Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität 1920-001/1924
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    ÜBER DIE PSYCHOGENESE EINES FALLES
    VON WEIBLICHER HOMOSEXUALITÄT

    Erschien in der „Internationalen Zeitschrift
    für Psychoanalyse”, VI, 1920, dann in der Fünften
    Folge der „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen-
    lehre”.

    I

    Die weibliche Homosexualität, gewiß nicht weniger häufig als
    die männliche, aber doch weit weniger lärmend als diese, ist
    nicht nur vom Strafgesetz übergangen, sondern auch von der
    psychoanalytischen Forschung vernachlässigt worden. Die Mit-
    teilung eines einzelnen, nicht allzu grellen Falles, in dem es möglich
    wurde, dessen psychische Entstehungsgeschichte fast lückenlos
    und mit voller Sicherheit zu erkennen, mag daher einen gewissen
    Anspruch auf Beachtung erheben. Wenn die Darstellung nur die
    allgemeinsten Umrisse der Geschehnisse und die aus dem Falle
    gewonnenen Einsichten bringt und alle charakteristischen Einzel-
    heiten unterschlägt, auf denen die Deutung ruht, so ist diese
    Einschränkung durch die von einem frischen Fall geforderte
    ärztliche Diskretion leicht erklärlich.

    Ein achtzehnjähriges, schönes und kluges Mädchen aus sozial
    hochstehender Familie hat das Mißfallen und die Sorge seiner
    Eltern durch die Zärtlichkeit erweckt, mit der sie eine etwa zehn
    Jahre ältere Dame „aus der Gesellschaft” verfolgt. Die Eltern
    behaupten, daß diese Dame trotz ihres vornehmen Namens nichts
    anderes sei als eine Kokotte. Es sei von ihr bekannt, daß sie bei

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    einer verheirateten Freundin lebt, mit der sie intime Beziehungen
    unterhält, während sie gleichzeitig in lockeren Liebesverhältnissen
    zu einer Anzahl von Männern steht. Das Mädchen bestreitet
    diese üble Nachrede nicht, läßt sich aber durch sie in der
    Verehrung der Dame nicht beirren, obwohl es ihr an Sinn für
    das Schickliche und Reinliche keineswegs gebricht. Kein Verbot
    und keine Überwachung hält sie ab, jede der spärlichen Gelegen-
    heiten zum Beisammensein mit der Geliebten auszunützen, alle
    ihre Lebensgewohnheiten auszukundschaften, stundenlang vor
    ihrem Haustor oder an Trambahnhaltestellen auf sie zu warten,
    ihr Blumen zu schicken u. dgl. Es ist offenkundig, daß dies eine
    Interesse bei dem Mädchen alle anderen verschlungen hat. Sie
    kümmert sich nicht um ihre weitere Ausbildung, legt keinen
    Wert auf gesellschaftlichen Verkehr und mädchenhafte Vergnügungen
    und hält nur den Umgang mit einigen Freundinnen aufrecht,
    die ihr als Vertraute oder als Helferinnen dienen können. Wie
    weit es zwischen ihrer Tochter und jener zweifelhaften Dame
    gekommen ist, ob die Grenzen einer zärtlichen Schwärmerei
    bereits überschritten worden sind, wissen die Eltern nicht. Ein
    Interesse für junge Männer und Wohlgefallen an deren Huldigungen
    haben sie an dem Mädchen nie bemerkt; dagegen sind sie sich
    klar darüber, daß diese gegenwärtige Neigung für eine Frau nur
    in erhöhtem Maße fortsetzt, was sich in den letzten Jahren für
    andere weibliche Personen angezeigt und den Argwohn sowie die
    Strenge des Vaters wachgerufen hatte.

    Zwei Stücke ihres Benehmens, scheinbar einander gegensätzlich,
    wurden dem Mädchen von den Eltern am stärksten verübelt.
    Daß sie keine Bedenken trug, sich öffentlich in belebten Straßen
    mit der anrüchigen Geliebten zu zeigen und also die Rücksicht
    auf ihren eigenen Ruf vernachlässigte, und daß sie kein Mittel
    der Täuschung, keine Ausrede und keine Lüge verschmähte, um
    die Zusammenkünfte mit ihr zu ermöglichen und zu decken.
    Also zuviel Offenheit in dem einen, vollste Verstellung im anderen

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    Falle. Eines Tages traf es sich, was ja unter diesen Umständen
    einmal geschehen mußte, daß der Vater seine Tochter in Begleitung
    jener ihm bekanntgewordenen Dame auf der Straße begegnete.
    Er ging mit einem zornigen Blick, der nichts Gutes ankündigte,
    an den beiden vorüber. Unmittelbar darauf riß sich das Mädchen
    los und stürzte sich über die Mauer in den dort nahen Ein-
    schnitt der Stadtbahn. Sie büßte diesen unzweifelhaft ernst
    gemeinten Selbstmordversuch mit einem langen Krankenlager,
    aber zum Glück mit nur geringer dauernder Schädigung. Nach
    ihrer Herstellung fand sie die Situation für ihre Wünsche günstiger
    als zuvor. Die Eltern wagten es nicht mehr ihr ebenso entschieden
    entgegenzutreten, und die Dame, die sich bis dahin gegen ihre
    Werbung spröde ablehnend verhalten hatte, war durch einen so
    unzweideutigen Beweis ernster Leidenschaft gerührt und begann
    sie freundlicher zu behandeln.

    Etwa ein halbes Jahr nach diesem Unfall wendeten sich die
    Eltern an den Arzt und stellten ihm die Aufgabe, ihre Tochter
    zur Norm zurückzubringen. Der Selbstmordversuch des Mädchens
    hatte ihnen wohl gezeigt, daß die Machtmittel der häuslichen
    Disziplin nicht imstande waren, die vorliegende Störung zu
    bewältigen. Es ist aber gut, hier die Stellung des Vaters und
    die der Mutter gesondert zu behandeln. Der Vater war ein
    ernsthafter, respektabler Mann, im Grunde sehr zärtlich, durch
    seine angenommene Strenge den Kindern etwas entfremdet. Sein
    Benehmen gegen die einzige Tochter wurde allzusehr durch
    Rücksichten auf seine Frau, ihre Mutter, bestimmt. Als er zuerst
    von den homosexuellen Neigungen der Tochter Kenntnis bekam,
    wallte er zornig auf und wollte sie durch Drohungen unterdrücken;
    er mag damals zwischen verschiedenen, gleich peinlichen Auf-
    fassungen geschwankt haben, ob er ein lasterhaftes, ein entartetes
    oder ein geisteskrankes Wesen in ihr sehen sollte. Auch nach
    dem Unfall brachte er es nicht zur Höhe jener überlegenen
    Resignation, welcher einer unserer ärztlichen Kollegen bei einer

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    irgendwie ähnlichen Entgleisung in seiner Familie durch
    die Rede Ausdruck gab: „Es ist eben ein Malheur wie ein anderes!”
    Die Homosexualität seiner Tochter hatte etwas, was seine vollste
    Erbitterung weckte. Er war entschlossen, sie mit allen Mitteln
    zu bekämpfen; die in Wien so allgemein verbreitete Gering-
    schätzung der Psychoanalyse hielt ihn nicht ab, sich an sie um
    Hilfe zu wenden. Wenn dieser Weg versagte, hatte er noch
    immer das stärkste Gegenmittel im Rückhalt; eine rasche Ver-
    heiratung sollte die natürlichen Instinkte des Mädchens wach-
    rufen und dessen unnatürliche Neigungen ersticken.

    Die Einstellung der Mutter des Mädchens war nicht so leicht
    zu durchschauen. Sie war eine noch jugendliche Frau, die dem
    Anspruch, selbst durch Schönheit zu gefallen, offenbar nicht ent-
    sagen wollte. Es war nur klar, daß sie die Schwärmerei ihrer
    Tochter nicht so tragisch nahm und sich keineswegs so sehr
    darüber entrüstete wie der Vater. Sie hatte sogar durch längere
    Zeit das Vertrauen des Mädchens in betreff ihrer Verliebtheit in
    jene Dame genossen; ihre Parteinahme dagegen schien wesent-
    lich durch die schädliche Offenheit bestimmt, mit der die Tochter
    ihre Gefühle vor aller Welt kundgab. Sie war selbst durch mehrere
    Jahre neurotisch gewesen, erfreute sich großer Schonung von
    seiten ihres Mannes, behandelte ihre Kinder recht ungleichmäßig,
    war eigentlich hart gegen die Tochter und überzärtlich mit ihren
    drei Knaben, von denen der jüngste ein Spätling war, gegenwärtig
    noch nicht drei Jahre alt. Bestimmteres über ihren Charakter zu
    erfahren, war nicht leicht, denn infolge von Motiven, die erst
    später verstanden werden können, hielten die Angaben der
    Patientin über ihre Mutter stets eine Reserve ein, von der im
    Falle des Vaters keine Rede war.

    Der Arzt, der die analytische Behandlung des Mädchens über-
    nehmen sollte, hatte mehrere Gründe, sich unbehaglich zu fühlen.
    Er fand nicht die Situation vor, welche die Analyse anfordert,
    und in der sie allein ihre Wirksamkeit erproben kann. Diese

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    Situation sieht in ihrer idealen Ausprägung bekanntlich so aus,
    daß jemand, der sonst sein eigener Herr ist, an einem inneren
    Konflikt leidet, den er allein nicht zu Ende bringen kann, daß
    er dann zum Analytiker kommt, es ihm klagt und ihn um seine
    Hilfeleistung bittet. Der Arzt arbeitet dann Hand in Hand mit
    dem einen Anteil der krankhaft entzweiten Persönlichkeit gegen
    den anderen Partner des Konflikts. Andere Situationen als diese
    sind für die Analyse mehr oder minder ungünstig, fügen zu den
    inneren Schwierigkeiten des Falles neue hinzu. Situationen wie
    die des Bauherrn, der beim Architekten eine Villa nach seinem
    Geschmack und Bedürfnis bestellt, oder des frommen Stifters, der
    sich vom Künstler ein Heiligenbild malen läßt, in dessen Ecke
    dann sein eigenes Porträt als Anbetender Platz findet, sind mit
    den Bedingungen der Psychoanalyse im Grunde nicht vereinbar.
    Es kommt zwar alle Tage vor, daß sich ein Ehemann an den
    Arzt mit der Information wendet: Meine Frau ist nervös, sie
    verträgt sich darum schlecht mit mir; machen Sie sie gesund,
    so daß wir wieder eine glückliche Ehe führen können. Aber es
    stellt sich oft genug heraus, daß ein solcher Auftrag unausführbar
    ist, das heißt, daß der Arzt nicht das Ergebnis herstellen kann,
    wegen dessen der Mann die Behandlung wünschte. Sowie die
    Frau von ihren neurotischen Hemmungen befreit ist, setzt sie
    die Trennung der Ehe durch, deren Erhaltung nur unter der
    Voraussetzung ihrer Neurose möglich war. Oder Eltern verlangen,
    daß man ihr Kind gesund mache, welches nervös und unfügsam
    ist. Sie verstehen unter einem gesunden Kind ein solches, das den
    Eltern keine Schwierigkeiten bereitet, an dem sie ihre Freude
    haben können. Die Herstellung des Kindes mag dem Arzt gelingen,
    aber es geht nach der Genesung um so entschiedener seine eigenen
    Wege, und die Eltern sind jetzt weit mehr unzufrieden als vor-
    her. Kurz, es ist nicht gleichgültig, ob ein Mensch aus eigenem
    Streben in die Analyse kommt, oder darum, weil andere ihn
    dahin bringen, ob er selbst seine Veränderung wünscht oder nur

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    seine Angehörigen, die ihn lieben, oder von denen man solche
    Liebe erwarten sollte.

    Als weitere ungünstige Momente waren die Tatsachen zu
    bewerten, daß das Mädchen ja keine Kranke war — sie litt
    nicht aus inneren Gründen, beklagte sich nicht über ihren
    Zustand — und daß die gestellte Aufgabe nicht darin bestand,
    einen neurotischen Konflikt zu lösen, sondern die eine Variante
    der genitalen Sexualorganisation in die andere überzuführen.
    Diese Leistung, die Beseitigung der genitalen Inversion oder
    Homosexualität, ist meiner Erfahrung niemals leicht erschienen.
    Ich habe vielmehr gefunden, daß sie nur unter besonders günstigen
    Umständen gelingt, und auch dann bestand der Erfolg wesentlich
    darin, daß man der homosexuell eingeengten Person den bis
    dahin versperrten Weg zum anderen Geschlechte freimachen
    konnte, also ihre volle bisexuelle Funktion wiederherstellte. Es
    lag dann in ihrem Belieben, ob sie den anderen, von der Gesell-
    schaft geächteten Weg veröden lassen wollte, und in einzelnen
    Fällen hat sie es auch so getan. Man muß sich sagen, daß auch
    die normale Sexualität auf einer Einschränkung der Objektwahl
    beruht, und im allgemeinen ist das Unternehmen, einen voll-
    entwickelten Homosexuellen in einen Heterosexuellen zu ver-
    wandeln, nicht viel aussichtsreicher als das umgekehrte, nur daß
    man dies letztere aus guten praktischen Gründen niemals versucht.

    Die Erfolge der psychoanalytischen Therapie in der Behandlung
    der allerdings sehr vielgestaltigen Homosexualität sind der Zahl
    nach wirklich nicht bedeutsam. In der Regel vermag der Homo-
    sexuelle sein Lustobjekt nicht aufzugeben; es gelingt nicht,
    ihn zu überzeugen, daß er die Lust, auf die er hier verzichtet,
    im Falle der Umwandlung am anderen Objekt wiederfinden
    würde. Wenn er sich überhaupt in Behandlung begibt, so haben
    ihn zumeist äußere Motive dazu gedrängt, die sozialen Nachteile
    und Gefahren seiner Objektwahl, und solche Komponenten des
    Selbsterhaltungstriebes erweisen sich als zu schwach im Kampfe

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    gegen die Sexualstrebungen. Man kann dann bald seinen geheimen
    Plan aufdecken, sich durch den eklatanten Mißerfolg dieses Ver-
    suches die Beruhigung zu schaffen, daß er das Möglichste
    gegen seine Sonderartung getan habe und sich ihr nun mit
    gutem Gewissen überlassen könne. Wo die Rücksicht auf geliebte
    Eltern und Angehörige den Versuch zur Heilung motiviert hat,
    da liegt der Fall etwas anders. Es sind dann wirklich libidinöse
    Strebungen vorhanden, die zur homosexuellen Objektwahl gegen-
    sätzliche Energien entwickeln können, aber deren Kraft reicht
    selten aus. Nur wo die Fixierung an das gleichgeschlechtliche
    Objekt noch nicht stark genug geworden ist, oder wo sich erheb-
    liche Ansätze und Reste der heterosexuellen Objektwahl vorfinden,
    also bei noch schwankender oder bei deutlich bisexueller Organi-
    sation, darf die Prognose der psychoanalytischen Therapie günstiger
    gestellt werden.

    Aus diesen Gründen vermied ich es durchaus, den Eltern die
    Erfüllung ihres Wunsches in Aussicht zu stellen. Ich erklärte
    mich bloß bereit dazu, das Mädchen durch einige Wochen oder
    Monate sorgfältig zu studieren, um mich danach über die Aus-
    sichten einer Beeinflussung durch Fortsetzung der Analyse äußern
    zu können. In einer ganzen Anzahl von Fällen zerlegt sich ja
    die Analyse in zwei deutlich gesonderte Phasen; in einer ersten
    verschafft sich der Arzt die notwendigen Kenntnisse vom Patienten,
    macht ihn mit den Voraussetzungen und Postulaten der Analyse
    bekannt und entwickelt vor ihm die Konstruktion der Entstehung
    seines Leidens, zu welcher er sich auf Grund des von der Ana-
    lyse gelieferten Materials berechtigt glaubt. In einer zweiten
    Phase bemächtigt sich der Patient selbst des ihm vorgelegten
    Stoffes, arbeitet an ihm, erinnert von dem bei ihm angeblich
    Verdrängten, was er erinnern kann, und trachtet, das andere in
    einer Art von Neubelebung zu wiederholen. Dabei kann er die
    Aufstellungen des Arztes bestätigen, ergänzen und richtigstellen.
    Erst während dieser Arbeit erfährt er durch die Überwindung

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    von Widerständen die innere Veränderung, die man erzielen will,
    und gewinnt die Überzeugungen, die ihn von der ärztlichen
    Autorität unabhängig machen. Nicht immer sind diese beiden
    Phasen im Ablauf der analytischen Kur scharf voneinander
    geschieden; es kann dies nur geschehen, wenn der Widerstand
    bestimmte Bedingungen einhält. Aber wo es der Fall ist, kann
    man den Vergleich mit zwei entsprechenden Abschnitten einer
    Reise heranziehen. Der erste umfaßt alle notwendigen, heute so
    komplizierten und schwer zu erfüllenden Vorbereitungen, bis
    man endlich die Fahrkarte gelöst, den Perron betreten und seinen
    Platz im Wagen erobert hat. Man hat jetzt das Recht und die
    Möglichkeit, in das ferne Land zu reisen, aber man ist nach all
    diesen Vorarbeiten noch nicht dort, eigentlich dem Ziele um
    keinen Kilometer näher gerückt. Es gehört noch dazu, daß man
    die Reise selbst von einer Station zur anderen zurücklege, und
    dieses Stück der Reise ist mit der zweiten Phase gut vergleichbar.

    Die Analyse bei meiner nunmehrigen Patientin verlief nach
    diesem Zweiphasenschema, wurde aber nicht über den Beginn
    der zweiten Phase hinaus fortgeführt. Eine besondere Konstellation
    des Widerstandes ermöglichte es trotzdem, die volle Bestätigung
    meiner Konstruktionen und eine im großen und ganzen zureichende
    Einsicht in den Entwicklungsgang ihrer Inversion zu gewinnen.
    Ehe ich aber die Ergebnisse der Analyse bei ihr darlege, muß
    ich einige Punkte erledigen, die ich entweder schon selbst gestreift
    oder die sich dem Leser als die ersten Gegenstände seines
    Interesses aufgedrängt haben.

    Ich hatte die Prognose zum Teil davon abhängig gemacht,
    wie weit das Mädchen in der Befriedigung seiner Leidenschaft
    gekommen war. Die Auskunft, die ich während der Analyse
    erhielt, schien in dieser Hinsicht günstig. Bei keinem der Objekte
    ihrer Schwärmerei hatte sie mehr als einzelne Küsse und Um-
    armungen genossen, ihre Genitalkeuschheit, wenn man so sagen
    darf, war unversehrt geblieben. Die Halbweltdame gar, die die

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    jüngsten und weitaus stärksten Gefühle bei ihr erweckt hatte,
    war spröde gegen sie geblieben, hatte ihr nie eine höhere Gunst
    gegönnt als die, ihr die Hand küssen zu dürfen. Das Mädchen
    machte wahrscheinlich eine Tugend aus ihrer Not, wenn sie
    immer wieder die Reinheit ihrer Liebe und ihre physische
    Abneigung gegen einen Sexualverkehr betonte. Vielleicht hatte
    sie aber nicht ganz unrecht, wenn sie von ihrer hehren Geliebten
    rühmte, daß sie, von vornehmer Herkunft, und nur durch widrige
    Familienverhältnisse in ihre gegenwärtige Position gedrängt, sich
    auch hier noch ein ganzes Stück Würde bewahrt habe. Denn
    diese Dame pflegte ihr bei jedem Zusammentreffen zuzureden,
    ihre Neigung von ihr und von den Frauen überhaupt abzuwenden,
    und hatte sich bis zum Selbstmordversuch immer nur streng
    abweisend gegen sie benommen.

    Ein zweiter Punkt, den ich alsbald aufzuklären versuchte, betraf
    die eigenen Motive des Mädchens, auf welche die analytische
    Behandlung sich etwa stützen konnte. Sie versuchte mich nicht
    durch die Behauptung zu täuschen, daß es ihr ein dringendes
    Bedürfnis sei, von ihrer Homosexualität befreit zu werden. Sie
    könne sich im Gegenteil gar keine andere Verliebtheit vorstellen,
    aber, setzte sie hinzu, der Eltern wegen wolle sie den
    therapeutischen Versuch ehrlich unterstützen, denn sie empfinde
    es sehr schwer, den Eltern solchen Kummer zu bereiten. AucH
    diese Äußerung mußte ich zunächst als günstig auffassen; ich
    konnte nicht ahnen, welche unbewußte Affekteinstellung sich
    hinter ihr verbarg. Was hier dann später zum Vorschein kam,
    hat die Gestaltung der Kur und deren vorzeitigen Abbruch
    entscheidend beeinflußt.

    Nichtanalytische Leser werden längst die Beantwortung zweier
    anderer Fragen ungeduldig erwarten. Zeigte dieses homosexuelle
    Mädchen deutliche somatische Charaktere des anderen Geschlechts
    und erwies sie sich als ein Fall von angeborener oder von
    erworbener (später entwickelter) Homosexualität?

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    Ich verkenne die Bedeutung nicht, welche der ersteren Frage
    zukommt. Nur möge man diese Bedeutung nicht übertreiben und
    zu ihren Gunsten die Tatsachen verdunkeln, daß vereinzelte
    sekundäre Merkmale des anderen Geschlechts bei normalen
    menschlichen Individuen überhaupt sehr häufig vorkommen,
    und daß sehr gut ausgeprägte somatische Charaktere des anderen
    Geschlechtes sich an Personen finden können, deren Objektwahl
    keine Abänderung im Sinne einer Inversion erfahren hat. Daß
    also, anders ausgedrückt, bei beiden Geschlechtern das Maß
    des physischen Hermaphroditismus von dem des
    psychischen in hohem Grade unabhängig ist
    . Als
    Einschränkung der beiden Sätze ist hinzuzufügen, daß diese
    Unabhängigkeit beim Manne deutlicher ist als beim Weibe, wo
    die körperliche und die seelische Ausprägung des entgegengesetzten
    Geschlechtscharakters eher regelmäßig zusammentreffen. Ich bin
    aber doch nicht in der Lage, die erste der hier gestellten Fragen
    für meinen Fall befriedigend zu beantworten. Der Psychoanalytiker
    pflegt sich ja eine eingehende körperliche Untersuchung seiner
    Patienten in bestimmten Fällen zu versagen. Eine auffällige
    Abweichung vom körperlichen Typus des Weibes bestand jedenfalls
    nicht, auch keine menstruale Störung. Wenn das schöne und
    wohlgebildete Mädchen den hohen Wuchs des Vaters und eher
    scharfe als mädchenhaft weiche Gesichtszüge zeigte, so mag man
    darin Andeutungen einer somatischen Männlichkeit erblicken.
    Auf männliches Wesen konnte man auch einige ihrer intellektuellen
    Eigenschaften beziehen, so die Schärfe ihres Verständnisses und
    die kühle Klarheit ihres Denkens, insoweit sie nicht unter der
    Herrschaft ihrer Leidenschaft stand. Doch sind diese Unterschei-
    dungen eher konventionell als wissenschaftlich berechtigt. Bedeut-
    samer ist gewiß, daß sie in ihrem Verhalten zu ihrem Liebesobjekt
    durchaus den männlichen Typus angenommen hatte, also die
    Demut und großartige Sexualüberschätzung des liebenden Mannes
    zeigte, den Verzicht auf jede narzißtische Befriedigung, die Bevor-

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    zugang des Liebens vor dem Geliebtwerden. Sie hatte also
    nicht nur ein weibliches Objekt gewählt, sondern auch eine männliche
    Einstellung zu ihm gewonnen.

    Die andere Frage, ob ihr Fall einer angeborenen oder einer
    erworbenen Homosexualität entsprach, soll durch die ganze
    Entwicklungsgeschichte ihrer Störung beantwortet werden. Dabei
    wird sich ergeben, inwieweit diese Fragestellung selbst unfruchtbar
    und unangemessen ist.

    II

    Auf eine so weitschweifige Einleitung kann ich nur eine ganz
    knappe und übersichtliche Darstellung der Libidogeschichte dieses
    Falles folgen lassen. Das Mädchen hatte in den Kinderjahren die
    normale Einstellung des weiblichen Ödipuskomplexes1 in wenig
    auffälliger Weise durchgemacht, später auch begonnen, den Vater
    durch den um wenig älteren Bruder zu ersetzen. Sexuelle Traumen
    in früher Jugend wurden weder erinnert noch durch die Analyse
    aufgedeckt. Die Vergleichung der Genitalien des Bruders mit den
    eigenen, die etwa zu Beginn der Latenzzeit (zu fünf Jahren oder
    etwas früher) vorfiel, hinterließ ihr einen starken Eindruck und
    war in ihren Nachwirkungen weit zu verfolgen. Auf frühinfantile
    Onanie deutete sehr wenig, oder die Analyse kam nicht so weit,
    um diesen Punkt aufzuklären. Die Geburt eines zweiten Bruders,
    als sie zwischen fünf und sechs Jahren alt war, äußerte keinen
    besonderen Einfluß auf ihre Entwicklung. In den Schul- und
    Vorpubertätsjahren wurde sie allmählich mit den Tatsachen des
    Sexuallebens bekannt und empfing dieselben mit dem normal zu
    nennenden, auch im Ausmaße nicht übertriebenen Gemenge von
    Lüsternheit und erschreckter Ablehnung. Alle diese Auskünfte
    erscheinen recht mager, ich kann auch nicht dafür einstehen,
    daß sie vollständig sind. Vielleicht war die Jugendgeschichte doch

    1) Ich sehe in der Einführung des Terminus „Elektrakomplex” keinen Fortschritt
    oder Vorteil und möchte denselben nicht befürworten.

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    325

    weit reichhaltiger; ich weiß es nicht. Die Analyse brach, wie
    gesagt, nach kurzer Zeit ab und lieferte darum eine Anamnese,
    die nicht viel verläßlicher ist als die anderen, mit gutem Recht
    beanstandeten Anamnesen von Homosexuellen. Das Mädchen
    war auch niemals neurotisch gewesen, brachte nicht ein hysterisches
    Symptom in die Analyse mit, so daß sich die Anlässe zur
    Durchforschung ihrer Kindergeschichte nicht so bald ergeben
    konnten.

    Mit dreizehn und vierzehn Jahren zeigte sie eine, nach dem
    Urteil aller übertrieben starke, zärtliche Vorliebe für einen kleinen,
    noch nicht dreijährigen Jungen, den sie in einem Kinderpark
    regelmäßig sehen konnte. Sie nahm sich des Kindes so herzlich
    an, daß daraus eine langdauernde freundschaftliche Beziehung zu
    den Eltern des Kleinen entstand. Man darf aus diesem Vorfall
    schließen, daß sie damals von einem starken Wunsche, selbst
    Mutter zu sein und ein Kind zu haben, beherrscht war. Aber
    kurze Zeit nachher wurde ihr der Knabe gleichgültig, und sie
    begann ein Interesse für reife, doch noch jugendliche Frauen zu
    zeigen, dessen Äußerungen ihr bald eine empfindliche Züchtigung
    von seiten des Vaters zuzogen.

    Es wurde über jeden Zweifel sichergestellt, daß diese Wandlung
    zeitlich mit einem Ereignis in der Familie zusammenfällt, von
    dem wir demnach die Aufklärung der Wandlung erwarten dürfen.
    Vorher war ihre Libido auf Mütterlichkeit eingestellt gewesen,
    nachher war sie eine in reifere Frauen verliebte Homosexuelle,
    was sie seitdem geblieben ist. Dies für unser Verständnis so
    bedeutsame Ereignis war eine neue Gravidität der Mutter und
    die Geburt eines dritten Bruders, als sie etwa sechzehn Jahre
    alt war.

    Der Zusammenhang, den ich nun im folgenden aufdecken
    werde, ist kein Produkt meiner Kombinationsgabe; er ist mir
    durch so vertrauenswürdiges analytisches Material nahegelegt
    worden, daß ich objektive Sicherheit für ihn beanspruchen kann.

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    Insbesondere hat eine Reihe von ineinandergreifenden,
    leicht deutbaren Träumen für ihn entschieden.

    Die Analyse ließ unzweideutig erkennen, daß die geliebte Dame
    ein Ersatz für die — Mutter war. Nun war diese selbst aller-
    dings keine Mutter, aber sie war auch nicht die erste Liebe des
    Mädchens gewesen. Die ersten Objekte ihrer Neigung seit der
    Geburt des letzten Bruders waren wirklich Mütter, Frauen zwischen
    dreißig und fünfunddreißig Jahren, die sie mit ihren Kindern in
    der Sommerfrische oder im Familienverkehr der Großstadt kennen
    lernte. Die Bedingung der Mütterlichkeit wurde später fallen
    gelassen, weil sie sich mit einer anderen, die immer gewichtiger
    wurde, in der Realität nicht gut vertrug. Die besonders intensive
    Bindung an die letzte Geliebte, die „Dame”, hatte noch einen
    anderen Grund, den das Mädchen eines Tages ohne Mühe auf-
    fand. Sie wurde durch die schlanke Erscheinung, die strenge
    Schönheit und das rauhe Wesen der Dame an ihren eigenen,
    etwas älteren Bruder gemahnt. Das endlich gewählte Objekt
    entsprach also nicht nur ihrem Frauen-, sondern auch ihrem
    Männerideal, es vereinigte die Befriedigung der homosexuellen
    Wunschrichtung mit jener der heterosexuellen. Bekanntlich hat
    die Analyse männlicher Homosexueller in zahlreichen Fällen das
    nämliche Zusammentreffen gezeigt, ein Wink, sich Wesen und
    Entstehung der Inversion nicht allzu einfach vorzustellen und
    die durchgängige Bisexualität des Menschen nicht aus dem Auge
    zu verlieren.1

    Wie soll man es aber verstehen, daß das Mädchen gerade
    durch die Geburt eines späten Kindes, als sie selbst schon reif
    geworden war und eigene starke Wünsche hatte, bewogen wurde,
    ihre leidenschaftliche Zärtlichkeit der Gebärerin dieses Kindes,
    ihrer eigenen Mutter, zuzuwenden und an einer Vertreterin der
    Mutter zum Ausdruck zu bringen? Nach allem, was man sonst

    1) Vgl. L. Sadger: Jahresbericht über sexuelle Perversionen. Jahrbuch der
    Psychoanalyse, VI, 1914 und a. a. O.

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    325

    weiß, hätte man das Gegenteil erwarten sollen. Die Mütter
    pflegen sich unter solchen Umständen vor ihren beinahe heirats-
    fähigen Töchtern zu genieren, die Töchter haben für die Mutter
    ein aus Mitleid, Verachtung und Neid gemischtes Gefühl bereit,
    das nichts dazu beiträgt, die Zärtlichkeit für die Mutter zu
    steigern. Das Mädchen unserer Beobachtung hatte überhaupt
    wenig Grund, für ihre Mutter zärtlich zu empfinden. Der selbst
    noch jugendlichen Frau war diese rasch erblühte Tochter eine
    unbequeme Konkurrentin, sie setzte sie hinter den Knaben zurück,
    schränkte ihre Selbständigkeit möglichst ein und wachte besonders
    eifrig darüber, daß sie dem Vater ferne blieb. Ein Bedürfnis nach
    einer liebenswürdigeren Mutter mag also bei dem Mädchen von
    jeher gerechtfertigt gewesen sein; warum es aber damals und in
    Gestalt einer verzehrenden Leidenschaft aufflackerte, ist nicht
    begreiflich.

    Die Erklärung ist die folgende: Das Mädchen befand sich in
    der Phase der Pubertätsauffrischung des infantilen Ödipuskomplexes,
    als die Enttäuschung über sie kam. Hell bewußt wurde ihr der
    Wunsch, ein Kind zu haben, und zwar ein männliches; daß es
    ein Kind vom Vater und dessen Ebenbild sein sollte, durfte ihr
    Bewußtes nicht erfahren. Aber da geschah es, daß nicht sie das
    Kind bekam, sondern die im Unbewußten gehaßte Konkurrentin,
    die Mutter. Empört und erbittert wendete sie sich vom Vater,
    ja vom Manne überhaupt ab. Nach diesem ersten großen Mißerfolg
    verwarf sie ihre Weiblichkeit und strebte nach einer anderen
    Unterbringung ihrer Libido.

    Sie benahm sich dabei ganz ähnlich wie viele Männer, die
    nach einer ersten peinlichen Erfahrung dauernd mit dem treu-
    losen Geschlecht der Frauen zerfallen und Weiberfeinde werden.
    Von einer der anziehendsten und unglücklichsten fürstlichen
    Persönlichkeiten unserer Lebenszeit wird erzählt, daß er darum
    homosexuell geworden, weil ihn die verlobte Braut mit einem
    fremden Gesellen hintergangen hatte. Ich weiß nicht, ob dies

  • S.

    326

    historische Wahrheit ist, aber ein Stück psychologischer Wahrheit
    steckt hinter diesem Gerücht. Unser aller Libido schwankt normaler-
    weise lebenslang zwischen dem männlichen und dem weiblichen
    Objekt; der Junggeselle gibt seine Freundschaften auf, wenn er
    heiratet, und kehrt zum Stammtisch zurück, wenn seine Ehe schaal
    geworden ist. Freilich, wo die Schwankung so gründlich und so
    endgültig ist, da richtet sich unsere Vermutung auf ein besonderes
    Moment, welches die eine oder die andere Seite entscheidend
    begünstigt, vielleicht nur auf den geeigneten Zeitpunkt gewartet
    hat, um die Objektwahl nach seinem Sinne durchzusetzen.

    Unser Mädchen hatte also nach jener Enttäuschung den Wunsch
    nach dem Kinde, die Liebe zum Manne und die weibliche Rolle
    überhaupt von sich gewiesen. Und nun hätte offenbar sehr
    Verschiedenartiges geschehen können; was wirklich geschah, war
    das Extremste. Sie wandelte sich zum Manne um und nahm die
    Mutter an Stelle des Vaters zum Liebesobjekt.1 Ihre Beziehung
    zur Mutter war sicherlich von Anfang an ambivalent gewesen,
    es gelang leicht, die frühere Liebe zur Mutter wiederzubeleben
    und mit ihrer Hilfe die gegenwärtige Feindseligkeit gegen die
    Mutter zur Überkompensation zu bringen. Da mit der realen
    Mutter wenig anzufangen war, ergab sich aus der geschilderten
    Gefühlsumsetzung das Suchen nach einem Mutterersatz, an dem
    man mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit hängen konnte.2

    Ein praktisches Motiv aus ihren realen Beziehungen zur Mutter
    kam als „Krankheitsgewinn” noch hinzu. Die Mutter legte

    1) Es ist gar nicht so selten, daß man eine Liebesbeziehung dadurch abbricht,
    daß man sich selbst mit dem Objekt derselben identifiziert, was einer Art von
    Regression zum Narzißmus entspricht. Nachdem dies erfolgt ist, kann man bei
    neuerlicher Objektwahl leicht das dem früheren entgegengesetzte Geschlecht mit
    seiner Libido besetzen.

    2) Die hier beschriebenen Verschiebungen der Libido sind gewiß jedem Ana-
    lytiker aus der Erforschung der Anamnesen von Neurotikern bekannt. Nur fallen sie
    bei diesen letzteren im zarten Kindesalter, zur Zeit der Frühblüte des Liebeslebens
    vor, bei unserem ganz und gar nicht neurotischen Mädchen vollziehen sie sich in
    den ersten Jahren nach der Pubertät, übrigens gleichfalls völlig unbewußt. Ob dieses
    zeitliche Moment sich nicht einstmals als sehr bedeutsam herausstellen wird?

  • S.

    327

    selbst noch Wert darauf, von Männern hofiert und gefeiert
    zu werden. Wenn sie also homosexuell wurde, der Mutter die
    Männer überließ, ihr sozusagen „auswich”, räumte sie etwas
    aus dem Wege, was bisher an der Mißgunst der Mutter Schuld
    getragen hatte.1

    Die so gewonnene Libidoeinstellung wurde nun gefestigt, als
    das Mädchen merkte, wie unangenehm sie dem Vater war. Seit
    jener ersten Züchtigung wegen einer allzu zärtlichen Annäherung
    an eine Frau wußte sie, womit sie den Vater kränken, und wie
    sie sich an ihm rächen konnte. Sie blieb jetzt homosexuell aus
    Trotz gegen den Vater. Sie machte sich auch kein Gewissen
    daraus, ihn auf jede Weise zu hintergehen und zu belügen.
    Gegen die Mutter war sie ja nur so weit unaufrichtig, als es
    nötig war, damit der Vater nichts erfahre. Ich hatte den

    1) Da ein solches Ausweichen bisher unter den Ursachen der Homosexualität wie
    im Mechanismus der Libidofixierung überhaupt keine Erwähnung gefunden hat,
    will ich eine ähnliche analytische Beobachtung hier anschließen, die durch einen
    besonderen Umstand interessant ist. Ich habe einst zwei Zwillingsbrüder kennen
    gelernt, die beide mit starken libidinösen Impulsen begabt waren. Der eine von
    ihnen hatte viel Glück bei Frauen und ließ sich in ungezählte Verhältnisse mit
    Frauen und Mädchen ein. Der andere war zuerst auf demselben Wege, aber dann
    wurde es ihm unangenehm, dem Bruder ins Gehege zu kommen, infolge seiner
    Ähnlichkeit bei intimen Anlässen mit ihm verwechselt zu werden, und er half sich
    dadurch, daß er homosexuell wurde. Er überließ dem Bruder die Frauen und war
    ihm so “ausgewichen”. Ein andermal behandelte ich einen jüngeren Mann, Künstler
    und unverkennbar bisexuell angelegt, bei dem sich die Homosexualität gleichzeitig
    mit einer Arbeitsstörung durchgesetzt hatte. Er floh in einem die Frauen und sein
    Werk. Die Analyse, die ihn zu beiden zurückführen konnte, wies die Scheu vor dem
    Vater als das mächtigste psychische Motiv für beide Störungen, eigentlich Ent-
    sagungen, nach. In seiner Vorstellung gehörten alle Frauen dem Vater, und er
    flüchtete zu den Männern aus Ergebenheit, um dem Konflikt mit dem Vater aus-
    zuweichen. Solche Motivierung der homosexuellen Objektwahl muß sich häufiger
    finden lassen; in den Urzeiten des Menschengeschlechts war es wohl so, daß alle
    Frauen dem Vater und Oberhaupt der Urhorde gehörten. — Bei Geschwistern, die
    nicht Zwillinge sind, spielt solches Ausweichen auch auf anderen Gebieten als dem
    der Liebeswahl eine große Rolle. Der ältere Bruder pflegt z. B. Musik und findet
    dafür Anerkennung, der jüngere, musikalisch weit begabter, bricht trotz seiner
    Sehnsucht danach das Musikstudium bald ab und ist nicht mehr zu bewegen,
    ein Instrument zu berühren. Es ist dies ein einzelnes Beispiel für ein sehr
    häufiges Vorkommen, und die Untersuchung der Motive, die zum Ausweichen
    anstatt zur Aufnahme der Konkurrenz führen, deckt sehr komplizierte psychische
    Bedingungen auf.

  • S.

    328

    Eindruck, daß sie nach dem Grundsatz der Talion handelte: Hast
    du mich betrogen, so mußt du es dir gefallen lassen, daß ich
    auch dich betrüge. Auch die auffälligen Unvorsichtigkeiten des
    sonst raffiniert klugen Mädchens kann ich nicht anders beurteilen.
    Der Vater mußte doch gelegentlich von ihrem Umgang mit
    der Dame erfahren, sonst wäre ihr die Rachebefriedigung, die
    ihr die dringendste war, entgangen. So sorgte sie dafür, indem
    sie sich mit der Angebeteten öffentlich zeigte, in den Straßen
    nahe dem Geschäftslokal des Vaters spazieren ging und dergleichen.
    Auch diese Ungeschicklichkeiten geschahen nicht absichtslos. Es
    ist übrigens merkwürdig, daß beide Eltern sich so benahmen,
    als ob sie die geheime Psychologie der Tochter verstünden. Die
    Mutter zeigte sich tolerant, als ob sie das Ausweichen der
    Tochter als Gefälligkeit würdigte, der Vater raste, als fühlte er
    die gegen seine Person gerichtete Racheabsicht.

    Die letzte Kräftigung erfuhr aber die Inversion des Mädchens,
    als sie in der „Dame” auf ein Objekt stieß, welches gleichzeitig
    dem noch am Bruder haftenden Anteil ihrer heterosexuellen
    Libido Befriedigung bot.

    III

    Die lineare Darstellung eignet sich wenig zur Beschreibung
    der verschlungenen und in verschiedenen seelischen Schichten
    ablaufenden seelischen Vorgänge. Ich bin genötigt, in der
    Diskussion des Falles innezuhalten und einiges von dem Mitge-
    teilten zu erweitern und zu vertiefen.

    Ich habe erwähnt, daß das Mädchen in ihrem Verhältnis zur
    verehrten Dame den männlichen Typus der Liebe annahm. Ihre
    Demut und zärtliche Anspruchslosigkeit, „che poco spera e nulla
    chiede
    ”, die Seligkeit, wenn ihr gestattet wurde, die Dame ein
    Stück weit zu begleiten und ihr beim Abschied die Hand zu
    küssen, die Freude, wenn sie sie als schön rühmen hörte, während
    die Anerkennung ihrer eigenen Schönheit von fremder Seite ihr
    gar nichts bedeutete, ihre Pilgerbesuche nach Örtlichkeiten, wo

  • S.

    329

    die Geliebte sich vorher einmal aufgehalten hatte, das Verstummen
    aller weiter reichenden sinnlichen Wünsche: alle diese kleinen
    Züge entsprachen etwa der ersten schwärmerischen Leidenschaft
    eines Jünglings für eine gefeierte Künstlerin, die er hoch über
    sich stehend glaubt, und zu der er seinen Blick nur schüchtern
    zu erheben wagt. Die Übereinstimmung mit einem von mir
    beschriebenen „Typus der männlichen Objektwahl”, dessen
    Besonderheiten ich auf die Bindung an die Mutter zurückgeführt
    habe,1 ging bis in die Einzelheiten. Es konnte auffällig erscheinen,
    daß sie durch den schlechten Leumund der Geliebten nicht im
    mindesten abgeschreckt wurde, obwohl ihre eigenen Beobachtungen
    sie von der Berechtigung dieser Nachrede genügend überzeugten.
    Sie war doch eigentlich ein wohlerzogenes und keusches Mädchen,
    das für ihre eigene Person sexuellen Abenteuern aus dem Wege
    gegangen war und grobsinnliche Befriedigungen als unästhetisch
    empfand. Aber bereits ihre ersten Schwärmereien hatten Frauen
    gegolten, denen man keine Neigung zu besonders strenger
    Sittlichkeit nachrühmte. Den ersten Protest des Vaters gegen
    ihre Liebeswahl hatte sie durch die Hartnäckigkeit hervorgerufen,
    mit der sie sich um den Verkehr mit einer Kinoschauspielerin
    an jenem Sommerorte bemühte. Dabei hatte es sich keineswegs
    um Frauen gehandelt, die etwa im Rufe der Homosexualität
    standen und ihr somit Aussicht auf solche Befriedigung geboten
    hätten; vielmehr warb sie unlogischerweise um kokette Frauen
    im gewöhnlichen Sinne des Wortes; eine homosexuelle, ihr
    gleichaltrige Freundin, die sich ihr bereitwilligst zur Verfügung
    stellte, wies sie ohne Bedenken ab. Der schlechte Ruf der
    „Dame” aber war geradezu eine Liebesbedingung für sie, und
    alles Rätselhafte dieses Verhaltens verschwindet, wenn wir uns
    erinnern, daß auch für jenen von der Mutter abgeleiteten männ-
    lichen Typus der Objektwahl die Bedingung besteht, daß die
    Geliebte irgendwie „sexuell anrüchig” sei, eigentlich eine Kokotte

    1) S. 186 ff. dieses Bandes.

  • S.

    330

    genannt werden dürfe. Als sie später erfuhr, in welchem Aus-
    maß diese Kennzeichnung für ihre verehrte Dame zutraf, und
    daß diese einfach von der Preisgabe ihres Körpers lebte, bestand
    ihre Reaktion in einem großen Mitleid und in der Entwicklung
    von Phantasien und Vorsätzen, wie sie die Geliebte aus diesen
    unwürdigen Verhältnissen „retten” könne. Dieselben Rettungs-
    bestrebungen sind uns bei den Männern jenes von mir
    beschriebenen Typus aufgefallen, und ich habe an der erwähnten
    Stelle die analytische Ableitung dieses Strebens zu geben versucht.

    In ganz andere Regionen der Erklärung führt die Analyse
    des Selbstmordversuches, den ich als einen ernstgemeinten gelten
    lassen muß, der übrigens ihre Position sowohl bei den Eltern
    als auch bei der geliebten Dame beträchtlich verbesserte. Sie
    ging eines Tages mit ihr in einer Gegend und zu einer Stunde
    spazieren, wo eine Begegnung mit dem vom Bureau kommenden
    Vater nicht unwahrscheinlich war. Der Vater ging auch an ihnen
    vorüber und warf einen wütenden Blick auf sie und die ihm
    bereits bekannte Begleiterin. Kurz darauf stürzte sie sich in den
    Stadtbahngraben. Ihre Rechenschaft von der näheren Verursachung
    ihres Entschlusses klingt nun ganz plausibel. Sie hatte der Dame
    eingestanden, daß der Herr, der sie beide so böse angeschaut
    hatte, ihr Vater sei, der von diesem Verkehr absolut nichts
    wissen wolle. Die Dame war nun aufgebraust, hatte ihr befohlen,
    sie sofort zu verlassen und nie mehr zu erwarten oder anzureden,
    diese Geschichte müsse nun ein Ende haben. In der Verzweiflung
    darüber, daß sie so die Geliebte für immer verloren habe, wollte
    sie sich den Tod geben. Die Analyse gestattete aber eine andere
    und tiefer greifende Deutung hinter der ihrigen aufzudecken und
    durch ihre eigenen Träume zu stützen. Der Selbstmordversuch
    war, wie man erwarten durfte, außerdem noch zweierlei: eine
    Straferfüllung (Selbstbestrafung) und eine Wunscherfüllung. Als
    letztere bedeutete er die Durchsetzung jenes Wunsches, dessen
    Enttäuschung sie in die Homosexualität getrieben hatte, nämlich

  • S.

    331

    vom Vater ein Kind zu bekommen, denn nun kam sie durch
    die Schuld des Vaters nieder.1 Es stellt die Verbindung dieser
    Tiefendeutung mit der dem Mädchen bewußten, oberflächlichen
    her, daß in diesem Moment die Dame genau so gesprochen hatte
    wie der Vater und das nämliche Verbot hatte ergehen lassen.
    Als Selbstbestrafung bürgt uns die Handlung des Mädchens dafür,
    daß sie starke Todeswünsche gegen den einen oder den anderen
    Elternteil in ihrem Unbewußten entwickelt hatte. Vielleicht aus
    Rachsucht gegen den ihre Liebe störenden Vater, noch wahr-
    scheinlicher aber auch gegen die Mutter, als sie mit dem kleinen
    Bruder schwanger ging. Denn die Analyse hat uns zum Rätsel
    des Selbstmordes die Aufklärung gebracht, daß vielleicht niemand
    die psychische Energie sich zu töten findet, der nicht erstens
    dabei ein Objekt mittötet, mit dem er sich identifiziert hat, und
    der nicht zweitens dadurch einen Todeswunsch gegen sich selbst
    wendet, welcher gegen eine andere Person gerichtet war. Die
    regelmäßige Aufdeckung solcher unbewußter Todeswünsche beim
    Selbstmörder braucht übrigens weder zu befremden, noch als
    Bestätigung unserer Ableitungen zu imponieren, denn das Unbe-
    wußte aller Lebenden ist von solchen Todeswünschen, selbst
    gegen sonst geliebte Personen, übervoll.2 In der Identifizierung
    mit der Mutter, die an der Niederkunft mit diesem, ihr (der
    Tochter) vorenthaltenen, Kinde hätte sterben sollen, ist aber
    diese Straferfüllung selbst wieder eine Wunscherfüllung. Endlich,
    daß die verschiedensten starken Motive zusammenwirken mußten,
    um eine Tat wie die unseres Mädchens zu ermöglichen, wird
    unserer Erwartung nicht widersprechen.

    In der Motivierung des Mädchens kommt der Vater nicht vor, nicht
    einmal die Angst vor seinem Zorne wird erwähnt.

    1) Diese Deutungen der Wege des Selbstmordes durch sexuelle Wunscherfüllungen
    sind längst allen Analytikern vertraut. (Vergiften = schwanger werden, ertränken =
    gebären; von einer Höhe herabstürzen = niederkommen.)

    2) Vgl. Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Imago, IV, 1915. [Enthalten in
    Bd. X dieser Gesamtausgabe.]

  • S.

    332

    In der von der Analyse erratenen Motivierung fällt ihm die
    Hauptrolle zu. Dieselbe entscheidende Bedeutung hatte das Ver-
    hältnis zum Vater auch für den Verlauf und den Ausgang der
    analytischen Behandlung oder vielmehr Exploration. Hinter der
    vorgeschützten Rücksicht auf die Eltern, denen zuliebe sie den
    Versuch einer Umwandlung unterstützen wollte, verbarg sich die
    Trotz- und Racheeinstellung gegen den Vater, welche sie in der
    Homosexualität festhielt. Durch solche Deckung gesichert, gab der
    Widerstand ein großes Gebiet der analytischen Erforschung frei.
    Die Analyse vollzog sich fast ohne Anzeichen von Widerstand,
    unter reger intellektueller Beteiligung der Analysierten, aber auch
    bei völliger Gemütsruhe derselben. Als ich ihr einmal ein besonders
    wichtiges und sie nahe betreffendes Stück der Theorie ausein-
    andersetzte, äußerte sie mit unnachahmlicher Betonung: Ach, das
    ist ja sehr interessant, wie eine Weltdame, die durch ein Museum
    geführt wird und Gegenstände, die ihr vollkommen gleichgültig
    sind, durch ein Lorgnon in Augenschein nimmt. Der Eindruck
    von ihrer Analyse näherte sich dem einer hypnotischen Behandlung,
    in welcher sich der Widerstand gleichfalls bis zu einer bestimmten
    Grenze zurückgezogen hat, an der er sich dann als unbesiegbar
    erweist. Dieselbe — russische — Taktik, könnte man sie nennen,
    befolgt der Widerstand sehr oft in Fällen von Zwangsneurose,
    die darum eine Zeitlang die klarsten Ergebnisse liefern und einen
    tiefen Einblick in die Verursachung der Symptome gestatten.
    Man beginnt dann sich zu wundern, warum so große Fortschritte
    im analytischen Verständnis auch nicht die leiseste Änderung in
    den Zwängen und Hemmungen des Kranken mit sich bringen,
    bis man endlich bemerkt, daß alles, was man zustandegebracht
    hat, mit dem Vorbehalt des Zweifels behaftet war, hinter welchem
    Schutzwall sich die Neurose sicher fühlen durfte. „Es wäre ja
    alles recht schön,” heißt es im Kranken, oft auch bewußter-
    weise, „wenn ich dem Manne Glauben schenken müßte, aber
    davon ist ja keine Rede, und solange das nicht der Fall ist,

  • S.

    333

    brauche ich auch nichts zu ändern.” Nähert man sich dann der
    Motivierung dieses Zweifels, so bricht der Kampf mit den Wider-
    ständen ernsthaft los.

    Bei unserem Mädchen war es nicht der Zweifel, sondern das
    affektive Moment der Rache am Vater, das ihre kühle Reserve
    ermöglichte, die Analyse deutlich in zwei Phasen zerlegte und
    die Ergebnisse der ersten Phase so vollständig und übersichtlich
    werden ließ. Es hatte auch den Anschein, als ob bei dem
    Mädchen nichts einer Übertragung auf den Arzt Ähnliches
    zustande gekommen wäre. Aber das ist natürlich ein Widersinn
    oder eine ungenaue Ausdrucksweise; irgendein Verhältnis zum
    Arzt muß sich doch herstellen und dies wird zu allermeist aus
    einer infantilen Relation übertragen sein. In Wirklichkeit über-
    trug sie auf mich die gründliche Ablehnung des Mannes, von
    der sie seit ihrer Enttäuschung durch den Vater beherrscht war.
    Die Erbitterung gegen den Mann hat es in der Regel leicht,
    sich am Arzt zu befriedigen, sie braucht keine stürmischen Gefühls-
    äußerungen hervorzurufen, sie äußert sich einfach in der Ver-
    eitlung all seiner Bemühungen und im Festhalten am Kranksein.
    Ich weiß aus Erfahrung, wie schwierig es ist, den Analysierten
    zum Verständnis gerade dieser stummen Symptomatik zu bringen
    und solche latente, oft exzessiv große Feindseligkeit ohne
    Gefährdung der Kur bewußt zu machen. Ich brach also ab,
    sobald ich die Einstellung des Mädchens zum Vater erkannt hatte,
    und gab den Rat, den therapeutischen Versuch, wenn man Wert
    auf ihn legte, bei einer Ärztin fortführen zu lassen. Das Mädchen
    hatte unterdes dem Vater das Versprechen abgegeben, wenigstens
    den Verkehr mit der „Dame” zu unterlassen, und ich weiß nicht,
    ob mein Rat, dessen Motivierung ja durchsichtig ist, befolgt
    werden wird.

    Ein einziges Mal kam auch in dieser Analyse etwas vor, was
    ich als positive Übertragung, als außerordentlich abgeschwächte
    Erneuerung der ursprünglichen leidenschaftlichen Verliebtheit in

  • S.

    334

    den Vater auffassen konnte. Auch diese Äußerung war vom Zusatz
    eines anderen Motivs nicht frei, ich erwähne sie aber, weil sie
    nach anderer Richtung ein interessantes Problem der analytischen
    Technik zur Frage bringt. Zu einer gewissen Zeit, nicht lange
    nach dem Beginne der Kur, brachte das Mädchen eine Reihe von
    Träumen vor, die, gebührend entstellt und in korrekter Traum-
    sprache abgefaßt, doch leicht und sicher zu übersetzen waren.
    Ihr gedeuteter Inhalt war aber auffällig. Sie antizipierten die
    Heilung der Inversion durch die Behandlung, drückten ihre
    Freude über die ihr nun eröffneten Lebensaussichten aus,
    gestanden die Sehnsucht nach der Liebe eines Mannes und nach
    Kindern ein und konnten somit als erfreuliche Vorbereitung zur
    erwünschten Wandlung begrüßt werden. Der Widerspruch gegen
    ihre gleichzeitigen Äußerungen im Wachen war sehr groß. Sie
    machte mir kein Hehl daraus, daß sie zwar zu heiraten gedenke,
    aber nur um sich der Tyrannei des Vaters zu entziehen und
    ungestört ihren wirklichen Neigungen zu leben. Mit dem Manne,
    meinte sie etwas verächtlich, würde sie schon fertig werden, und
    endlich könne man ja, wie das Beispiel der verehrten Dame
    zeige, auch gleichzeitig sexuelle Beziehungen mit einem Manne
    und mit einer Frau haben. Durch irgendeinen leisen Eindruck
    gewarnt, erklärte ich ihr eines Tages, ich glaube diesen Träumen
    nicht, sie seien lügnerisch oder heuchlerisch, und ihre Absicht sei,
    mich zu betrügen, wie sie den Vater zu betrügen pflegte. Ich
    hatte Recht, diese Art von Träumen blieb von dieser Aufklärung
    an aus. Ich glaube aber doch, neben der Absicht der Irreführung
    lag auch ein Stück Werbung in diesen Träumen; es war auch
    ein Versuch, mein Interesse und meine gute Meinung zu
    gewinnen, vielleicht um mich später desto gründlicher zu ent-
    täuschen.

    Ich kann mir vorstellen, daß der Hinweis auf die Existenz
    solch lügnerischer Gefälligkeitsträume bei manchen, die sich
    Analytiker nennen, einen wahren Sturm von hilfloser Entrüstung

  • S.

    335

    entfesseln wird. „Also kann auch das Unbewußte lügen, der
    wirkliche Kern unseres Seelenlebens, dasjenige in uns, was dem
    Göttlichen so viel näher ist als unser armseliges Bewußtsein!
    Wie kann man dann noch auf die Deutungen der Analyse und
    die Sicherheit unserer Erkenntnisse bauen?” Dagegen muß gesagt
    werden, daß die Anerkennung solch lügenhafter Träume eine
    erschütternde Neuheit nicht bedeutet. Ich weiß zwar, daß das
    Bedürfnis der Menschen nach Mystik unausrottbar ist, und daß
    es unablässige Versuche macht, das durch die „Traumdeutung”
    der Mystik entrissene Gebiet für sie wiederzugewinnen, aber in
    dem Falle, der uns beschäftigt, liegt doch alles einfach genug.
    Der Traum ist nicht das „Unbewußte”, er ist die Form, in
    welche ein aus dem Vorbewußten oder selbst aus dem Bewußten
    des Wachlebens erübrigter Gedanke dank der Begünstigungen
    des Schlafzustandes umgegossen werden konnte. Im Schlafzustand
    hat er die Unterstützung unbewußter Wunschregungen gewonnen
    und dabei die Entstellung durch die „Traumarbeit” erfahren,
    welche durch die fürs Unbewußte geltenden Mechanismen
    bestimmt wird. Bei unserer Träumerin stammte die Absicht, mich
    irrezuführen, wie sie es beim Vater zu tun pflegte, gewiß aus
    dem Vorbewußten, wenn sie nicht etwa gar bewußt war; sie
    konnte sich nun durchsetzen, indem sie mit der unbewußten
    Wunschregung, dem Vater (oder Vaterersatz) zu gefallen, in Ver-
    bindung trat, und schuf so einen lügnerischen Traum. Die beiden
    Absichten, den Vater zu betrügen und dem Vater zu gefallen,
    stammen aus demselben Komplex; die erstere ist aus der Ver-
    drängung der letzteren erwachsen, die spätere wird durch die
    Traumarbeit auf die frühere zurückgeführt. Von einer Ent-
    würdigung des Unbewußten, von einer Erschütterung des Zutrauens
    in die Ergebnisse unserer Analyse kann also nicht die Rede sein.

    Ich will die Gelegenheit nicht versäumen, auch einmal das
    Erstaunen darüber zu Worte kommen zu lassen, daß die Menschen
    so große und bedeutungsvolle Stücke ihres Liebeslebens durch-

  • S.

    336

    können, ohne viel davon zu bemerken, ja mitunter, ohne
    das mindeste davon zu ahnen, oder daß sie, wenn es zu ihrem
    Bewußtsein kommt, sich mit dem Urteil so gründlich darüber
    täuschen. Das geschieht nicht nur unter den Bedingungen der
    Neurose, wo wir mit dem Phänomen vertraut sind, sondern
    scheint auch sonst recht gewöhnlich zu sein. In unserem Falle
    entwickelt ein Mädchen eine Schwärmerei für Frauen, die von
    den Eltern zuerst nur als ärgerlich empfunden, aber kaum ernst
    genommen wird; sie selbst weiß wohl, wie sehr sie davon in
    Anspruch genommen wird, fühlt aber doch nur wenig von den
    Sensationen einer intensiven Verliebtheit, bis sich bei einer
    bestimmten Versagung eine ganz exzessive Reaktion ergibt, die
    allen Teilen zeigt, daß man es mit einer verzehrenden Leiden-
    schaft von elementarer Stärke zu tun hat. Von den Voraus-
    setzungen, die für das Hervorbrechen eines solchen seelischen
    Sturmes erforderlich sind, hat auch das Mädchen niemals etwas
    bemerkt. Andere Male trifft man auf Mädchen oder Frauen in
    schweren Depressionen, die, nach der möglichen Verursachung
    ihres Zustandes befragt, die Auskunft geben, sie haben wohl ein
    gewisses Interesse für eine bestimmte Person verspürt, aber es
    sei ihnen nicht tief gegangen und sie seien sehr bald damit
    fertig geworden, nachdem es aufgegeben werden mußte. Und
    doch ist dieser anscheinend so leicht ertragene Verzicht die
    Ursache der schweren Störung geworden. Oder man hat es mit
    Männern zu tun, die oberflächliche Liebesbeziehungen zu Frauen
    erledigt haben und erst aus den Folgeerscheinungen erfahren
    müssen, daß sie in das angeblich geringgeschätzte Objekt leiden-
    schaftlich verliebt waren. Man erstaunt auch über die ungeahnten
    Wirkungen, die von einem künstlichen Abortus, der Tötung
    einer Leibesfrucht, ausgehen können, zu der man sich ohne Reue
    und Bedenken entschlossen hatte. Man sieht sich so genötigt, den
    Dichtern recht zu geben, die uns mit Vorliebe Personen schildern,
    welche lieben ohne es zu wissen, oder die es nicht wissen, ob

  • S.

    337

    sie lieben, oder die zu hassen glauben, während sie lieben. Es
    scheint, daß gerade die Kunde, die unser Bewußtsein von unserem
    Liebesleben erhält, besonders leicht unvollständig, lückenhaft oder
    gefälscht sein kann. In diesen Erörterungen habe ich es natür-
    lich nicht versäumt, den Anteil eines nachträglichen Vergessens
    in Abzug zu bringen.

    IV

    Ich kehre nun zu der vorhin abgebrochenen Diskussion des
    Falles zurück. Wir haben uns einen Überblick über die Kräfte
    verschafft, welche die Libido des Mädchens aus der normalen
    Ödipuseinstellung in die der Homosexualität überführt haben,
    und über die psychischen Wege, die dabei beschritten worden
    sind. Obenan unter diesen bewegenden Kräften stand der Ein-
    druck der Geburt ihres kleinen Bruders, und somit ist uns nahe-
    gelegt, den Fall als einen von spät erworbener Inversion zu
    klassifizieren.

    Allein hier werden wir auf ein Verhältnis aufmerksam, welches
    uns auch bei vielen anderen Beispielen von psychoanalytischer
    Aufklärung eines seelischen Vorganges entgegentritt. Solange wir
    die Entwicklung von ihrem Endergebnis aus nach rückwärts
    verfolgen, stellt sich uns ein lückenloser Zusammenhang her,
    und wir halten unsere Einsicht für vollkommen befriedigend,
    vielleicht für erschöpfend. Nehmen wir aber den umgekehrten
    Weg, gehen wir von den durch die Analyse gefundenen Vor-
    aussetzungen aus und suchen diese bis zum Resultat zu verfolgen,
    so kommt uns der Eindruck einer notwendigen und auf keine
    andere Weise zu bestimmenden Verkettung ganz abhanden. Wir
    merken sofort, es hätte sich auch etwas anderes ergeben können,
    und dies andere Ergebnis hätten wir ebensogut verstanden und
    aufklären können. Die Synthese ist also nicht so befriedigend wie
    die Analyse; mit anderen Worten, wir wären nicht imstande,
    aus der Kenntnis der Voraussetzungen die Natur des Ergebnisses
    vorherzusagen.

  • S.

    338

    Es ist sehr leicht, diese betrübliche Erkenntnis auf ihre
    Ursachen zurückzuführen. Mögen uns auch die ätiologischen
    Faktoren, welche für einen bestimmten Erfolg maßgebend sind,
    vollständig bekannt sein, wir kennen sie doch nur nach ihrer
    qualitativen Eigenart und nicht nach ihrer relativen Stärke. Einige
    von ihnen werden als zu schwach von anderen unterdrückt
    werden und für das Endergebnis nicht in Betracht kommen. Wir
    wissen aber niemals vorher, welche der bestimmenden Momente
    sich als die schwächeren oder stärkeren erweisen werden. Wir
    sagen nur am Ende, die sich durchgesetzt haben, das waren die
    stärkeren. Somit ist die Verursachung in der Richtung der
    Analyse jedesmal sicher zu erkennen, deren Vorhersage in der
    Richtung der Synthese aber unmöglich.

    Wir wollen also nicht behaupten, daß jedes Mädchen, dessen
    aus der Ödipuseinstellung der Pubertätsjahre herrührende Liebes-
    sehnsucht eine solche Enttäuschung erfährt, darum notwendiger-
    weise der Homosexualität verfallen wird. Andersartige Reaktionen
    auf dieses Trauma werden im Gegenteil häufiger sein. Dann
    müssen aber bei diesem Mädchen besondere Momente den Aus-
    schlag gegeben haben, solche außerhalb des Traumas, wahr-
    scheinlich innerer Natur. Es hat auch keine Schwierigkeit, sie
    aufzuzeigen.

    Bekanntlich braucht es auch beim Normalen eine gewisse Zeit,
    bis sich die Entscheidung über das Geschlecht des Liebesobjekts
    endgültig durchgesetzt hat. Homosexuelle Schwärmereien, über-
    mäßig starke, sinnlich betonte Freundschaften sind bei beiden
    Geschlechtern in den ersten Jahren nach der Pubertät recht
    gewöhnlich. So war es auch bei unserem Mädchen, aber diese
    Neigungen zeigten sich bei ihr unzweifelhaft stärker und hielten
    länger an als bei anderen. Dazu kommt, daß diese Vorboten der
    späteren Homosexualität immer ihr bewußtes Leben eingenommen
    hatten, während die dem Ödipuskomplex entspringende Ein-
    stellung unbewußt geblieben war und nur in solchen Anzeichen

  • S.

    339

    wie jene Verzärtelung des kleinen Knaben zum Vorschein kam.
    Als Schulmädchen war sie lange Zeit verliebt in eine unnahbar
    strenge Lehrerin, einen offenkundigen Mutterersatz. Ein besonders
    lebhaftes Interesse für manche jungmütterliche Frauen hatte sie
    lange vor der Geburt des Bruders und um so sicherer lange Zeit
    vor jener ersten Zurechtweisung durch den Vater gezeigt. Ihre
    Libido lief also von sehr früher Zeit her in zwei Strömungen,
    von denen die oberflächlichere unbedenklich eine homosexuelle
    genannt werden darf. Diese war wahrscheinlich die direkte,
    unverwandelte Fortsetzung einer infantilen Fixierung an die
    Mutter. Möglicherweise haben wir durch unsere Analyse auch
    nichts anderes aufgedeckt als den Prozeß, der bei einem geeig-
    neten Anlaß auch die tiefere heterosexuelle Libidoströmung in
    die manifeste homosexuelle überführte.

    Ferner lehrte die Analyse, daß das Mädchen aus ihren Kinder-
    jahren einen stark betonten „Männlichkeitskomplex” mitgebracht
    hatte. Lebhaft, rauflustig, durchaus nicht gewillt, hinter dem
    wenig älteren Bruder zurückzustehen, hatte sie seit jener Inspektion
    der Genitalien einen mächtigen Penisneid entwickelt, dessen
    Abkömmlinge immer noch ihr Denken erfüllten. Sie war
    eigentlich eine Frauenrechtlerin, fand es ungerecht, daß die
    Mädchen nicht dieselben Freiheiten genießen sollten wie die
    Burschen, und sträubte sich überhaupt gegen das Los der Frau.
    Zur Zeit der Analyse waren ihr Schwangerschaft und Kinder-
    gebären unliebsame Vorstellungen, wie ich vermute, auch wegen
    der damit verbundenen körperlichen Entstellung. Auf diese
    Abwehr hatte sich ihr mädchenhafter Narzißmus zurückgezogen,1
    der sich nicht mehr als Stolz auf ihre Schönheit äußerte. Ver-
    schiedene Anzeichen wiesen auf eine ehemals sehr starke Schau-
    und Exhibitionslust hin. Wer das Recht der Erwerbung in der
    Ätiologie nicht verkürzt sehen will, wird aufmerksam machen,
    daß das geschilderte Verhalten des Mädchens gerade so war, wie

    1) Vgl. Kriemhildes Bekenntnis im Nibelungenlied.

  • S.

    340

    es durch die vereinte Wirkung der mütterlichen Zurücksetzung
    und der Vergleichung ihrer Genitalien mit denen des Bruders bei
    starker Mutterfixierung bestimmt werden mußte. Auch hier
    besteht eine Möglichkeit, etwas auf Prägung durch frühzeitig
    wirksamen äußeren Einfluß zurückzuführen, was man gern als
    konstitutionelle Eigenart aufgefaßt hätte. Und auch von dieser
    Erwerbung — wenn sie wirklich stattgefunden hat — wird
    ein Anteil auf Rechnung der mitgebrachten Konstitution zu
    setzen sein. So vermengt und vereinigt sich in der Beobachtung
    beständig, was wir in der Theorie zu einem Paar von
    Gegensätzen — Vererbung und Erwerbung — auseinanderlegen
    möchten.

    Hatte ein früherer, vorläufiger Abschluß der Analyse zum
    Ausspruch geführt, es handle sich um einen Fall von später
    Erwerbung der Homosexualität, so drängt die jetzt vorgenommene
    Überprüfung des Materials vielmehr zum Schluß, es liege
    angeborene Homosexualität vor, die sich wie gewöhnlich erst in
    der Zeit nach der Pubertät fixiert und unverkennbar gezeigt
    habe. Jede dieser Klassifizierungen wird nur einem Anteil des
    durch Beobachtung festzustellenden Sachverhaltes gerecht, vernach-
    lässigt den anderen. Wir treffen das Richtige, wenn wir den
    Wert dieser Fragestellung überhaupt gering veranschlagen.

    Die Literatur der Homosexualität pflegt die Fragen der Objekt-
    wahl einerseits und des Geschlechtscharakters und der geschlecht-
    lichen Einstellung anderseits nicht scharf genug zu trennen, als
    ob die Entscheidung über den einen Punkt notwendigerweise
    mit der des anderen verknüpft wäre. Die Erfahrung zeigt jedoch
    das Gegenteil: Ein Mann mit überwiegend männlichen Eigen-
    schaften, der auch den männlichen Typus des Liebeslebens zeigt,
    kann doch in bezug aufs Objekt invertiert sein, nur Männer
    anstatt Frauen lieben. Ein Mann, in dessen Charakter die weib-
    lichen Eigenschaften augenfällig vorwiegen, ja, der sich in der
    Liebe wie ein Weib benimmt, sollte durch diese weibliche Ein-

  • S.

    341

    auf den Mann als Liebesobjekt hingewiesen werden; er
    kann aber trotzdem heterosexuell sein, nicht mehr Inversion in
    bezug aufs Objekt zeigen als durchschnittlich ein Normaler. Das-
    selbe gilt für Frauen, auch bei ihnen treffen psychischer
    Geschlechtscharakter und Objektwahl nicht zu fester Relation
    zusammen. Das Geheimnis der Homosexualität ist also keines-
    wegs so einfach, wie man es zum populären Gebrauch gern
    darstellt: Eine weibliche Seele, die darum den Mann lieben muß,
    zum Unglück in einen männlichen Körper geraten, oder eine
    männliche Seele, die unwiderstehlich vom Weib angezogen wird,
    leider in einen weiblichen Leib gebannt. Vielmehr handelt es
    sich um drei Reihen von Charakteren

    Somatische Geschlechtscharaktere — Psychischer Geschlechtscharaktere
    (Physischer Hermaphroditismus) (männl./weibl. Einstellung)
    — Art der Objektwahl,

    die bis zu einem gewissen Grade voneinander unabhängig variieren
    und sich bei den einzelnen Individuen in mannigfachen Permu-
    tationen vorfinden. Die tendenziöse Literatur hat den Einblick
    in diese Verhältnisse erschwert, indem sie aus praktischen Motiven
    das dem Laien allein auffällige Verhalten im dritten Punkt, dem
    der Objektwahl, in den Vordergrund rückt und außerdem die
    Festigkeit der Beziehung zwischen diesem und dem ersten Punkt
    übertreibt. Sie versperrt sich auch den Weg, der zur tieferen
    Einsicht in all das führt, was man uniform als Homosexualität
    bezeichnet, indem sie sich gegen zwei Grundtatsachen sträubt,
    welche die psychoanalytische Forschung aufgedeckt hat. Die erste,
    daß die homosexuellen Männer eine besonders starke Fixierung
    an die Mutter erfahren haben; die zweite, daß alle Normalen
    neben ihrer manifesten Heterosexualität ein sehr erhebliches Aus-
    maß von latenter oder unbewußter Homosexualität erkennen
    lassen. Trägt man diesen Funden Rechnung, so ist es allerdings
    um die Annahme eines von der Natur in besonderer Laune
    geschaffenen „dritten Geschlechts” geschehen.

  • S.

    342

    Die Psychoanalyse ist nicht dazu berufen, das Problem der
    Homosexualität zu lösen. Sie muß sich damit begnügen, die
    psychischen Mechanismen zu enthüllen, die zur Entscheidung in
    der Objektwahl geführt haben, und die Wege von ihnen zu den
    Triebanlagen zu verfolgen. Dann bricht sie ab und überläßt das
    übrige der biologischen Forschung, die gerade jetzt in den Ver-
    suchen von Steinach1 so bedeutungsvolle Aufschlüsse über die
    Beeinflussung der obigen zweiten und dritten Reihe durch die
    erste zutage fördert. Sie steht auf gemeinsamem Boden mit der
    Biologie, indem sie eine ursprüngliche Bisexualität des mensch-
    lichen (wie des tierischen) Individuums zur Voraussetzung nimmt.
    Aber das Wesen dessen, was man im konventionellen oder im
    biologischen Sinne „männlich” und „weiblich” nennt, kann die
    Psychoanalyse nicht aufklären, sie übernimmt die beiden Begriffe
    und legt sie ihren Arbeiten zugrunde. Beim Versuche einer
    weiteren Zurückführung verflüchtigt sich ihr die Männlichkeit
    zur Aktivität, die Weiblichkeit zur Passivität, und das ist zu
    wenig. Inwieweit die Erwartung zulässig oder bereits durch
    Erfahrung bestätigt ist, es werde sich auch aus dem Stück Auf-
    klärungsarbeit, welches in den Bereich der Analyse fällt, eine
    Handhabe zur Abänderung der Inversion ergeben, habe ich vor-
    hin auszuführen versucht. Vergleicht man dieses Ausmaß von
    Beeinflussung mit den großartigen Umwälzungen, die Steinach
    in einzelnen Fällen durch operative Eingriffe erzielt hat, so macht
    es wohl keinen imposanten Eindruck. Indes wäre es Voreiligkeit
    oder schädliche Übertreibung, wenn wir uns jetzt schon Hoffnung
    auf eine allgemein brauchbare „Therapie” der Inversion machten.
    Die Fälle von männlicher Homosexualität, in denen Steinach Erfolg
    gehabt hat, erfüllten die nicht immer vorhandene Bedingung
    eines überdeutlichen somatischen „Hermaphroditismus”. Die
    Therapie einer weiblichen Homosexualität auf analogem Wege

    1) Siehe A. Lipschütz: Die Pubertätsdrüse und ihre Wirkungen. E. Bircher,
    Bern, 1919.

  • S.

    343

    ist zunächst ganz unklar. Sollte sie in der Entfernung der wahr-
    scheinlich hermaphroditischen Ovarien und Einpflanzung anderer,
    hoffentlich eingeschlechtiger, bestehen, so würde sie praktisch
    wenig Aussicht auf Anwendung haben. Ein weibliches Individuum,
    das sich männlich gefühlt und auf männliche Weise geliebt hat,
    wird sich kaum in die weibliche Rolle drängen lassen, wenn es
    diese nicht durchaus vorteilhafte Umwandlung mit dem Verzicht
    auf die Mutterschaft bezahlen muß.