Zusammentreffen bestimmter
    Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten
    einer gewissen Kórperfunktion und der an ihr beteiligten Organe
    in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich
    zieht. Ich weiß heute nicht mehr anzugeben, aus welchen ein-
    zelnen Veranlassungen mir der Eindruck erwuchs, daB zwischen
    jenem Charakter und diesem Organverhalten ein organischer
    Zusammenhang bestehe, aber ich kann versichern, daß theoretische
    Erwartung keinen Anteil an diesem Eindrucke hatte.

    Infolge gehäufter Erfahrung hat sich der Glaube an solchen
    Zusammenhang bei mir so sehr verstärkt, daß ich von ihm Mit-
    teilung zu machen wage.

    Die Personen, die ich beschreiben will, fallen dadurch auf, daß
    sie in regelmäßiger Vereinigung die nachstehenden drei Eigen-
    schaften zeigen: sie sind besonders ordentlich, sparsam und
    eigensinnig. Jedes dieser Worte deckt eigentlich eine kleine
    Gruppe oder Reihe von miteinander verwandten Charakterziigen.
    »Ordentlich“ begreift sowohl die körperliche Sauberkeit als auch
    Gewissenhaftigkeit in kleinen Pflichterfüllungen und VerlåBlichkeit;

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    262 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    das Gegenteil davon wire: unordentlich, nachlässig. Die Sparsamkeit
    kann bis zum Geize gesteigert erscheinen; der Eigensinn geht in
    Trotz über, an den sich leicht Neigung zur Wut und Rachsucht
    knüpfen. Die beiden letzteren Eigenschaften — Sparsamkeit und
    Eigensinn — hängen fester miteinander als mit dem ersten, dem
    „ordentlich“, zusammen; sie sind auch das konstantere Stück des
    ganzen Komplexes, doch erscheint es mir unabweisbar, daß irgend-
    wie alle drei zusammengehören.

    Aus der Kleinkindergeschichte dieser Personen erfährt man
    leicht, daß sie verhältnismäßig lange dazu gebraucht haben, bis
    sie der infantilen incontinentia alvi Herr geworden sind, und daß
    sie vereinzeltes Mißglücken dieser Funktion noch in späteren
    Kinderjahren zu beklagen hatten. Sie scheinen zu jenen Säuglingen
    gehört zu haben, die sich weigern, den Darm zu entleeren, wenn
    sie auf den Topf gesetzt werden, weil sie aus der Defäkation
    einen Lustnebengewinn beziehen; denn sie geben an, daß es
    ihnen noch in etwas späteren Jahren Vergnügen bereitet hat, den
    Stuhl zurückzuhalten, und erinnern, wenngleich eher und leichter
    von ihren Geschwistern als von der eigenen Person, allerlei
    unziemliche Beschäftigungen mit dem zutage geförderten Kote.
    Wir schließen aus diesen Anzeichen auf eine überdeutliche erogene
    Betonung der Afterzone in der von ihnen mitgebrachten Sexual-
    konstitution; da sich aber nach abgelaufener Kindheit bei diesen
    Personen nichts mehr von diesen Schwächen und Eigenheiten
    auffinden läßt, müssen wir annehmen, daß die Analzone ihre
    erogene Bedeutung im Laufe der Entwicklung eingebüßt hat,
    und vermuten dann, daß die Konstanz jener Trias von Eigen-
    schaften in ihrem Charakter mit der Aufzehrung der Analerotik
    in Verbindung gebracht werden darf.

    Ich weiß, daß man sich nicht getraut, an einen Sachverhalt
    zu glauben, solange er unbegreiflich erscheint, der Erklärung

    i 1 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, II, р. 41, 1905; 5. Aufl., 1922. [Enthalten
    in diesem Band der Gesamtausgabe.]

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    nicht irgendeine Anknüpfung bietet. Wenigstens das Grundlegende
    desselben können wir nun unserem Verständnisse mit Hilfe der
    Voraussetzungen näher bringen, die in den „Drei Abhandlungen
    zur Sexualtheorie“ 1905 dargelegt sind. Ich suche dort zu zeigen,
    daß der Sexualtrieb des Menschen hoch zusammengesetzt ist, aus
    Beiträgen zahlreicher Komponenten und Partialtriebe entsteht.
    Wesentliche Beiträge zur „Sexualerregung” leisten die peripheri-
    schen Erregungen gewisser ausgezeichneter Körperstellen (Genitalien,
    Mund, After, Blasenausgang), welche den Namen „erogene Zonen“
    verdienen. Die von diesen Stellen her eintreffenden Erregungs-
    größen erfahren aber nicht alle und nicht zu jeder Lebenszeit
    das gleiche Schicksal. Allgemein gesprochen kommt nur ein Teil
    von ihnen dem Sexualleben zugute; ein anderer Teil wird von
    den sexuellen Zielen abgelenkt und auf andere Ziele gewendet,
    ein Prozeß, der den Namen „Sublimierung” verdient. Um die
    Lebenszeit, welche als „sexuelle Latenzperiode“ bezeichnet werden
    darf, vom vollendeten fünften Jahre bis zu den ersten Äußerungen
    der Pubertät (ums elfte Jahr) werden sogar auf Kosten dieser von
    erogenen Zonen gelieferten Erregungen im Seelenleben Reaktions-
    bildungen, Gegenmåchte, geschaffen wie Scham, Ekel und Moral,
    die sich gleichwie Damme der späteren Betätigung der Sexual-
    triebe entgegensetzen. Da nun die Analerotik zu jenen Komponenten
    des Triebes gehört, die im Laufe der Entwicklung und im Sinne
    unserer heutigen Kulturerziehung fiir sexuelle Zwecke unver-
    wendbar werden, lige es nahe, in den bei ehemaligen Anal-
    erotikern so häufig hervortretenden Charaktereigenschaften —
    Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn — die nächsten und
    konstantesten Ergebnisse der Sublimierung der Analerotik zu

    erkennen.'

    1) Da gerade die Bemerkungen über die Analerotik des Säuglings in den „Drei
    Abhandlungen zur Sexualtheorie“ bei unverständigen Lesern besonderen Anstoß erregt
    haben, gestatte ich mir an dieser Stelle die Einschaltung einer Beobachtung, die ich
    einem sehr intelligenten Patienten verdanke: ,Ein Bekannter, der die Abhandlung
    über ,Sexualtheorie* gelesen hat, spricht über das Buch, erkennt es vollkommen an,

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    Die innere Notwendigkeit dieses Zusammenhanges ist mir
    natürlich selbst nicht durchsichtig, doch kann ich einiges anführen,
    was als Hilfe fiir ein Verståndnis desselben verwertet werden
    kann. Die Sauberkeit, Ordentlichkeit, VerlåBlichkeit macht ganz
    den Eindruck einer Reaktionsbildung gegen das Interesse am
    Unsauberen, Stórenden, nicht zum Körper gehörigen („Dirt is
    matter in the wrong place“). Den Eigensinn mit dem Defäkations-
    interesse in Beziehung zu bringen, scheint keine leichte Aufgabe,
    doch mag man sich daran erinnern, daB schon der Såugling sich
    beim Absetzen des Stuhles eigenwillig benehmen kann (s. 0.), und
    daB schmerzhafte Reize auf die mit der erogenen Afterzone

    nur eine Stelle darin sei ihm — obwohl er auch diese inhaltlich natiirlich billige
    und begreife — so grotesk und komisch vorgekommen, daB er sich hingesetzt und eine
    Viertelstunde darüber gelacht habe. Diese Stelle lautet: ‚Es ist eines der besten Vor-
    zeichen späterer Absonderlichheit oder Nervosität, wenn ein Säugling sich hartnäckig
    weigert, den Darm zu entleeren, wenn er auf den Topf gesetzt wird, also wenn es
    dem Pfleger beliebt, sondern diese Funktion seinem eigenen Belieben vorbehilt. Es
    kommt ihm natiirlich nicht darauf an, sein Lager schmutzig zu machen; er sorgt
    nur, daß ihm der Lustnebengewinn bei der Defükation nicht entgehe Die Vorstellung
    dieses auf dem Topfe sitzenden Siuglings, der überlege, ob er sich eine derartige
    Einschrünkung seiner persónlichen Willensfreiheit gefallen lassen solle, und der auBer-
    dem sorge, daß ihm der Lustgewinn bei der Defäkation nicht entgehe, habe seine
    ausgiebige Heiterkeit erregt. — Etwa zwanzig Minuten spiter, bei der Jause, beginnt
    mein Bekannter plötzlich gänzlich unvermittelt: ‚Du, mir fällt da gerade, weil ich den
    Kakao vor mir sehe. eine Idee ein, die ich als Kind immer gehabt habe. Da habe ich
    mir immer vorgestellt, ich bin der Kakaofabrikant Van Houten (er sprach ,Van
    Hauten' aus), und ich habe ein großartiges Geheimnis zur Bereitung dieses Kakaos,
    und nun bemühen sich alle Leute, mir dieses weltbeglückende Geheimnis zu ent-
    reißen, das ich sorgsam hiite. Warum ich gerade auf Van Houten verfallen bin, weiß
    ich nicht. Wahrscheinlich hat mir seine Reklame am meisten imponiert.* Lachend,
    und ohne noch eigentlich so recht eine tiefere Absicht damit zu verbinden, meinte
    ich: Wann haut'n die Mutter?! Erst eine Weile spüter erkannte ich, daB mein
    Wortwitz tatsächlich den Schlüssel zu dieser ganzen, plötzlich aufgetauchten Kindheits-
    erinnerung enthielt, die ich nun als glänzendes Beispiel einer Deckphantasie begriff,
    welche unter Beibehaltung des eigentlich Tatsüchlichen (NahrungsprozeB) und auf
    Grund phonetischer Assoziationen (Kakao, ‚Wann haut'n — das Schuld-
    bewußtsein durch eine komplette Umwertung des Erinnerungsinhaltes
    beruhigt. (Verlegung von rückwürts nach vorne, Nahrungsabgabe wird zur Nahrungs-
    aufnahme, der beschümende und zu verdeckende Inhalt zum weltbegliickenden
    Geheimnisse.) Interessant war mir, wie hier auf eine Abwehr hin, die freilich die
    mildere Form formaler Beanstandung annahm, dem Betreffenden ohne seinen Willen

    eine Viertelstunde spüter der schlagendste Beweis aus dem eigenen UnbewuBten
    heraufgereicht wurde.“

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    verknüpfte Gesäßhaut allgemein der Erziehung dazu dienen, den
    Eigensinn des Kindes zu brechen, es gefügig zu machen. Zum
    Ausdrucke des Trotzes und der trotzenden Verhöhnung wird bei
    uns immer noch wie in alter Zeit eine Aufforderung verwendet,
    die die Liebkosung der Afterzone zum Inhalte hat, also eigentlich
    eine von der Verdrängung betroffene Zärtlichkeit bezeichnet. Die
    Entblößung des Hintern stellt die Abschwächung dieser Rede
    zur Geste dar; in Goethes Götz von Berlichingen finden sich beide,
    Rede wie Geste, an passendster Stelle als Ausdruck des Trotzes
    angebracht.

    Am ausgiebigsten erscheinen die Beziehungen, welche sich
    zwischen den anscheinend so disparaten Komplexen des Geld-
    interesses und der Defikation ergeben. Jedem Arzte, der die
    Psychoanalyse geübt hat, ist es wohl bekannt geworden, daß sich
    auf diesem Wege die hartnåckigsten und langdauerndsten soge-
    nannten habituellen Stuhlverstopfungen Nervúser beseitigen lassen.
    Das Erstaunen hierüber wird durch die Erinnerung gemäBigt, daß
    diese Funktion sich ähnlich gefügig auch gegen die hypnotische
    Suggestion erwiesen hat. In der Psychoanalyse erzielt man diese
    Wirkung aber nur dann, wenn man. den Geldkomplex der
    Betreffenden berührt und sie veranlaBt, denselben mit all seinen
    Beziehungen zum Bewußtsein zu bringen. Man könnte meinen,
    daß die Neurose hierbei nur einem Winke des Sprachgebrauchs
    folgt, der eine Person, die das Geld allzu ängstlich zurückhält,
    „schmutzig“ oder ,filzig“ (englisch: filthy = schmutzig)
    nennt. Allein dieses wire eine allzu oberflåchliche Würdigung. In
    Wahrheit ist überall, wo die archaische Denkweise herrschend
    war oder geblieben ist, in den alten Kulturen, im Mythus,
    Märchen, Aberglauben, im unbewuBten Denken, im Traume und
    in der Neurose das Geld in innigste Beziehungen zum Drecke
    gebracht. Es ist bekannt, daB das Gold, welches der Teufel seinen
    Buhlen schenkt, sich nach seinem Weggehen in Dreck verwandelt,
    und der Teufel ist doch gewiß nichts anderes als die Personifikation

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    des verdrångten unbewufiten Trieblebens.' Bekannt ist ferner der
    Aberglaube, der die Auffindung von Schätzen mit der Defäkation
    zusammenbringt, und jedermann vertraut ist die Figur des
    „DukatenscheiBers”. Ja, schon in der altbabylonischen Lehre ist
    Gold der Kot der Hölle, Mammon == ilu manman® Wenn also
    die Neurose dem Sprachgebrauche folgt, so nimmt sie hier wie
    anderwårts die Worte in ihrem ursprünglichen, bedeutungs-
    vollen Sinne, und wo sie ein Wort bildlich darzustellen scheint,
    stellt sie in der Regel nur die alte Bedeutung des Wortes
    wieder her.

    Es ist möglich, daß der Gegensatz zwischen dem Wertvollsten,
    das der Mensch kennen gelernt hat, und dem Wertlosesten, das
    er als Abfall („refuse”) von sich wirft, zu dieser bedingten
    Identifizierung von Gold und Kot geführt hat.

    Im Denken der Neurose kommt dieser Gleichstellung wohl
    noch ein anderer Umstand zu Hilfe. Das urspriinglich erotische
    Interesse an der Defäkation ist, wie wir ja wissen, zum Erlöschen
    in reiferen Jahren bestimmt; in diesen Jahren tritt das Interesse
    am Gelde als ein neues auf, welches der Kindheit noch gefehlt
    hat; dadurch wird es erleichtert, daB die friihere Strebung, die
    ihr Ziel zu verlieren im Begriffe ist, auf das neu auftauchende
    Ziel übergeleitet werde,

    Wenn den hier behaupteten Beziehungen zwischen der Anal-
    erotik und jener Trias von Charaktereigenschaften etwas Tat-
    såchliches zugrunde liegt, so wird man keine besondere Ausprägung
    des ,Analcharakters“ bei Personen erwarten dürfen, die sich die
    erogene Eignung der Analzone für das reife Leben bewahrt haben,
    wie z. B. gewisse Homosexuelle. Wenn ich nicht sehr irre,

    1) Vergleiche die hysterische Besessenheit und die dimonischen Epidemien.

    2) Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des alten Orients, 2. Aufl, 1906, p. 216,
    und Babylonisches im Neuen Testament, 1906, p. 96, ,Mamon (Mammon) ist babylo-
    nisch man-man, ein Beiname Nergals, des Gottes der Unterwelt. Das Gold ist nach
    orientalischem Mythus, der in die Sagen und Märchen der Völker übergegangen ist,
    Dreck der Hólle; siehe: Monotheistische Strómungen innerhalb der babylonischen
    Religion, S. 16, Anm. 1.“

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    befindet sich die Erfahrung zumeist in guter Ubereinstimmung
    mit diesem Schlusse.

    Man müßte überhaupt in Erwägung ziehen, ob nicht auch
    andere Charakterkomplexe ihre Zugehórigkeit zu den Erregungen
    von bestimmten erogenen Zonen erkennen lassen. Ich kenne bis
    jetzt nur noch den unmäßigen „brennenden“ Ehrgeiz der
    einstigen Enuretiker. Für die Bildung des endgültigen Charakters
    aus den konstitutiven Trieben läßt sich allerdings eine Formel
    angeben: Die bleibenden Charakterzúge sind entweder unver-
    änderte Fortsetzungen der ursprünglichen Triebe, Sublimierungen
    derselben oder Reaktionsbildungen gegen dieselben.