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Der Realitätsverlust bei Neurose
und PsychoseIch habe kürzlich1 einen der unterscheidenden Züge zwischen
Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das Ich
in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es (Trieblebens)
unterdrückt, während sich dasselbe Ich bei der Psychose im Dienste
des Es von einem Stück der Realität zurückzieht. Für die Neu-
rose wäre also die Übermacht des Realeinflusses, für die Psychose
die des Es maßgebend. Der Realitätsverlust wäre für die Psychose
von vorneherein gegeben; für die Neurose, sollte man meinen,
wäre er vermieden.Das stimmt nun aber gar nicht zur Erfahrung, die wir alle
machen können, daß jede Neurose das Verhältnis des Kranken zur
Realität irgendwie stört, daß sie ihm ein Mittel ist, sich von ihr
zurückzuziehen und in ihren schweren Ausbildungen direkt eine
Flucht aus dem realen Leben bedeutet. Dieser Widerspruch erscheint
bedenklich, allein er ist leicht zu beseitigen und seine Aufklärung
wird unser Verständnis der Neurose nur gefördert haben.Der Widerspruch besteht nämlich nur so lange, als wir die
Eingangssituation der Neurose ins Auge fassen, in welcher das
Ich im Dienst der Realität die Verdrängung einer Triebregung
vornimmt. Das ist aber noch nicht die Neurose selbst. Diese
besteht vielmehr in den Vorgängen, welche dem geschädigten1) Neurose und Psychose. Internat. Zschr. f. PsA. X (1924), Heft 1. [Ges.
Schriften, Bd. V, S. 418ff].S.
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Anteil des Es eine Entschädigung bringen, also in der Reaktion
gegen die Verdrängung und im Mißglücken derselben. Die
Lockerung des Verhältnisses zur Realität ist dann die Folge dieses
zweiten Schrittes in der Neurosenbildung und es sollte uns nicht
verwundern, wenn die Detailuntersuchung zeigte, daß der Reali-
tätsverlust gerade jenes Stück der Realität betrifft, über dessen
Anforderung die Triebverdrängung erfolgte.Die Charakteristik der Neurose als Erfolg einer mißglückten
Verdrängung ist nichts Neues. Wir haben es immer so gesagt
und nur infolge des neuen Zusammenhanges war es notwendig,
es zu wiederholen.Das nämliche Bedenken wird übrigens in besonders eindrucks-
voller Weise wiederauftreten, wenn es sich um einen Fall von
Neurose handelt, dessen Veranlassung („die traumatische Szene“)
bekannt ist und an dem man sehen kann, wie sich die Person von
einem solchen Erlebnis abwendet und es der Amnesie überantwortet.
Ich will zum Beispiel auf einen vor langen Jahren analysierten Fall
zurückgreifen,1 in dem das in ihren Schwager verliebte Mädchen
am Totenbett der Schwester durch die Idee erschüttert wird:
Nun ist er frei und kann dich heiraten. Diese Szene wird sofort
vergessen und damit der Regressionsvorgang eingeleitet, der zu
den hysterischen Schmerzen führt. Es ist aber gerade hier lehr-
reich zu sehen, auf welchem Wege die Neurose den Konflikt zu
erledigen versucht. Sie entwertet die reale Veränderung, indem
sie den in Betracht kommenden Triebanspruch, also die Liebe
zum Schwager, verdrängt. Die psychotische Reaktion wäre gewesen,
die Tatsache des Todes der Schwester zu verleugnen.Man könnte nun erwarten, daß sich bei der Entstehung der
Psychose etwas dem Vorgang bei der Neurose Analoges ereignet,
natürlich zwischen anderen Instanzen. Also daß auch bei der
Psychose zwei Schritte deutlich werden, von denen der erste das
Ich diesmal von der Realität losreißt, der zweite aber den Schaden1) In den „Studien über Hysterie“, 1895. [Ges. Schriften, Bd. I.]
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wieder gutmachen will und nun die Beziehung zur Realität auf
Kosten des Es wiederherstellt. Wirklich ist auch etwas Analoges
an der Psychose zu beobachten; es gibt auch hier zwei Schritte,
von denen der zweite den Charakter der Reparation an sich trägt,
aber dann weicht die Analogie einer viel weiter gehenden Gleich-
sinnigkeit der Vorgänge. Der zweite Schritt der Psychose will
auch den Realitätsverlust ausgleichen, aber nicht auf Kosten einer
Einschränkung des Es, wie bei Neurose auf Kosten der Real-
beziehung, sondern auf einem anderen, mehr selbstherrlichen Weg
durch Schöpfung einer neuen Realität, welche nicht mehr den
nämlichen Anstoß bietet wie die verlassene. Der zweite Schritt
wird also bei der Neurose wie bei der Psychose von denselben
Tendenzen getragen, er dient in beiden Fällen dem Macht-
bestreben des Es, das sich von der Realität nicht zwingen läßt.
Neurose wie Psychose sind also beide Ausdruck der Rebellion des
Es gegen die Außenwelt, seiner Unlust oder, wenn man will,
seiner Unfähigkeit, sich der realen Not, der 'Ανάγκη, anzupassen.
Neurose und Psychose unterscheiden sich weit mehr von einander
in der ersten einleitenden Reaktion als in dem auf sie folgenden
Reparationsversuch.Der anfängliche Unterschied kommt dann im Endergebnis in
der Art zum Ausdruck, daß bei der Neurose ein Stück der
Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber umgebaut
wird. Oder: bei der Psychose folgt auf die anfängliche Flucht eine
aktive Phase des Umbaus, bei der Neurose auf den anfänglichen
Gehorsam ein nachträglicher Fluchtversuch. Oder noch anders
ausgedrückt: Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will
nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht
sie zu ersetzen. Normal oder „gesund“ heißen wir ein Verhalten,
welches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität
so wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die
Psychose um ihre Abänderung bemüht. Dies zweckmäßige,
normale Verhalten führt natürlich zu einer äußeren ArbeitsleistungS.
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an der Außenwelt und begnügt sich nicht wie bei der Psychose
mit der Herstellung innerer Veränderungen; es ist nicht mehr
autoplastisch, sondern alloplastisch.Die Umarbeitung der Realität geschieht bei der Psychose an
den psychischen Niederschlägen der bisherigen Beziehungen zu
ihr, also an den Erinnerungsspuren, Vorstellungen und Urteilen,
die man bisher von ihr gewonnen hatte und durch welche sie
im Seelenleben vertreten war. Aber diese Beziehung war nie
eine abgeschlossene, sie wurde fortlaufend durch neue Wahr-
nehmungen bereichert und abgeändert. Somit stellt sich auch
für die Psychose die Aufgabe her, sich solche Wahrnehmungen
zu verschaffen, wie sie der neuen Realität entsprechen würden,
was in gründlichster Weise auf dem Wege der Halluzination
erreicht wird. Wenn die Erinnerungstäuschungen, Wahnbildungen
und Halluzinationen bei so vielen Formen und Fällen von Psychose
den peinlichsten Charakter zeigen und mit Angstentwicklung
verbunden sind, so ist das wohl ein Anzeichen dafür, daß sich
der ganze Umbildungsprozeß gegen heftig widerstrebende Kräfte
vollzieht. Man darf sich den Vorgang nach dem uns besser
bekannten Vorbild der Neurose konstruieren. Hier sehen wir, daß
jedesmal mit Angst reagiert wird, so oft der verdrängte Trieb
einen Vorstoß macht, und daß das Ergebnis des Konflikts doch
nur ein Kompromiß und als Befriedigung unvollkommen ist.
Wahrscheinlich drängt sich bei der Psychose das abgewiesene
Stück der Realität immer wieder dem Seelenleben auf, wie bei
der Neurose der verdrängte Trieb, und darum sind auch die Folgen
in beiden Fällen die gleichen. Die Erörterung der verschiedenen
Mechanismen, welche bei den Psychosen die Abwendung von der
Realität und den Wiederaufbau einer solchen bewerkstelligen sollen,
so wie des Ausmaßes von Erfolg, das sie erzielen können, ist eine
noch nicht in Angriff genommene Aufgabe der speziellen Psychiatrie.Es ist also eine weitere Analogie zwischen Neurose und
Psychose, daß bei beiden die Aufgabe, die im zweiten Schritt inS.
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Angriff genommen wird, teilweise mißlingt, indem sich der
verdrängte Trieb keinen vollen Ersatz schaffen kann (Neurose)
und die Realitätsvertretung sich nicht in die befriedigenden Formen
umgießen läßt. (Wenigstens nicht bei allen Formen der psychischen
Erkrankungen.) Aber die Akzente sind in den zwei Fällen anders
verteilt. Bei der Psychose ruht der Akzent ganz auf dem ersten
Schritt, der an sich krankhaft ist und nur zu Kranksein führen
kann, bei der Neurose hingegen auf dem zweiten, dem Mißlingen
der Verdrängung, während der erste Schritt gelingen kann und
auch im Rahmen der Gesundheit ungezählte Male gelungen ist,
wenn auch nicht ganz ohne Kosten zu machen und Anzeichen
des erforderten psychischen Aufwandes zu hinterlassen. Diese
Differenzen und vielleicht noch viele andere sind die Folge der
topischen Verschiedenheit in der Ausgangssituation des pathogenen
Konflikts, ob das Ich darin seiner Anhänglichkeit an die reale
Welt oder seiner Abhängigkeit vom Es nachgegeben hat.Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das betreffende
Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das Zusammen-
treffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unterschied zwischen
Neurose und Psychose wird aber dadurch abgeschwächt, daß es
auch bei der Neurose an Versuchen nicht fehlt, die unerwünschte
Realität durch eine wunschgerechtere zu ersetzen. Die Möglichkeit
hiezu gibt die Existenz einer Phantasiewelt, eines Gebiets,
das seinerzeit bei der Einsetzung des Realitätsprinzips von der
realen Außenwelt abgesondert wurde, seither nach Art einer
„Schonung“ von den Anforderungen der Lebensnotwendigkeit
frei gehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich ist, aber
ihm nur lose anhängt. Aus dieser Phantasiewelt entnimmt die
Neurose das Material für ihre Wunschneubildungen und findet
es dort gewöhnlich auf dem Wege der Regression in eine befriedi-
gendere reale Vorzeit.Es ist kaum zweifelhaft, daß die Phantasiewelt bei der Psychose
die nämliche Rolle spielt, daß sie auch hier die VorratskammerS.
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darstellt, aus der der Stoff oder die Muster für den Aufbau der
neuen Realität geholt werden. Aber die neue phantastische Außen-
welt der Psychose will sich an die Stelle der äußeren Realität setzen,
die der Neurose hingegen lehnt sich wie das Kinderspiel gern
an ein Stück der Realität an — ein anderes als das, wogegen sie sich
wehren mußte, — verleiht ihm eine besondere Bedeutung und
einen geheimen Sinn, den wir nicht immer ganz zutreffend
einen symbolischen heißen. So kommt für beide, Neurose
wie Psychose, nicht nur die Frage des Realitätsverlustes,
sondern auch die eines Realitätsersatzes in Betracht.
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