Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung 1912-003/1925
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    RATSCHLÄGE FÜR DEN ARZT BEI DER
    PSYCHOANALYTISCHEN BEHANDLUNG

    Erschien zuerst im „Zentralblatt für Psycho-
    analyse“, II (1912), dann in der Vierten Folge der
    „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“.

    Die technischen Regeln, die ich hier in Vorschlag bringe,
    haben sich mir aus der langjährigen eigenen Erfahrung ergeben,
    nachdem ich durch eigenen Schaden von der Verfolgung anderer
    Wege zurückgekommen war. Man wird leicht bemerken, daß sie
    sich, wenigstens viele von ihnen, zu einer einzigen Vorschrift
    zusammensetzen. Ich hoffe, daß ihre Berücksichtigung den ana-
    lytisch tätigen Ärzten viel unnützen Aufwand ersparen und sie
    vor manchem Übersehen behüten wird; aber ich muß ausdrück-
    lich sagen, diese Technik hat sich als die einzig zweckmäßige
    für meine Individualität ergeben; ich wage es nicht in Abrede
    zu stellen, daß eine ganz anders konstituierte ärztliche Persön-
    lichkeit dazu gedrängt werden kann, eine andere Einstellung
    gegen den Kranken und gegen die zu lösende Aufgabe zu
    bevorzugen.

    a) Die nächste Aufgabe, vor die sich der Analytiker gestellt
    sieht, der mehr als einen Kranken im Tage so behandelt, wird
    ihm auch als die schwierigste erscheinen. Sie besteht ja darin,
    alle die unzähligen Namen, Daten, Einzelheiten der Erinnerung,
    Einfälle und Krankheitsproduktionen während der Kur, die ein
    Patient im Laufe von Monaten und Jahren vorbringt, im
    Gedächtnis zu behalten und sie nicht mit ähnlichem Material zu

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    verwechseln, das von anderen gleichzeitig oder früher analysierten
    Patienten herrührt. Ist man gar genötigt, täglich sechs, acht Kranke
    oder selbst mehr zu analysieren, so wird eine Gedächtnisleistung,
    der solches gelingt, bei Außenstehenden Unglauben, Bewunderung
    oder selbst Bedauern wecken. In jedem Falle wird man auf die
    Technik neugierig sein, welche die Bewältigung einer solchen
    Fülle gestattet, und wird erwarten, daß dieselbe sich besonderer
    Hilfsmittel bediene.

    lndes ist diese Technik eine sehr einfache. Sie lehnt alle
    Hilfsmittel, wie wir hören werden, selbst das Niederschreiben ab
    und besteht einfach darin, sich nichts besonders merken zu wollen
    und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche „gleich-
    schwebende Aufmerksamkeit“, wie ich es schon einmal genannt
    habe, entgegenzubringen. Man erspart sich auf diese Weise
    eine Anstrengung der Aufmerksamkeit, die man doch nicht durch
    viele Stunden täglich festhalten könnte, und vermeidet eine
    Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist.
    Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer
    gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dar-
    gebotenen Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück
    besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes, und folgt bei dieser
    Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade
    dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen
    Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu
    finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen,
    so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung fälschen.
    Man darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist Dinge
    zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird.

    Wie man sieht, ist die Vorschrift, sich alles gleichmäßig zu
    merken, das notwendige Gegenstück zu der Anforderung an den
    Analysierten, ohne Kritik und Auswahl alles zu erzählen, was
    ihm einfällt. Benimmt sich der Arzt anders, so macht er zum
    großen Teile den Gewinn zunichte, der aus der Befolgung der

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    „psychoanalytischen Grundrege“ von seiten des Patienten resul-
    tiert. Die Regel für den Arzt läßt sich so aussprechen: Man
    halte alle bewußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne
    und überlasse sich völlig seinem „unbewußten Gedächtnisse“,
    oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere
    sich nicht darum, ob man sich etwas merke.

    Was man auf diese Weise bei sich erreicht, genügt allen
    Anforderungen während der Behandlung. Jene Bestandteile des
    Materials, die sich bereits zu einem Zusammenhange fügen,
    werden für den Arzt auch bewußt verfügbar; das andere, noch
    zusammenhanglose, chaotisch ungeordnete, scheint zunächst ver-
    sunken, taucht aber bereitwillig im Gedächtnisse auf, sobald der
    Analysierte etwas Neues vorbringt, womit es sich in Beziehung
    bringen und wodurch es sich fortsetzen kann. Man nimmt dann
    lächelnd das unverdiente Kompliment des Analysierten wegen
    eines „besonders guten Gedächtnisses“ entgegen, wenn man nach
    Jahr und Tag eine Einzelheit reproduziert, die der bewußten
    Absicht, sie im Gedächtnisse zu fixieren, wahrscheinlich ent-
    gangen wäre.

    Irrtümer in diesem Erinnern ereignen sich nur zu Zeiten und
    an Stellen, wo man durch die Eigenbeziehung gestört wird (siehe
    unten), hinter dem Ideale des Analytikers also in arger Weise
    zurückbleibt. Verwechslungen mit dem Materiale anderer Patienten
    kommen recht selten zustande. In einem Streite mit dem Ana-
    lysierten, ob und wie er etwas einzelnes gesagt habe, bleibt der
    Arzt zumeist im Rechte.1

    b) Ich kann es nicht empfehlen, während der Sitzungen mit
    dem Analysierten Notizen in größerem Umfange zu machen,

    1) Der Analysierte behauptet oft, eine gewisse Mitteilung bereits früher gemacht
    zu haben, während man ihm mit ruhiger Überlegenheit versichern kann, sie erfolge
    jetzt zum erstenmal. Es stellt sich dann heraus‚ daß der Analysierte früher einmal
    die Intention zu dieser Mitteilung gehabt hat, an ihrer Ausführung aber durch einen
    noch bestehenden Widerstand gehindert wurde. Die Erinnerung an diese Intention
    ist für ihn ununterscheidbar von der Erinnerung an deren Ausführung.

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    Protokolle anzulegen u. dgl. Abgesehen von dem ungünstigen
    Eindruck, den dies bei manchen Patienten hervorruft, gelten
    dagegen die nämlichen Gesichtspunkte, die wir beim Merken
    gewürdigt haben. Man trifft notgedrungen eine schädliche Aus-
    wahl aus dem Stoffe, während man nachschreibt oder steno-
    graphiert, und man bindet ein Stück seiner eigenen Geistes-
    tätigkeit, das in der Deutung des Angehörten eine bessere Ver-
    wendung finden soll. Man kann ohne Vorwurf Ausnahmen von
    dieser Regel zulassen für Daten, Traumtexte oder einzelne
    bemerkenswerte Ergebnisse, die sich leicht aus dem Zusammen-
    hange lösen lassen und für eine selbständige Verwendung als
    Beispiele geeignet sind. Aber ich pflege auch dies nicht zu tun.
    Beispiele schreibe ich am Abend nach Abschluß der Arbeit aus
    dem Gedächtnis nieder; Traumtexte, an denen mir gelegen ist,
    lasse ich von den Patienten nach der Erzählung des Tram-nes
    fixieren.

    c) Die Niederschrift während der Sitzung mit dem Patienten
    könnte durch den Vorsatz gerechtfertigt werden, den behandelten
    Fall zum Gegenstande einer wissenschaftlichen Publikation zu
    machen. Das kann man ja prinzipiell kaum versagen. Aber man
    muß doch im Auge behalten, daß genaue Protokolle in einer
    analytischen Krankengeschichte weniger leisten, als man von
    ihnen erwarten sollte. Sie gehören, streng genommen, jener
    Scheinexaktheit an, für welche uns die „moderne“ Psychiatrie
    manche auffällige Beispiele zur Verfügung stellt. Sie sind in der
    Regel ermüdend für den Leser und bringen es doch nicht dazu,
    ihm die Anwesenheit bei der Analyse zu ersetzen. Wir haben
    überhaupt die Erfahrung gemacht, daß der Leser, wenn er dem
    Analytiker glauben will, ihm auch Kredit für das bißchen
    Bearbeitung einräumt, das er an seinem Material vorgenommen
    hat; wenn er die Analyse und den Analytiker aber nicht ernst
    nehmen will, so setzt er sich auch über getreue Behandlungs-
    protokolle hinweg. Dies scheint nicht der Weg, um dem Mangel

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    an Evidenz abzuhelfen, der an den psychoanalytischen Dar-
    stellungen gefunden wird.

    d) Es ist zwar einer der Ruhmestitel der analytischen Arbeit,
    daß Forschung und Behandlung bei ihr zusammenfallen, aber die
    Technik, die der einen dient, widersetzt sich von einem gewissen
    Punkte an doch der anderen. Es ist nicht gut, einen Fall wissen-
    schaftlich zu bearbeiten, solange seine Behandlung noch nicht
    abgeschlossen ist, seinen Aufbau zusammenzusetzen, seinen Fort-
    gang erraten zu wollen, von Zeit zu Zeit Aufnahmen des gegen-
    wärtigen Status zu machen, wie das wissenschaftliche Interesse
    es fordern würde. Der Erfolg leidet in solchen Fällen, die man
    von vornherein der wissenschaftlichen Verwertung bestimmt und
    nach deren Bedürfnissen behandelt; dagegen gelingen jene Fälle
    am besten, bei denen man wie absichtslos verfährt, sich von jeder
    Wendung überraschen läßt, und denen man immer wieder
    unbefangen und voraussetzungslos entgegentritt. Das richtige Ver-
    halten für den Analytiker wird darin bestehen, sich aus der einen
    psychischen Einstellung nach Bedarf in die andere zu schwingen,
    nicht zu spekulieren und zu grübeln, solange er analysiert, und
    erst dann das gewonnene Material der synthetischen Denkarbeit
    zu unterziehen, nachdem die Analyse abgeschlossen ist. Die
    Unterscheidung der beiden Einstellungen würde bedeutungslos,
    wenn wir bereits im Besitze aller oder doch der wesentlichen
    Erkenntnisse über die Psychologie des Unbewußten und über
    die Struktur der Neurosen wären, die wir aus der psycho-
    analytischen Arbeit gewinnen können. Gegenwärtig sind wir von
    diesem Ziele noch weit entfernt, und dürfen uns die Wege nicht
    verschließen, um das bisher Erkannte nachzuprüfen und Neues
    dazu zu finden.

    e) Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen,
    sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen
    zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein
    menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften

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    ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich
    zu vollziehen. Für den Psychoanalytiker wird unter den heute
    waltenden Umständen eine Affektstrebung am gefährlichsten, der
    therapeutische Ehrgeiz, mit seinem neuen und viel angefochtenen
    Mittel etwas zu leisten, was überzeugend auf andere wirken
    kann. Damit bringt er nicht nur sich selbst in eine für die
    Arbeit ungünstige Verfassung, er setzt sich auch wehrlos gewissen
    Widerständen des Patienten aus, von dessen Kräftespiel ja die
    Genesung in erster Linie abhängt. Die Rechtfertigung dieser vom
    Analytiker zu fordernden Gefühlskälte liegt darin, daß sie für
    beide Teile die vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt
    die wünschenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für
    den Kranken das größte Ausmaß von Hilfeleistung, das uns heute
    möglich ist. Ein alter Chirurg hatte zu seinem Wahlspruch die
    Worte genommen: Je le pansai, Dieu le guérit. Mit etwas Ähn-
    lichem sollte sich der Analytiker zufrieden geben.

    f) Es ist leicht zu erraten, in welchem Ziele diese einzeln
    vorgebrachten Regeln zusammentreffen. Sie wollen alle beim Arzte
    das Gegenstück zu der für den Analysierten aufgestellten „psycho-
    analytischen Grundregel“ schaffen. Wie der Analysierte alles mit-
    teilen soll, was er in seiner Selbstbeobachtung erhascht, mit Hint-
    anhaltung aller logischen und affektiven Einwendungen, die ihn
    bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen, so soll sich der Arzt
    in den Stand setzen, alles ihm Mitgeteilte für die Zwecke der
    Deutung, der Erkennung des verborgenen Unbewußten zu ver-
    werten, ohne die vom Kranken aufgegebene Auswahl durch eine
    eigene Zensur zu ersetzen, in eine Formel gefaßt: er soll dem
    gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes
    als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten
    einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller einge-
    stellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten
    elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen
    verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus den

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    ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte,
    welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzu-
    stellen.

    Wenn der Arzt aber imstande sein soll, sich seines Unbewußten
    in solcher Weise als Instrument bei der Analyse zu bedienen, so
    muß er selbst eine psychologische Bedingung in weitem Ausmaße
    erfüllen. Er darf in sich selbst keine Widerstände dulden, welche
    das von seinem Unbewußten Erkannte von seinem Bewußtsein
    abhalten, sonst würde er eine neue Art von Auswahl und Ent-
    stellung in die Analyse einführen, welche weit schädlicher wäre
    als die durch Anspannung seiner bewußten Aufmerksamkeit her-
    vorgerufene. Es genügt nicht hiefür, daß er selbst ein annähernd
    normaler Mensch sei, man darf vielmehr die Forderung auf-
    stellen, daß er sich einer psychoanalytischen Purifizierung unter
    zogen und von jenen Eigenkomplexen Kenntnis genommen habe,
    die geeignet wären, ihn in der Erfassung des vom Analysierten
    Dargebotenen zu stören. An der disqualifizierenden Wirkung solcher
    eigener Defekte kann billigerweise nicht gezweifelt werden; jede
    ungelöste Verdrängung beim Arzte entspricht nach einem treffenden
    Worte von W. Stekel einem „blinden Fleck“ in seiner ana-
    lytischen Wahrnehmung.

    Vor Jahren erwidene ich auf die Frage, wie man ein Analytiker
    werden könne: Durch die Analyse seiner eigenen Träume. Gewiß
    reicht diese Vorbereitung für viele Personen aus, aber nicht für
    alle, die die Analyse erlernen möchten Auch gelingt es nicht
    allen, die eigenen Träume ohne fremde Hilfe zu deuten. Ich
    rechne es zu den vielen Verdiensten der Züricher analytischen
    Schule, daß sie die Bedingung verschärft und in der Forderung
    niedergelegt hat, es solle sich jeder, der Analysen an anderen
    ausführen will, vorher selbst einer Analyse bei einem Sach-
    kundigen unterziehen. Wer es mit der Aufgabe ernst meint,
    sollte diesen Weg wählen, der mehr als einen Vorteil verspricht;
    das Opfer, sich ohne Krankheitszwang einer fremden Person

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    eröffnet zu haben, wird reichlich gelohnt. Man wird nicht nur
    seine Absicht, das Verborgene der eigenen Person kennen zu
    lernen, in weit kürzerer Zeit und mit geringerem effektiven Auf-
    wand verwirklichen, sondern auch Eindrücke und Überzeugungen
    am eigenen Leibe gewinnen, die man durch das Studium von
    Büchern und Anhören von Vorträgen vergeblich anstrebt. Endlich
    ist auch der Gewinn aus der dauernden seelischen Beziehung
    nicht gering anzuschlagen, die sich zwischen dem Analysierten
    und seinem Einführenden herzustellen pflegt.

    Eine solche Analyse eines praktisch Gesunden wird begreif-
    licherweise unabgeschlossen bleiben. Wer den hohen Wert der
    durch sie erworbenen Selbsterkenntnis und Steigerung der Selbst-
    beherrschung zu würdigen weiß, wird die analytische Erforschung
    seiner eigenen Person nachher als Selbstanalyse fortsetzen und
    sich gerne damit bescheiden, daß er in sich wie außerhalb seiner
    immer Neues zu finden erwarten muß. Wer aber als Analytiker
    die Vorsicht der Eigenanalyse verschmäht hat, der wird nicht
    nur durch die Unfähigkeit bestraft, über ein gewisses Maß an
    seinen Kranken zu lernen, er unterliegt auch einer ernsthafteren Ge-
    fahr, die zur Gefahr für andere werden kann. Er wird leicht in die
    Versuchung geraten, was er in dumpfer Selbstwahrnehmung von den
    Eigentümlichkeiten seiner eigenen Person erkennt, als allgemeingültige
    Theorie in die Wissenschaft hinauszuprojizieren, er wird die psycho-
    analytische Methode in Mißkredit bringen und Unerfahrene irreleiten.

    g) Ich füge noch einige andere Regeln an, in welchen der
    Übergang gemacht wird von der Einstellung des Arztes zur
    Behandlung des Analysierten.

    Es ist gewiß verlockend für den jungen und eifrigen Psycho-
    analytiker, daß er viel von der eigenen Individualität einsetze,
    um den Patienten mit sich fortzureißen und ihn im Schwung
    über die Schranken seiner engen Persönlichkeit zu erheben. Man
    sollte meinen, es sei durchaus zulässig, ja zweckmäßig für die
    Überwindung der beim Kranken bestehenden Widerstände, wenn

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    der Arzt ihm Einblick in die eigenen seelischen Defekte und
    Konflikte gestattet, ihm durch vertrauliche Mitteilungen aus
    seinem Leben die Gleichstellung ermöglicht. Ein Vertrauen ist
    doch das andere wert, und wer Intimität vom anderen fordert,
    muß ihm doch auch solche bezeugen.

    Allein im psychoanalytischen Verkehre läuft manches anders
    ab, als wir es nach den Voraussetzungen der Bewußtseinspsycho-
    logie erwarten dürfen. Die Erfahrung spricht nicht für die Vor-
    züglichkeit einer solchen affektiven Technik. Es ist auch nicht
    schwer einzusehen, daß man mit ihr den psychoanalytischen
    Boden verläßt und sich den Suggestionsbehandlungen annähert.
    Man erreicht so etwa, daß der Patient eher und leichter mit-
    teilt, was ihm selbst bekannt ist, und was er aus konventionellen
    Widerständen noch eine Weile zurückgehalten hätte. Für die
    Aufdeckung des dem Kranken Unbewußten leistet diese Technik
    nichts, sie macht ihn nur noch unfähiger, tiefere Widerstände
    zu überwinden, und sie versagt in schwereren Fällen regelmäßig
    an der rege gemachten Unersättlichkeit des Kranken, der dann
    gerne das Verhältnis umkehren möchte und die Analyse des
    Arztes interessanter findet als die eigene. Auch die Lösung der
    Übertragung, eine der Hauptaufgaben der Kur, wird durch die
    intime Einstellung des Arztes erschwert, so daß der etwaige
    Gewinn zu Anfang schließlich mehr als wettgemacht wird. Ich
    stehe darum nicht an, diese Art der Technik als eine fehlerhafte
    zu verwerfen. Der Arzt soll undurchsichtig für die Analysierten
    sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was
    ihm gezeigt wird, Es ist allerdings praktisch nichts dagegen zu
    sagen, wenn ein Psychotherapeut ein Stück Analyse mit einer
    Portion Suggestivbeeinflussung vermengt, um in kürzerer Zeit
    sichtbare Erfolge zu erzielen, wie es zum Beispiel in Anstalten
    notwendig wird, aber man darf verlangen, daß er selbst nicht
    im Zweifel darüber sei, was er vornehme, und daß er wisse,
    seine Methode sei nicht die der richtigen Psychoanalyse.

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    h) Eine andere Versuchung ergibt sich aus der erzieherischen
    Tätigkeit, die dem Arzte bei der psychoanalytischen Behandlung
    ohne besonderen Vorsatz zufällt. Bei der Lösung von Entwicklungs-
    hemmungen macht es sich von selbst, daß der Arzt in die Lage
    kommt, den freigewordenen Strebungen neue Ziele anzuweisen.
    Es ist dann nur ein begreiflicher Ehrgeiz, wenn er sich bemüht,
    die Person, auf deren Befreiung von der Neurose er soviel
    Mühe aufgewendet hat, auch zu etwas besonders vortrefflichem
    zu machen, und ihren Wünschen hohe Ziele vorschreibt. Aber
    auch hiebei sollte der Arzt sich in der Gewalt haben und
    weniger die eigenen Wünsche als die Eignung des Analysierten
    zur Richtschnur nehmen. Nicht alle Neurotiker bringen viel
    Talent zur Sublimierung mit; von vielen unter ihnen kann
    man annehmen, daß sie überhaupt nicht erkrankt wären, wenn
    sie die Kunst, ihre Triebe zu sublimieren, besessen hätten. Drängt
    man sie übermäßig zur Sublimierung und schneidet ihnen die
    nächsten und bequemsten Triebbefriedigungen ab, so macht man
    ihnen das Leben meist noch schwieriger, als sie es ohnedies
    empfinden. Als Arzt muß man vor allem tolerant sein gegen die
    Schwäche des Kranken, muß sich bescheiden, auch einem nicht
    Vollwertigen ein Stück Leistungs- und Genußfähigkeit wieder-
    gewonnen zu haben. Der erzieherische Ehrgeiz ist so wenig
    zweckmäßig wie der therapeutische. Es kommt außerdem in
    Betracht, daß viele Personen gerade an dem Versuche erkrankt
    sind, ihre Triebe über das von ihrer Organisation gestattete Maß
    hinaus zu sublimieren, und daß sich bei den zur Sublimierung
    Befähigten dieser Prozeß von selbst zu vollziehen pflegt, sobald
    ihre Hemmungen durch die Analyse überwunden sind. Ich meine
    also, das Bestreben, die analytische Behandlung regelmäßig zur
    Triebsublimierung zu verwenden, ist zwar immer lobenswert,
    aber keineswegs in allen Fällen empfehlenswert.

    i) In welchen Grenzen soll man die intellektuelle Mitarbeit
    des Analysierten bei der Behandlung in Anspruch nehmen? Es

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    ist schwer, hierüber etwas allgemein Gültiges auszusagen. Die
    Persönlichkeit des Patienten entscheidet in erster Linie. Aber
    Vorsicht und Zurückhaltung sind hiebei jedenfalls zu beobachten.
    Es ist unrichtig, dem Analysierten Aufgaben zu stellen, er solle
    seine Erinnerung sammeln, über eine gewisse Zeit seines Lebens
    nachdenken u. dgl. Er hat vielmehr vor allem zu lernen, was
    keinem leicht fällt anzunehmen, daß durch geistige Tätigkeit von
    der Art des Nachdenkens, daß durch Willens- und Aufmerksam-
    keitsanstrengung keines der Rätsel der Neurose gelöst wird,
    sondern nur durch die geduldige Befolgung der psychoanalytischen
    Regel, welche die Kritik gegen das Unbewußte und dessen
    Abkömmlinge auszuschalten gebietet. Besonders unerbittlich sollte
    man auf der Befolgung dieser Regel bei jenen Kranken bestehen,
    die die Kunst üben, bei der Behandlung ins Intellektuelle aus-
    zuweichen, dann viel und oft sehr weise über ihren Zustand
    reflektieren, und es sich so ersparen, etwas zu seiner Bewältigung
    zu tun. Ich nehme darum bei meinen Patienten auch die Lektüre
    analytischer Schriften nicht gerne zu Hilfe; ich verlange, daß sie
    an der eigenen Person lernen sollen, und versichere ihnen, daß
    sie dadurch mehr und Wertvolleres erfahren werden, als ihnen
    die gesamte psychoanalytische Literatur sagen könnte. Ich sehe
    aber ein, daß es unter den Bedingungen eines Anstaltsaufenthaltes
    sehr vorteilhaft werden kann, sich der Lektüre zur Vorbereitung
    der Analysierten und zur Herstellung einer Atmosphäre von
    Beeinflussung zu bedienen.

    Am dringendsten möchte ich davor warnen, um die Zustimmung
    und Unterstützung von Eltern oder Angehörigen zu werben,
    indem man ihnen ein — einführendes oder tiefer gehendes —
    Werk unserer Literatur zu lesen gibt. Meist reicht dieser wohl-
    gemeinte Schritt hin, um die naturgemäße, irgendeinmal unver-
    meidliche Gegnerschaft der Angehörigen gegen die psycho-
    analytische Behandlung der Ihrigen vorzeitig losbrechen zu lassen,
    so daß es überhaupt nicht zum Beginne der Behandlung kommt.

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    Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß die fortschreitende
    Erfahrung der Psychoanalytiker bald zu einer Einigung über die
    Fragen der Technik führen wird, wie man am zweckmäßigsten
    die Neurotiker behandeln solle. Was die Behandlung der „Ange-
    hörigen“ betrifft, so gestehe ich meine völlige Ratlosigkeit ein
    und setze auf deren individuelle Behandlung überhaupt wenig
    Zutrauen.