S.
CHARCOT
Zuerst erschienen in der „Wiener Medizinischen
Wochenschrift“ Nr. 37, 1893.Mit J. M. Charcot, den nach einem glücklichen und ruhm-
vollen Leben am 16. August d. J. ein rascher Tod ohne Leiden
und Krankheit ereilte, hat die junge Wissenschaft der Neurologie
ihren größten Förderer, haben die Neurologen aller Länder ihren
Lehrmeister, hat Frankreich einen seiner ersten Männer allzufrüh
verloren. Er war erst 68 Jahre alt, seine körperliche Kraft wie
seine geistige Frische schienen ihn im Einklange mit seinen un-
verhohlenen Wünschen für jene Langlebigkeit zu bestimmen, die
nicht wenigen Geistesarbeitern dieses Jahrhunderts zuteil geworden
ist. Die stattlichen neun Bände seiner Oeuvres complètes, in denen
seine Schüler seine Beiträge zur Medizin und Neuropathologie
gesammelt hatten, dazu die Legons du Mardi, die Jahresberichte
seiner Klinik in der Salpétritre u. a. m., alle diese Publikationen
die der Wissenschaft und seinen Schülern teuer bleiben werden,
können uns den Mann nicht ersetzen, der noch viel mehr zu
geben und zu lehren hatte, dessen Person oder dessen Werken
noch niemand genaht war, ohne von ihnen zu lernen.Er hatte eine rechtschaffene menschliche Freude an seinem
großen Erfolge und pflegte sich gern über seine Anfänge und
den Weg, den er gegangen, zu äußern. Seine wissenschaftlicheNeugierde war frühzeitig durch das reiche und damals völlig un-
18S.
244 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
verstandene Material neuropathologischer Tatsachen erregt worden,
wie er erzählte, schon als er junger Interne (Sekundararzt) war.
Wenn er damals mit seinem Primararzt die Visite auf einer der
Abteilungen der Salpétritre (Versorgungshaus fiir Frauen) machte,
durch all die Wildnis von Lähmungen, Zuckungen und Krämpfen,
für die es vor vierzig Jahren keine Namen und kein Verständnis
gab, pflegte er zu sagen: „faudrait y retourner et y rester“ und
er hielt Wort. Als er médecin des höpitaux (Primararzt) ge-
worden war, trachtete er alsbald in die Salpétritre zu kommen,
auf eine jener Abteilungen, die die Nervenkranken beherbergten,
und einmal dort angelangt, verblieb er auch dort, anstatt, wie
es den französischen Primarårzten freisteht, im regelmäßigen
Turnus Spital und Abteilung und damit auch die Spezialität zu
wechseln.So war sein erster Eindruck und der Vorsatz, zu dem er ge-
führt hatte, bestimmend für seine gesamte weitere Entwicklung
geworden. Die Verfügung über ein großes Material an chronisch
Nervenkranken gestattete ihm nun, seine eigentümliche Begabung
zu verwerten. Er war kein Grübler, kein Denker, sondern eine
künstlerisch begabte Natur, wie er es selbst nannte, ein visuel,
ein Seher. Von seiner Arbeitsweise erzählte er uns selbst folgendes:
Er pflegte sich die Dinge, die er nicht kannte, immer von neuem
anzusehen, Tag für Tag den Eindruck zu verstärken, bis ihm
dann plötzlich das Verständnis derselben aufging. Vor seinem
geistigen Auge ordnete sich dann das Chaos, welches durch die
Wiederkehr immer derselben Symptome vorgetäuscht wurde; es
ergaben sich die neuen Krankheitsbilder, gekennzeichnet durch
die konstante Verknüpfung gewisser Symptomgruppen; die voll-
ständigen und extremen Fälle, die „Typen“, ließen sich mit
Hilfe einer gewissen Art von Schematisierung hervorheben, und
von den Typen aus blickte das Auge auf die lange Reihe der
abgeschwächten Fälle, der formes frustes, die von dem oder
jenem charakteristischen Merkmal des Typus her ins UnbestimmteS.
Charcot 245
ausliefen. Er nannte diese Art der Geistesarbeit, in der er keinen
Gleichen hatte, „Nosographie treiben“ und war stolz auf sie.
Man konnte ihn sagen hören, die größte Befriedigung, die ein
Mensch erleben könne, sei, etwas Neues zu sehen, d. .מ es als
neu zu erkennen, und in immer wiederholten Bemerkungen kam
er auf die Schwierigkeit und Verdienstlichkeit dieses ,,Sehens%
zurück. Woher es denn komme, daß die Menschen in der Medizin
immer nur sehen, was sie zu sehen bereits gelernt haben, wie
wunderbar es sei, daß man plötzlich neue Dinge — neue
Krankheitszustinde — sehen könne, die doch wahrscheinlich so
alt seien wie das Menschengeschlecht, und wie er sich selbst
sagen müsse, er sehe jetzt manches, was er durch 30 Jahre auf
seinen Krankenzimmern übersehen habe. Welchen Reichtum an
Formen die Neuropathologie durch ihn gewann, welche Ver-
schärfung und Sicherheit der Diagnose durch seine Beobachtungen
ermöglicht wurde, braucht man dem Arzte nur anzudeuten. Der
Schüler aber, der mit ihm einen stundenlangen Gang durch die
Krankenzimmer der Salpétriere, dieses Museums von klinischen
Fakten, gemacht hatte, deren Namen und Besonderheit gróBten-
teils von ihm selbst herrithrten, wurde an Cuvier erinnert,
dessen Statue vor dem Jardin des plantes den groBen Kenner
und Beschreiber der Tierwelt, umgeben von der Fülle tierischer
Gestalten, zeigt, oder er mußte an den Mythus von Adam denken,
der jenen von Charcot gepriesenen intellektuellen Genuß
im höchsten Ausmaß erlebt haben mochte, als ihm Gott die
Lebewesen des Paradieses zur Sonderung und Benennung vor-
führte.‘Charcot wurde auch niemals müde, die Rechte der rein
klinischen Arbeit, die im Sehen und Ordnen besteht, gegen die
Übergriffe der theoretischen Medizin zu verteidigen. Wir waren
einmal eine kleine Schar von Fremden beisammen, die, in der
deutschen Schulphysiologie auferzogen, ihm durch die Beanstän-
dung seiner klinischen Neuheiten lästig fielen: „Das kann dochS.
246 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
nicht sein,“ wendete ihm einmal einer von uns ein, ,das wider-
spricht ja der Theorie von Young-Helmholtz“. Er erwiderte
nicht: „Um so ärger fiir die Theorie, die Tatsachen der Klinik
haben den Vorrang“ u. del, aber er sagte uns doch, was uns
einen großen Eindruck machte: „La theorie, c’est bon, mais ca
n'empéche pas d'exister.“Durch eine ganze Reihe von Jahren hatte Charcot die Pro-
fessur für pathologische Anatomie in Paris inne, und seine
neuropathologischen Arbeiten und Vorlesungen, die ihn rasch
auch im Auslande berühmt machten, betrieb er ohne Auftrag
als Nebenbeschäftigung; für die Neuropathologie war es aber ein
Glück, daß derselbe Mann die Leistung zweier Instanzen auf
sich nehmen konnte, einerseits durch klinische Beobachtung die
Krankheitsbilder schuf und anderseits beim Typus wie bei der
forme fruste die gleiche anatomische Veränderung als Grundlage
des Leidens nachwies. Es ist allgemein bekannt, welche Erfolge
diese anatomisch-klinische Methode Charcots auf dem Gebiete
der organischen Nervenkrankheiten, der Tabes, multiplen Sklerose,
der amyotrophischen Lateralsklerose usw. erzielte. Oft bedurfte
es jahrelangen geduldigen Harrens, ehe bei diesen chronischen,
nicht direkt zum Tode führenden Affektionen der Nachweis der
organischen Veränderung gelang, und nur ein Siechenhaus, wie
die Salpetriere, konnte gestatten, die Kranken durch so lange
Zeiträume zu verfolgen und zu erhalten. Die erste Feststellung
dieser Art machte Charcot übrigens, ehe er über eine Abteilung
verfügen konnte. Der Zufall führte ihm während seiner Studien-
zeit eine Bedienerin zu, die an einem eigentümlichen Zittern
litt und wegen ihrer Ungeschicklichkeit keine Stelle bekommen
konnte. Charcot erkannte ihren Zustand als die von Duchenne
bereits beschriebene paralysie choreiforme, von der aber nicht
bekannt war, worauf sie beruhe. Er behielt die interessante
Bedienerin, obwohl sie im Laufe der Jahre ein kleines Ver-
mögen an Schüsseln und Tellern kostete, und als sie endlichS.
Charcot 247
starb, konnte er an ihr nachweisen, daß die paralysie chorei-
forme der klinische Ausdruck der multiplen zerebrospinalen Skle-
rose sei.Die pathologische Anatomie hat für die Neuropathologie
zweierlei zu leisten: neben dem Nachweis der krankhaften Ver-
änderung die Feststellung von deren Lokalisation, und wir alle
wissen, daB in den letzten beiden Dezennien der zweite Teil
der Aufgabe das größere Interesse gefunden und die größere
Förderung erfahren hat. Charcot hat auch an diesem Werke in
hervorragendster Weise mitgearbeitet, wenngleich die bahn-
brechenden Funde nicht von ihm herriihren. Er folgte zunächst
den Spuren unseres Landsmannes Tirck, der, wie es heißt,
ziemlich einsam in unserer Mitte gelebt und geforscht hat, und
als dann die beiden groBen Neuerungen kamen, die eine neue
Epoche fiir unsere Kenntnis der „Lokalisation der Nervenkrank-
heiten“ einleiteten, die Reizungsversuche von Hitzig-Fritsch
und die Markentwicklungsbefunde von Flechsig, hat er in seinen
Vorlesungen über die Lokalisation das Meiste und das Beste dazu
getan, die neuen Lehren mit der Klinik zu vereinigen und fiir
sie fruchtbar zu machen. Was speziell die Beziehung der Kørper-
muskulatur zur motorischen Zone des menschlichen GroBhirns
betrifft, so erinnere ich daran, wie lange die genauere Art und
Topik dieser Beziehung in Frage stand (gemeinsame Vertretung
beider Extremitäten an denselben Stellen — Vertretung der
oberen Extremität in der vorderen, der unteren in der hinteren
Zentralwindung, also vertikale Gliederung), bis endlich fortgesetzte
klinische Beobachtungen und Reiz- wie Exstirpationsversuche am
lebenden Menschen bei Gelegenheit chirurgischer Eingriffe zu-
gunsten der Ansicht von Charcot und Pitres entschieden, daß
das mittlere Drittel der Zentralwindungen vorwiegend der Arm-
vertretung, das obere Drittel und der mediale Anteil der Bein-
vertretung diene, daß also eine horizontale Gliederung in der
motorischen Region durchgeführt sei.S.
248 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Es würde nicht gelingen, die Bedeutung Charcots für die
Neuropathologie durch die Aufzihlung einzelner Leistungen zu
erweisen, denn es hat in den letzten zwei Dezennien überhaupt
nicht viele Themata von einigem Belang gegeben, an deren Auf-
stellung und Diskussion die Schule der Salpêtrière nicht einen
hervorragenden Anteil genommen hätte. „Die Schule der Sal-
pêtrière“, das war natürlich Charcot selbst, der mit dem Reich-
tume seiner Erfahrung, der durchsichtigen Klarheit seiner Diktion
und der Plastik seiner Schilderungen unschwer in jeder Schiiler-
arbeit zu erkennen war. Aus dem Kreise von jungen Männern,
die er so an sich heranzog und zu Teilnehmern seiner For-
schungen machte, erhoben sich dann einzelne zum Bewußtsein
ihrer Individualität, gewannen fiir sich selbst einen glänzenden
Namen, und hie und da kam es auch vor, daB einer mit einer
Behauptung hervortrat die dem Meister mehr geistreich als richtig
erschien und die er in Gesprächen und Vorlesungen sarkastisch
genug bekimpfte, ohne daß das Verhältnis zu dem geliebten
Schüler darunter litt. Tatsächlich hinterlåBt Charcot eine Schar
von Schülern, deren geistige Qualität und bisherige Leistungen
eine Bürgschaft bieten, daß die Pflege der Neuropathologie in
Paris nicht so bald von der Höhe heruntergleiten wird, zu der
Charcot sie geführt hat.Wir haben in Wien wiederholt die Erfahrung machen können,
daß die geistige Bedeutung eines akademischen Lehrers nicht ohne-
weiters mit jener direkten persönlichen Beeinflussung der Jugend
vereinigt sein muß, die sich in der Schöpfung einer zahlreichen
und bedeutsamen Schule äußert. Wenn Charcot in diesem
Punkte so viel glücklicher war, so mußte man dies den per-
sönlichen Eigenschaften des Mannes zuschreiben, dem Zauber,
der von seiner Erscheinung und Stimme ausging, der liebens-
würdigen Offenheit, die sein Benehmen auszeichnete, sobald
einmal die gegenseitigen Beziehungen das Stadium der ersten
Fremdheit überwunden hatten, der Bereitwilligkeit, mit der erS.
Charcot 249
seinen Schülern alles zur Verfügung stellte, und der Treue, die
er ihnen durch das Leben hielt. Die Stunden, die er auf seinen
Krankenzimmern verbrachte, waren Stunden des Beisammen-
seins und des Gedankenaustausches mit seinem gesamten årzt-
lichen Stab; er schloß sich da niemals ein; der jüngste Externe
hatte Gelegenheit, ihn bei der Arbeit zu sehen und durfte ihn
in dieser Arbeit stören, und dieselbe Freiheit genossen die
Fremden, die in späteren Jahren niemals bei seiner Visite fehlten.
Endlich, wenn am Abend Madame Charcot ihr gastliches Haus
einer auserlesenen Gesellschaft öffnete, unterstützt von einer hoch-
begabten, in der Ähnlichkeit des Vaters aufblihenden Tochter,
so standen die nie fehlenden Schüler und ärztlichen Gehilfen ihres
Mannes als ein Teil der Familie den Gästen gegenüber.Das Jahr 1882 oder 83 brachte die endgültige Gestaltung in
Charcots Lebens- und Arbeitsbedingungen. Man war zur Ein-
sicht gekommen, daB das Wirken dieses Mannes einen Teil des
Besitzstandes der nationalen Glorie bilde, der nach dem unglück-
lichen Kriege von 1870/71 um so eifersüchtiger behiitet wurde.
Die Regierung, an deren Spitze Charcots alter Freund Gam-
betta stand, schuf fiir ihn einen Lehrstuhl fiir Neuropathologie
an der Fakultit, fiir welchen er der pathologischen Anatomie ent-
sagen konnte, und eine Klinik samt wissenschaftlichen Neben-
instituten in der Salpêtrière. „Le service de M. Charcot um-
faBte jetzt nebst den früheren mit chronisch Kranken belegten
Räumen mehrere klinische Zimmer, in welche auch Männer
Aufnahme fanden, eine riesige Ambulanz, die Consultation externe,
ein histologisches Laboratorium, ein Museum, eine elektrothera-
peutische, eine Augen- und Ohrenabteilung und ein eigenes photo-
graphisches Atelier, als ebensoviel Anlässe, um ehemalige Assi-
stenten und Schüler in festen Stellungen dauernd an die Klinik
zu binden. Die zwei Stock hohen, verwittert aussehenden Ge-
bäude mit den Höfen, die sie umschlossen, erinnerten den
Fremden auffillig an unser Allgemeines Krankenhaus, aber dieS.
250 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Ähnlichkeit ging wohl nicht weit genug. „Es ist vielleicht nicht
schön hier,“ sagte Charcot, wenn er dem Besucher seinen
Besitz zeigte, „aber man findet Platz für alles, was man machen
will.“Charcot stand auf der Höhe des Lebens, als ihm diese
Fülle von Lehr- und Forschungsmitteln zur Verfügung gestellt
wurde. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, ich glaube, immer
noch der fleiBigste der ganzen Schule. Eine Privatordination, zu
der sich die Kranken „aus Samarkand und von den Antillen“
drängten, vermochte es nicht, ihn seiner Lehrtätigkeit oder seinen
Forschungen zu entfremden. Sicherlich wandte sich dieser Zulauf
von Menschen nicht allein an den berithmten Forscher, sondern
ebensosehr an den groBen Arzt und Menschenfreund, der immer
einen Bescheid zu finden wußte und dort erriet, wo der gegen-
wårtige Zustand der Wissenschaft ihm nicht gestattete zu wissen.
Man hat ihm vielfach seine Therapie zum Vorwurf gemacht, die
durch ihren Reichtum an Verschreibungen ein rationalistisches
Gewissen beleidigen mußte. Allein er setzte einfach die örtlich
und zeitlich gebräuchlichen Methoden fort, ohne sich über deren
Wirksamkeit viel zu täuschen. In der therapeutischen Erwartung
war er übrigens nicht pessimistisch und hat früher und später
die Hand dazu geboten, neue Behandlungsmethoden an seiner
Klinik zu versuchen, deren kurzlebiger Erfolg von anderer Seite
her seine Aufklärung fand. Als Lehrer war Charcot geradezu
fesselnd, jeder seiner Vorträge ein kleines Kunstwerk an Aufbau
und Gliederung, formvollendet und in einer Weise eindringlich,
daß man den ganzen Tag über das gehörte Wort nicht aus seinem
Ohr und das demonstrierte Objekt nicht aus dem Sinne bringen
konnte. Er demonstrierte selten einen einzigen Kranken, meist
eine Reihe oder Gegenstücke, die er miteinander verglich. Der
Saal, in welchem er seine Vorlesungen hielt, war mit einem
Bilde geschmückt, welches den „Bürger“ Pinel darstellt, wie er
den armen Irrsinnigen der Salpétriere die Fesseln abnehmen läBt;S.
Charcot 251
die Salpêtrière, die während der Revolution so viel Schrecken ge-
' sehen, war doch auch die Stätte dieser humansten aller Umwäl-
zungen gewesen. Meister Charcot-selbst machte bei einer solchen
Vorlesung einen eigentümlichen Eindruck; er, der sonst vor Leb-
haftigkeit und Heiterkeit übersprudelte, auf dessen Lippen der
Witz nicht erstarb, sah dann unter seinem Samtküppchen ernst
und feierlich, ja eigentlich gealtert aus, seine Stimme klang uns
wie gedämpft, und wir konnten etwa verstehen, wieso übelwollende
Fremde dazu kamen, der ganzen Vorlesung den Vorwurf des
Theatralischen zu machen. Die so sprachen, waren wohl die
Formlosigkeit des deutschen klinischen Vortrags gewöhnt oder
vergaBen, daB Charcot nur eine Vorlesung in der Woche
hielt, die er also sorgfiltig vorbereiten konnte.Folgte Charcot mit dieser feierlichen Vorlesung, in der alles
vorbereitet war und alles eintreffen mußte, wahrscheinlich einer
eingewurzelten Tradition, so empfand er doch auch das Bedürfnis,
seinen Horern ein minder verkünsteltes Bild seiner Titigkeit zu
geben. Dazu diente ihm die Ambulanz der Klinik, die er in den
sogenannten Leçons du Mardi persönlich erledigte. Da nahm er
ihm völlig unbekannte Fille vor, setzte sich allen Wechselfällen
des Examens, allen Irrwegen einer ersten Untersuchung aus,
warf seine Autoritit von sich, um gelegentlich einzugestehen,
daB dieser Fall keine Diagnose zulasse, daB in jenem ihn der~ Anschein getäuscht habe, und niemals erschien er seinen Hórern
gróDer, als nachdem er sich so bemüht hatte, durch die ein-
gehendste Rechenschaft über seine Gedankengünge, durch die
größte Offenheit in seinen Zweifeln und Bedenken die Kluft
zwischen Lehrer und Schülern zu verringern. Die Veräffent-
lichung dieser improvisierten Vorträge aus den Jahren 1887 und
1888, zunächst in französischer, gegenwärtig auch in deutscher
Sprache, hat auch den Kreis seiner Bewunderer ins Ungemessene
erweitert, und niemals hat ein neuropathologisches Werk einen
ähnlichen Erfolg im ärztlichen Publikum erzielt wie dieses.S.
252 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Ungefähr gleichzeitig mit der Errichtung der Klinik und dem
Zurücktreten der pathologischen Anatomie vollzog sich eine Wand-
lung in Charcots wissenschaftlichen Neigungen, der wir die
schönsten seiner Arbeiten danken. Er erklärte nun, die Lehre von
den organischen Nervenkrankheiten sei vorderhand ziemlich ab-
geschlossen, und begann sein Interesse fast ausschließlich der
Hysterie zuzuwenden, die so mit einem Schlage in den Brenn-
punkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gelangte. Diese rätsel-
hafteste aller Nervenkrankheiten, für deren Beurteilung die Ärzte
noch keinen tauglichen Gesichtspunkt gefunden hatten, war ge-
rade damals recht in Mißkredit geraten, der sich sowohl auf die
Kranken als auf die Ärzte erstreckte, die sich mit der Neurose
beschäftigten. Es hieß, bei der Hysterie ist alles möglich, und
den Hysterischen wollte man nichts glauben. Die Arbeit Charcots
gab dem Thema zunächst seine Würde wieder; man gewöhnte
sich allmählich das höhnische Lächeln ab, auf das die Kranke
damals sicher rechnen konnte; sie mußte nicht mehr eine Simu-
lantin sein, da Charcot mit seiner vollen Autorität für die
Echtheit und Objektivität der hysterischen Phänomene eintrat.
Charcot hatte im kleinen die Tat der Befreiung wiederholt,
wegen welcher das Bild Pinels den Hörsaal der Salpêtrière zierte.
Nachdem man nun der blinden Furcht entsagt hatte, von den
armen Kranken genarrt zu werden, welche einer ernsthaften Be-
schäftigung mit der Neurose bisher im Wege gestanden war, konnte
es sich fragen, welche Art der Bearbeitung auf dem kürzesten
Wege zur Lösung des Problems führen würde. Für einen ganz
unbefangenen Beobachter hätte sich folgende Anknüpfung dar-
geboten: Wenn ich einen Menschen in einem Zustande finde,
der alle Zeichen eines schmerzhaften Affekts an sich trägt, im
Weinen, Schreien, Toben, so liegt mir der Schluß nahe, einen
seelischen Vorgang in diesem Menschen zu vermuten, dessen be-
rechtigte Äußerung jene körperlichen Phänomene sind. Der Ge-
sunde wäre dann imstande mitzuteilen, welcher Eindruck ihnS.
Charcot 253
peinigt, der Hysterische würde antworten, er wisse es nicht, und
das Problem wire sofort gegeben, woher es komme, daß der
Hysterische einem Affekt unterliegt, von dessen Veranlassung er
nichts zu wissen behauptet. Hålt man nun an seinem Schlusse
fest, daB ein entsprechender psychischer Vorgang vorhanden sein
miisse, und schenkt dabei doch der Behauptung des Kranken
Glauben, der denselben verleugnet, sammelt man die vielfachen
Anzeichen, aus denen hervorgeht, daB der Kranke sich so benimmt,
als wüßte er doch darum, forscht man in der Lebensgeschichte
des Kranken nach und findet in derselben einen AnlaB, ein
Trauma, welches geeignet ist, gerade solche AffektiuBerungen zu
erzeugen, so drängt dies alles zur Lösung, daß der Kranke sich
in einem besonderen Seelenzustande befinde, in dem das Band
des Zusammenhanges nicht mehr alle Eindriicke oder Erinnerungen
an solche umschlinge, in dem es einer Erinnerung måglich sei,
ihren Affekt durch körperliche Phänomene zu äußern, ohne daß
die Gruppe der anderen seelischen Vorgånge, das Ich, darum
wisse oder hindernd eingreifen kénne, und die Erinnerung an
die allbekannte psychologische Verschiedenheit von Schlaf und
Wachen hätte das Fremdartige dieser Annahme verringern können.
Man wende nicht ein, daß die Theorie einer Spaltung des Be-
wußtseins als Lösung des Rätsels der Hysterie viel zu ferne liegt,
als daß sie sich dem unbefangenen und ungeschulten Beobachter
aufdrängen könnte. Tatsächlich hatte das Mittelalter doch diese
Lösung gewählt, indem es die Besessenheit durch einen Dämon
für die Ursache der hysterischen Phänomene erklärte; es hätte
sich nur darum gehandelt, für die religiöse Terminologie jener
dunkeln und abergläubischen Zeit die wissenschaftliche der Gegen-
wart einzusetzen.Charcot betrat nicht diesen Weg zur Aufklärung der Hysterie,
obwohl er aus den erhaltenen Berichten der Hexenprozesse und
der Besessenheit reichlich schöpfte, um zu erweisen, daß die Er-
scheinungen der Neurose damals dieselben gewesen seien wieS.
254 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
heute. Er behandelte die Hysterie wie ein anderes Thema der
Neuropathologie, gab die vollständige Beschreibung ihrer Er-
scheinungen, wies Gesetz und Regel in denselben nach, lehrte die
Symptome kennen, welche eine Diagnose der Hysterie ermöglichen.
Die sorgfältigsten Untersuchungen, die von ihm und seinen
Schülern ausgingen, verbreiteten sich über die Sensibilitätsstörungen
der Hysterie an der Haut und den tiefen Teilen, das Verhalten
der Sinnesorgane, die Eigentümlichkeiten der hysterischen Kon-
trakturen und Lähmungen, der trophischen Störungen und der
Veränderungen des Stoffwechsels. Die mannigfachen Formen des
hysterischen Anfalls wurden beschrieben, ein Schema aufgestellt,
welches die typische Gestaltung des großen hysterischen Anfalls
in vier Stadien schilderte und die Zurückführung der gemeinhin
beobachteten „kleinen“ Anfälle auf den Typus gestattete, ebenso
die Lage und Häufigkeit der sogenannten hysterogenen Zonen,
deren Beziehung zu den Anfällen studiert usw. Mit all diesen
Kenntnissen über die Erscheinung der Hysterie ausgestattet, machte
man nun eine Reihe überraschender Entdeckungen; man fand die
Hysterie beim männlichen Geschlechte und besonders bei den
Männern der Arbeiterklasse mit einer Häufigkeit, die man nicht
vermutet hatte, man überzeugte sich, daß gewisse Zufälle, die
man der Alkohol-, der Blei-Intoxikation zugeschrieben hatte, der
Hysterie angehörten, man war imstande, eine ganze Anzahl von
bisher unverstanden und isoliert dastehenden Affektionen unter
die Hysterie zu subsumieren und den Anteil der Hysterie aus-
zuscheiden, wo sich die Neurose mit anderen Affektionen zu kom-
plexen Bildern vereinigt hatte. Am weittragendsten waren wohl
die Forschungen über die Nervenerkrankungen nach schweren
Traumen, die „traumatischen Neurosen“, deren Auffassung jetzt
noch in Diskussion steht, und bei welchen Charcot das Recht
der Hysterie erfolgreich vertreten hat.Nachdem die letzten Ausdehnungen des Begriffes der Hysterie
so häufig zur Verwerfung ätiologischer Diagnosen geführt hatten,S.
Charcot 255
ergab sich die Notwendigkeit, auf die Atiologie der Hysterie ein-
zugehen. Charcot stellte eine einfache Formel fiir diese auf: als
einzige Ursache hat die Heredität zu gelten, die Hysterie ist dem-
nach eine Form der Entartung, ein Mitglied der famille névro-
pathique; alle anderen ätiologischen Momente spielen die Rolle
von Gelegenheitsursachen, von agents provocateurs.Der Aufbau dieses großen Gebäudes fand natürlich nicht ohne
heftigen Widerspruch statt, allein es war der unfruchtbare Wider-
spruch einer alten Generation, die ihre Anschauungen nicht ver-
ändert wissen wollte; die Jüngeren unter den Neuropathologen,
auch Deutschlands, nahmen Charcots Lehren in größerem oder
geringerem Ausmaße an. Charcot selbst war des Sieges seiner
Lehren von der Hysterie vollkommen sicher; wollte man ihm
einwenden, daß die vier Stadien des Anfalls, die Hysterie bei
Männern usw., anderswo als in Frankreich nicht zu beobachten
seien, so wies er darauf hin, wie lange er diese Dinge selbst iiber-
sehen habe, und wiederholte, die Hysterie sei allerorten und zu
allen Zeiten die nämliche. Gegen den Vorwurf, daß die Franzosen
eine weit nerväsere Nation seien als andere, die Hysterie gleich-
sam eine nationale Unart, war er sehr empfindlich und konnte
sich sehr freuen, wenn eine Publikation „über einen Fall von
Reflexepilepsie“ bei einem preußischen Grenadier ihm auf Distanz
die Diagnose der Hysterie ermöglichte.An einer Stelle seiner Arbeit ging Charcot noch über das
Niveau seiner sonstigen Behandlung der Hysterie hinaus und tat
einen Schritt, der ihm für alle Zeiten auch den Ruhm des ersten
Erklårers der Hysterie sichert. Mit dem Studium der hysterischen
Lähmungen beschäftigt, die nach Traumen entstehen, kam er auf
den Einfall, diese Lähmungen, die er vorher sorgfältig von den
organischen differenziert hatte, künstlich zu reproduzieren, und
bediente sich hiezu hysterischer Patienten, die er durch Hypnoti-
sieren in den Zustand des Somnambulismus versetzte. Es gelang
ihm durch lückenlose Schlußfolge nachzuweisen, daß diese Läh-S.
256 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
mungen Erfolge von Vorstellungen seien, die in Momenten be-
sonderer Disposition das Gehirn des Kranken beherrscht hatten.
Damit war zum ersten Male der Mechanismus eines hysterischen
Phänomens aufgeklärt, und an dieses unvergleichlich schöne Stück
klinischer Forschung knüpfte dann sein eigener Schüler P. Janet,
knüpften Breuer u. a. an, um eine Theorie der Neurose zu ent-
werfen, welche sich mit der Auffassung des Mittelalters deckt,
nachdem sie den „Dämon“ der priesterlichen Phantasie durch eine
psychologische Formel ersetzt hat.Charcots Beschäftigung mit den hypnotischen Phänomenen
bei Hysterischen gereichte diesem bedeutungsvollen Gebiet von
bisher vernachlässigten und verachteten Tatsachen zur größten
Förderung, indem das Gewicht seines Namens dem Zweifel an der
Realität der hypnotischen Erscheinungen ein für allemal ein Ende
machte. Allein der rein psychologische Gegenstand vertrug die
ausschließlich nosographische Behandlung nicht, die er bei der
Schule der Salpetriere fand. Die Beschränkung des Studiums der
Hypnose auf die Hysterischen, die Unterscheidung von großem
und kleinem Hypnotismus, die Aufstellung dreier Stadien der
„großen Hypnose“ und deren Kennzeichnung durch somatische
Phänomene, dies alles unterlag in der Schätzung der Zeitgenossen,
als Liébaults Schüler Bernheim es unternahm, die Lehre vom
Hypnotismus auf einer umfassenderen psychologischen Grundlage
aufzubauen und die Suggestion zum Kernpunkt der Hypnose zu
machen. Nur die Gegner des Hypnotismus, die sich damit zu-
frieden geben, ihren Mangel an eigener Erfahrung durch Berufung
auf eine Autorität zu verdecken, halten noch an den Aufstellungen
Charcots fest und lieben es, eine aus seinen letzten Jahren
stammende Äußerung zu verwerten, die der Hypnose eine jede
Bedeutung als Heilmittel abspricht.Auch an den ätiologischen Theorien, die Charcot in seiner
Lehre von ‘der famille névropathique vertrat, und die er zur
Grundlage seiner gesamten Auffassung der NervenkrankheitenS.
Charcot 257
gemacht hatte, wird wohl bald zu rütteln und zu korrigieren
sein. Charcot überschätzte die Hereditåt als Ursache so sehr, daß
kein Raum fiir die Erwerbung von Neuropathien übrig blieb, er
wies der Syphilis nur einen bescheidenen Platz unter den agents
provocateurs an, und er trennte weder fir die Ätiologie, noch
sonst hinreichend scharf die organischen Nervenaffektionen von
den Neurosen. Es ist unausbleiblich, daß der Fortschritt unserer
Wissenschaft, indem er unsere Kenntnisse vermehrt, auch manches
von dem entwertet, was uns Charcot gelehrt hat, aber kein
Wechsel der Zeiten oder der Meinungen wird den Nachruhm
des Mannes zu schmålern vermögen, um den wir jetzt — inFrankreich und anderwårts — alle trauern.
Wien, im August 1893.
Freud, I. ⑧ 17
freudgs1
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