Der Moses des Michelangelo 1914-002/1924.2
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    DER MOSES DES Michelangelo - Von Sigm. Freud

    Diese Arbeit erschien zuerst im Februar 1914
    in \“Imago”, III. Bd., Heft 1, ohne Nennung
    des Verfassers, mit folgender redaktioneller Notiz
    eingeleitet: \“Die Redaktion hat diesem, strenge
    genommen nicht programmgerechten Beitrage die
    Aufnahme nicht versagt, weil der ihr bekannte
    Verfasser analytischen Kreisen nahe steht, und
    weil seine Denkweise immerhin eine gewisse
    Ähnlichkeit mit der Methodik der Psychoanalyse
    zeigt.”
    Ich schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie.
    Ich habe oft bemerkt, daß mich der Inhalt eines Kunstwerkes
    stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften,
    auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Für viele
    Mittel und manche Wirkungen der Kunst fehlt mir eigentlich das
    richtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um mir eine nachsich-
    tige Beurteilung meines Versuches zu sichern.
    Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus, ins-
    besondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien.
    Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegen-
    heiten lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine
    Weise erfassen, d. h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken.
    Wo ich das nicht kann, z. B. in der Musik, bin ich fast genuẞ-
    unfähig. Eine rationalistische oder vielleicht analytische Anlage
    sträubt sich in mir dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei
    nicht wissen solle, warum ich es bin, und was mich ergreift.
    Freud, X.
    17

    "

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    258 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe Tatsache aufmerk—
    sam geworden, daß gerade einige der großartigsten und über—
    wältigendsten Kunstschöpfungen unserem Verständnis dunkel ge—
    blieben sind. Man bewundert sie, man fühlt sich von ihnen be-
    zwungen, aber man weiß nicht zu sagen, was sie vorstellen. Ich
    bin nicht belesen genug, um zu wissen, ob dies schon bemerkt
    werden ist, oder ob nicht ein Ästhetiker gefunden hat, solche
    Ratlosigkeit unseres begreifenden Verstandes sei sogar eine not-
    wendige Bedingung für die höchsten Wirkungen, die ein Kunst-
    werk hervorrufen soll. Ich könnte mich nur schwer entschließen,
    an diese Bedingung zu glauben.

    Nicht etwa daß die Kunstkenner oder Enthusiasten keine Worte
    fänden, wenn sie uns ein solches Kunstwerk anpreisen. Sie haben
    deren genug, sollte ich meinen. Aber vor einer solchen Meister—
    schöpfung des Künstlers sagt in der Regel jeder etwas anderes
    und keiner das, was dem schlichten Bewunderer das Rätsel löst.
    Was uns so mächtig packt, kann nach meiner Auffassung doch
    nur die Absicht des Künstlers sein, insofem es ihm gelungen
    ist, sie in dem Werke auszudrücken und von uns erfassen zu
    lassen. Ich weiß, daß es sich um kein bloß verständnismäßiges
    Erfassen handeln kann; es soll die Affektlage, die psychische Kon-
    stellation, welche beim Künstler die Triebkraft zur Schöpfung
    abgab, bei uns wieder hervorgerufen werden. Aber warum soll
    die Absicht des Künstlers nicht angebbar und in Worte zu fassen
    sein wie irgend eine andere Tatsache des seelischen Lebens? Viel-
    leicht daß dies bei den großen Kunstwerken nicht ohne Anwen—
    dung der Analyse gelingen wird. Das Werk selbst muß doch diese
    Analyse ermöglichen, wenn es der auf uns wirksame Ausdruck
    der Absichten und Regungen des Künstlers ist. Und um diese
    Absicht zu erraten, muß ich doch vorerst den Sinn und Inhalt
    des im Kunstwerk Dargestellten herausfinden, also es deuten
    können. Es ist also möglich, daß ein solches Kunstwerk der Deu—
    tung bedarf, und daß ich erst nach Vollziehung derselben erfahren

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    Der Moses des Michelangelo 259

    kann, warum ich einem so gewaltigen Eindruck unterlegen bin.
    Ich hege selbst die Hoffnung, daß dieser Eindruck keine Ab-
    schwächung erleiden wird, wenn uns eine solche Analyse ge-
    glückt ist.

    Nun denke man an den Hamlet, das über dreihundert Jahre
    alte Meisterstück Shakespeares.‘ Ich verfolge die psychoanalytische
    Literatur und schließe mich der Behauptung an, daß erst die
    Psychoanalyse durch die Zurückführung des Stoffes auf das Ödypus—
    Thema das Rätsel der“ Wirkung dieser Tragödie gelöst hat. Aber
    vorher, welche Uberfülle von verschiedenen, miteinander unver-
    träglichen Deutungsversuchen, welche Auswahl von Meinungen
    über den Charakter des Helden und die Absichten des Dichters!
    Hat Shakespeare unsere Teilnahme für einen Kranken in Anspruch
    genommen oder für einen unzulänglichen Minderwertigen, oder
    für einen Idealisten, der nur zu gut ist für die reale Welt? Und
    wie viele dieser Deutungen lassen uns so kalt, daß sie für die Er—
    klärung der Wirkung der Dichtung nichts leisten können, und
    uns eher darauf verweisen, deren Zauber allein auf den Eindruck
    der Gedanken und den Glanz der Sprache zu begründen! Und
    doch, sprechen nicht gerade diese Bemühungen dafür, daß ein
    Bedürfnis verspürt wird, eine weitere Quelle dieser Wirkung auf—
    zufinden?

    Ein anderes dieser rätselvollen und großartigen Kunstwerke ist
    die Marmorstatue des Moses, in der Kirche von S. Pietro in
    Vincoli zu Rom von Michelangelo aufgestellt, bekanntlich nur ein
    Teilstück jenes riesigen Grabdenkmals, welches der Künstler für
    den gewaltigen Papstherrn Julius II. errichten sollte.2 Ich freue
    mich jedesmal, wenn ich eine Äußerung über diese Gestalt lese
    wie: sie sei „die Krone der modernen Skulptur“ (Heman Grimm).
    Denn ich habe von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung

    ;) Vielleicht 1605 zuerst gespielt.
    2) Nach Henry Thude ist die Statue in den Jahren 15m bis 1516 ausgeführt
    werden.

    17'

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    260 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    erfahren. Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen
    Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem
    die verlassene Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich—
    zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich
    mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraumes ge—
    schlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein
    Auge gerichtet ist, das keine Überzeugung festhalten kann, das
    nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die
    Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat.

    Aber warum nenne ich diese Statue rätselvoll? Es besteht nicht
    der leiseste Zweifel, daß sie Moses darstellt, den Gesetzgeber der
    Juden, der die Tafeln mit den heiligen Geboten hält. Soviel ist
    sicher, aber auch nichts darüber hinaus. Ganz kürzlich erst (1919)
    hat ein Kunstschriftsteller (Max Sauerlandt) den Ausspruch machen
    können: „Über kein Kunstwerk der Welt sind so wider-sprechende
    Urteile gefällt werden wie über diesen panköpfigen Moses. Schon
    die einfache Interpretation der Figur bewegt sich in vollkommenen
    Widersprüchen . . .“ An der Hand. einer Zusammenstellung, die
    nur um fünf Jahre zurückliegt, werde ich darlegen, welche Zweifel
    sich an die Auffassung der Figur des Moses knüpfen, und es wird
    nicht schwer sein zu zeigen, daß hinter ihnen das Wesentliche
    und Beste zum Verständnis dieses Kunstwerkes verhüllt liegt.‘

    I

    Der Moses des Michelangelo ist sitzend dargestellt, den Rumpf
    nach vorne gerichtet, den Kopf mit dem mächtigen Bart und den
    Blick nach links gewendet, den rechten Fuß auf dem Boden
    ruhend, den linken aufgestellt, so daß er nur mit den Zehen den
    Boden berührt, den rechten Arm mit den Tafeln und einem Teil
    des Bartes in Beziehung; der linke Arm ist in den Schoß gelegt.
    Wollte ich eine genauere Beschreibung geben, so müßte ich dem

    1) Henry Thode: Michelangelo, Kritische Untersuchungen über seine Werke,
    I. Bd., 1908.

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    Der Moses des Michelangeh 251

    vorgreifen, was ich später vorzubringen habe. Die Beschreibungen
    der Autoren sind mitunter in merkwürdiger Weise unzutreffend.
    Was nicht verstanden war, wurde auch ungenau wahrgenommen
    oder wiedergegeben. H. Grimm sagt, daß die rechte Hand, „unter
    deren Arme die Gesetzestafeln ruhen, in den Bart greife“. Ebenso
    W. Lübke: „Erschüttert greift er mit der Rechten in den herr—
    lich herabilutenden Bart . . .“; Sp ringer: „Die eine (linke) Hand
    drückt Moses an den Leib, mit der anderen greift er wie unbe-
    wußt in den mächtig wallenden Bart.“ C. Justi findet, daß die
    Finger der (rechten) Hand mit dem Bart spielen., „wie der Zivili—
    sierte Mensch in der Aufregung mit der Uhrkette“. Das Spielen
    mit dem Bart hebt auch Müritz hervor. H. Thode spricht von
    der „ruhig festen Haltung der rechten Hand auf den aufge-
    stemmten Tafe “. Selbst in der rechten Hand erkennt er nicht
    ein Spiel der Aufregung, wie J usti und ähnlich Boito wollen.
    „Die Hand verharrt so, wie sie den Bart greifend, gehalten ward,
    ehe der Titan den Kopf zur Seite wandte.“ Jakob Burkhardt
    stellt aus, „daß der berühmte linke Arm im Grunde nichts an—
    deres zu tun habe, als diesen Bart an den Leib zu drücken“.
    Wenn die Beschreibungen nicht übereinstimmen, werden wir
    uns über die Verschiedenheit in der Auffassung einzelner Züge
    der Statue nicht verwundern. Ich meine zwar, wir können den
    Gesichtsausdruck des Moses nicht besser charakterisieren als Thode,
    der eine „Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung“ aus
    ihm las, „den Zorn in den dräuend zusammengezogenen Augen-
    brauen, den Schmerz in dem Blick der Augen7 die Verachtung
    in der vorgeschobenen Unterlippe und den herabgezogenen Mund—
    winkeln“. Aber andere Bewunderer müssen mit anderen Augen
    gesehen haben. So hatte Dupaty geurteflt: Ce front auguste
    semble n’étre qu’un voile transparent, qui couvre & peine un esprit
    immense.‘ Dagegen meint Lübke: „In dem Kopfe würde man ver-
    gebens den Ausdruck höherer Intelligenz suchen:, nichts als die
    1) Thode, ]. c., p. 197.

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    262 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Fähigkeit eines ungeheuren Zornes, einer alles durchsetzenden
    Energie spricht sich in der zusammengedrängten Stirne aus.“ Noch
    weiter entfernt sich in der Deutung des Gesichtsausdruckes Guil-
    laume (1875), der keine Erregung darin fand, „nur stolze Ein-
    fachheit, beseelte Würde, Energie des Glaubens. Moses’ Blick gehe
    in die Zukunft, er sehe die Dauer seiner Rasse, die Unveränder—
    lichkeit seines Gesetzes voraus“. Ähnlich läßt Müritz „die Blicke
    Moses’ weit über das Menschengeschlecht hinschweifen; sie seien
    auf die Mysterien gerichtet, die er als Einziger gewahrt hat".
    Ja, für Steinmann ist dieser Moses „nicht mehr der starre Ge-
    setzgeber, nicht mehr der fürchterliche Feind der Sünde mit dem
    Jehovazorn, sondern der königliche Priester, welchen das Alter
    nicht berühren darf, der segnend und weissagend, den Abglanz
    der Ewigkeit auf der Stirne, von seinem Volke den letzten Ab-
    schied nimmt“.

    Es hat noch andere gegeben, denen der Moses des Michelangelo
    überhaupt nichts sagte, und die ehrlich genug waren, es zu äußern.
    So ein Rezensent in der „Quarterly Review“ 1858: '„Thßrß is
    an absence of meaning in the general conception, which pre-
    cludes the idea of a self—suffz'cirzg whole...“ Und man ist er-
    staunt zu erfahren, daß noch andere nichts an dem Moses zu
    bewundern fanden, sondern sich auflehnten gegen ihn, die
    Brutalität der Gestalt anklagten und die Tierähnlichkeit des
    Kopfes.

    Hat der Meister wirklich so undeutliche oder zweideutige Schrift
    in den Stein geschrieben, daß so verschiedenartige Lesungen mög-
    lich wurden?

    Es erhebt sich aber eine andere Frage, welcher sich die er—
    wähnten Unsicherheiten leicht unter-ordnen. Hat Michelangelo in
    diesem Moses ein „zeitloses Charakter— und Stimmungsbild“ schaffen
    wollen oder hat er den Helden in einem bestimmten, dann aber
    höchst bedeutsamen Moment seines Lebens dargestellt? Eine Mehr-
    zahl von Beurteilern entscheidet sich für das letztere und weiß

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 265

    auch die Szene aus dem Leben Moses' anzugeben, welche der
    Künstler für die Ewigkeit festgebannt hat. Es handelt sich hier
    um die Herabkunft vom Sinai, woselbst er die Gesetzestafeln von
    Gott in Empfang genom.men hat, und um die Wahrnehmung,
    daß die Juden unterdes ein goldenes Kalb gemacht haben, das sie
    jubelnd umtanzen. Auf dieses Bild ist sein Blick gerichtet, dieser
    Anblick ruft die Empfindungen hervor, die in seinen Mienen aus-
    gedrückt sind und die gewaltige Gestalt alsbald in die heftigste
    Aktion versetzen werden. Michelangelo hat den Moment der letzten
    Zögerung, der Ruhe vor dem Sturm, zur Darstellung gewählt;
    im nächsten wird Moses aufspn'ngen —— der linke Fuß ist schon
    vom Boden abgehoben — die Tafeln zu Boden schmettem und
    seinen Grimm über die Abtrünnigen entladen.

    In Einzelheiten dieser Deutung weichen auch deren Vertreter
    voneinander ab.

    Jak. Burkhardt: „Moses scheint in dem Momente dargestellt,
    da er die Verehrung des goldenen Kalbes erblickt und aufspringen
    will. Es lebt in seiner Gestalt die Vorbereitung zu einer gewal—
    tigen Bewegung, wie man sie von der physischen Macht, mit der
    er ausgestattet ist, nur mit Zittern erwarten mag.“

    W. Lübke: „Als sähen die blitzenden Augen eben den Frevel
    der Verehrung des goldenen Kalbes, so gewaltsam durchzuckt eine
    innere Bewegung die ganze Gestalt. Erschüttert greift er mit der
    Rechten in den herrlich herabflutenden Bart, als wolle er seiner
    Bewegung noch einen Augenblick Herr bleiben, um dann um so
    zerschmetternder loszufahren.“

    Springer schließt sich dieser Ansicht an, nicht ohne ein Be-
    denken vorzutragen, welches weiterhin noch unsere Aufmerksam—
    keit beanspruchen wird: „Durchglüht von Kraft und Eifer kämpft
    der Held nur mühsam die innere Erregung nieder . . . Man denkt
    daher unwillkürlich an eine dramatische Szene und meint, Moses
    sei in dem Augenblick dargestellt, wie er die Verehrung des gol-
    denen Kalbes erblickt und im Zorn aufspringen will. Diese Ver-

  • S.

    264 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    mutung trifft zwar schwerlich die wahre Absicht des Künstlers,
    da ja Moses, wie die übrigen fünf sitzenden Statuen des Ober—
    baues‘ vorwiegend dekorativ wirken sollte; sie darf aber als ein
    glänzendes Zeugnis für die Lehensfülle und das persönliche Wesen
    der Mosesgestalt gelten.“

    Einige Autoren, die sich nicht gerade für die Szene des gol—
    denen Kalbes entscheiden, treffen doch mit dieser Deutung in dem
    wesentlichen Punkte zusammen, daß dieser Moses im Begriffe sei
    aufzuspringen und zur Tat überzugehen.

    Herman Grimm: „Eine Hoheit erfüllt sie (diese Gestalt), ein
    Selbstbewußtsein, ein Gefühl, als stünden diesem Manne die Donner
    des Himmels zu Gebote, doch er bezwänge sich, ehe er sie ent—
    fesselte, erwartend1 ob die Feinde, die er vernichten Will, ihn an—
    zugreifen wagten. Er sitzt da, als wollte er eben aufspringen, das
    Haupt stolz aus den Schultern in die Höhe gerecht. mit der Hand,
    unter deren Arme die Gesetzestafeln ruhen, in den Bart greifend,
    der in schweren Strömen auf die Brust sinkt, mit weit atmenden
    Nüstern und mit einem Munde, auf dessen Lippen die Worte
    zu zittern scheinen.“

    Heath Wilson sagt, Moses’ Aufmerksamkeit sei durch etwas
    erregt, er sei im Begriffe aufzuspringen, doch zögere er noch. Der
    Blick, in dem Entrüstung und Verachtung gemischt seien, könne

    _ sich noch in Mitleid verändern.

    Wölfflin spricht von „gehemmter Bewegung“. Der Hem—
    mungsgrund liegt hier im Willen der Person selbst, es ist der
    letzte Moment des Ansichhaltens vor dem Losbrechen, d. h. vor
    dem Aufspringen.

    Am eingehendsten hat C. Justi die Deutung auf die Wahr-
    nehmung des goldenen Kalbes begründet und sonst nicht heachtete
    Einzelheiten der Statue in Zusammenhang mit dieser Auffassung
    gebracht. Er lenkt unseren Blick auf die in der Tat auffällige
    Stellung der beiden Gesetzestafeln, welche im Begriffe seien, auf

    1) Vom Grabdenkmal des Papstes nämlich.

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 265

    den Steinsitz herabzugleiten: „Er (Moses) könnte also entweder
    in der Richtung des Lärmes schauen mit dern Ausdka böser
    Ahnungen, oder es wäre der Anblick des Gräuels selbst, der ihn
    wie ein betäubender Schlag trifft. Durchbebt von Abscheu und
    Schmerz hat er sich niedergelassen.‘ Er war auf dem Berge vierzig
    Tage und Nächte geblieben, also ermüdet. Das Ungeheure, ein
    großes Schicksal, Verbrechen, selbst ein Glück kann zwar in einem
    Augenblick wahrgenommen, aber nicht gefaßt werden nach Wesen,
    Tiefe, Folgen. Einen Augenblick scheint ihm sein Werk zerstört,
    er verzweifelt an diesem Volke. In solchen Augenblicken verrät
    sich der innere Aufruhr in unwillkürlichen kleinen Bewegungen.
    Er läßt die beiden Tafeln, die er in der Rechten hielt, auf den
    Steinsitz herabrutschen, sie sind über Eck zu stehen gekommen,
    vom Unterarm an die Seite der Brust gedrückt. Die Hand aber
    fährt an Brust und Bart, bei der Wendung des Halses nach
    rechts muß sie den Bart nach der linken Seite ziehen und die
    Symmetrie dieser breiten männlichen Zierde aufheben; es sieht
    aus, als spielten die Finger mit dem Bart, wie der zivilisierte
    Mensch in der Aufregung mit der Uhrkette. Die Linke gräbt
    sich in den Rock am Bauch (im alten Testament sind die Ein-
    geweide Sitz der Afl'ekte). Aber das linke Bein ist bereits zurück-
    gezogen und das rechte vorgesetzt; im nächsten Augenblick
    wird er auffahren, die psychische Kraft von der Empfindung
    auf den Willen überspringen, der rechte Arm sich bewegen,
    die Tafeln werden zu Boden fallen und Ströme Blutes die
    Schmach des Abfalls sühnen . . .“ „Es ist hier noch nicht.
    der Spannungsmoment der Tat. Noch waltet der Seelenschmerz.
    fast lähmend. “

    Ganz ähnlich äußert sich Fritz Knapp, nur daß er die Ein—
    gangssituation dem vorhin geäußerten Bedenken entzieht, auch

    !) Es ist zu bemerken, daß die sorgfältige Anordnung des Mantels um die Beine
    der sitzenden Gestalt dieses erste Stück der Auslegung J ustis unhaltbar macht. Man
    müßte vielmehr annehmen, es sei dargestellt, wie Moses im ruhigen zrwartungslosen
    Dasitzen durch eine plötzliche Wahrnehmung aufgeschreckt werde.

  • S.

    966 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    die angedeutete Bewegung der Tafeln konsequenter weiterführt:
    „Ihn, der soeben noch mit seinem Gotte allein war, lenken irdische
    Geräusche ab. Er hört Lärm, das Geschrei von gesungenen Tanz-
    reigen weckt ihn aus dem Traume. Das Auge, der Kopf wenden
    sich hin zu dem Geräusch. Schrecken, Zorn, die ganze Furie wilder
    Leidenschaften durchfahren im Moment die Riesengestalt. Die
    Gesetzestafeln fangen an herabzugleiten, sie werden zur Erde
    fallen und zer-brechen, wenn die Gestalt auffährt, um die donnem—
    den Zornesworte in die Massen des abtrünnigen Volkes zu schleu-
    dern . . . Dieser Moment höchster Spannung ist gewählt . . .“
    Knapp betont also die Vorbereitung zur Handlung und bestreitet
    die Darstellung der anfänglichen Hemmung infolge der überge-
    waltigen Erregung.

    Wir werden nicht in Abrede stellen, daß Deutungsversuche
    wie die letzterwähnten von Justi und Knapp etwas ungemein
    Ansprechendes haben. Sie verdanken diese Wirkung dem Umstande,
    daß sie nicht bei dem Gesamteindruck der Gestalt stehen bleiben,
    sondern einzelne Charaktere derselben würdigen, welche man sonst,
    von der Allgemeinwirkung überwältigt und gleichsam gel'a'hmt,
    zu beachten versäumt. Die entschiedene Seitenwendung von Kopf
    und Augen der im übrigen nach vorne gerichteten Figur stimmt
    gut zu der Annahme, daß dort etwas erblickt wird, was plötzlich
    die Aufmerksamkeit des Ruhenden auf sich zieht. Der vom Boden
    abgehobene Fuß läßt kaum eine andere Deutung zu, als die einer
    Vorbereitung zum Aufspringen,’ und die ganz sonderbare Haltung
    der Tafeln, die doch etwas hochheiliges sind und nicht wie ein
    beliebiges Beiwerk irgendwie im Raum untergebracht werden
    dürfen, findet ihre gute Aufklärung in der Annahme, sie glitten
    infolge der Erregung ihres Trägers herab und würden dann zu
    Boden fallen. So wüßten wir also, daß diese Statue des Moses
    einen bestimmten bedeutsamen Moment aus dem Leben des

    1) Obwohl der linke Fuß des ruhig sitzenden Giuliano in der Medicikapelle
    ähnlich abgehohen ist.

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 267

    Mannes darstellt, und wären auch nicht in Gefahr, diesen Moment
    zu verkennen. _

    Allein zwei Bemerkungen von Thode entreißen uns wieder,
    was wir schon zu besitzen glaubten. Dieser Beobachter sagt, er
    sehe die Tafeln nicht herabgleiten, sondern „fest verharren“. Er
    konstatiert, „die ruhig feste Haltung der rechten Hand auf den
    aufgestemmten Tafeln“. Blicken wir selbst hin, so müssen wir
    Thode ohne Rückhalt recht geben. Die Tafeln sind festgestth
    und nicht in Gefahr zu gleiten. Die rechte Hand stützt sie oder
    stützt sich auf sie. Dadurch ist ihre Aufstellung zwar nicht er-
    klärt, aber sie wird für die Deutung von J usti und anderen
    unverwendbar.

    Eine zweite Bemerkung trifft noch entscheidender. Thode mahnt
    daran, daß „diese Statue als eine von sechsen gedacht war und
    daß sie sitzend dargestellt ist. Beides widerspricht der Annahme,
    Michelangelo habe einen bestimmten historischen Moment fixieren
    wollen. Denn, was das erste anbetrifft, so schloß die Aufgabe,
    nebeneinander sitzende Figuren als Typen menschlichen Wesens
    (Vita activa! Vita contemplatiua!) zu geben, die Vorstellung ein—
    zelner historischer Vorgänge aus. Und bezüglich des zweiten wider-
    spricht die Darstellung des Sitzens, welche durch die gesamte
    künstlerische Konzeption des Denkmals bedingt war, dem Charakter
    jenes Vorganges, nämlich dem Herabsteigen vom Berge Sinai zu
    dem Lager“.

    Machen wir uns dies Bedenken Thodes zu eigen; ich meine,
    wir werden seine Kraft noch steigern können. Der Moses sollte
    mit fünf (in einem späteren Entwurf drei) anderen Statuen das
    Postament des Grabmals zieren. Sein nächstes Gegenstück hätte
    ein Paulus werden sollen. Zwei der anderen, die Vita activa und
    contemylativa sind als Lea und Rahel an dem heute vorhandenen,
    kläglich verkümmerten Monument ausgeführt werden, allerdings
    stehend. Diese Zugehörigkeit des Moses zu einem Ensemble macht
    die Annahme unmöglich, daß die Figur in dem Beschauer die

  • S.

    968 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    ErWartung erwecken solle, sie werde nun gleich von ihrem Sitze
    aufspringen, etwa davonstünnen und auf eigene Faust Lärm
    schlagen. Wenn die anderen Figuren nicht gerade auch in der
    Vorbereitung zu so heftiger Aktion dargestellt waren, —— was sehr
    unwahrscheinlich ist, — so würde es den übelsten Eindruck
    machen, wenn gerade die eine uns die Illusion geben könnte, sie
    werde ihren Platz und ihre Genossen verlassen, also sich ihrer
    Aufgabe im Gefüge des Denkmals entziehen. Das ergäbe eine
    grobe Inkohärenz, die man dem großen Künstler nicht ohne die
    äußerste Nötigung zumuten dürfte. Eine in solcher Art davon-
    stürmende Figur wäre mit der Stimmung, welche das ganze Grab-
    monument erwecken soll, aufs äußerste unverträglich.

    Also dieser Moses darf nicht aufspringen wollen, er muß in
    hehrer Ruhe verharren können, wie die anderen Figuren, wie
    das beabsichtigte (dann nicht von Michelangelo ausgeführte) Bild
    des Papstes selbst. Dann aber kann der Moses, den wir betrachten,
    nicht die Darstellung des von Zorn erfaßten Mannes sein, der
    vom Sinai herabkommend, sein Volk abtrünnig findet und die
    heiligen Tafeln hinwirft, daß sie zerschmettern. Und wirklich,
    ich weiß mich an meine Enttäuschung zu erinnern, wenn ich
    bei früheren Besuchen in S. Pietro in Vincoli mich vor die Statue
    hinsetzte, in der Erwartung, ich werde nun sehen, wie sie auf
    dem aufgestellten Fuß emporschnellen, wie sie die Tafeln zu Boden
    schleudern und. ihren Zorn entladen werde. Nichts davon geschah;
    anstatt dessen wurde der Stein immer starrer, eine fast erdrückende
    heilige Stille ging von ihm aus, und ich mußte fühlen, hier sei
    etwas dargestellt, was unverändert so bleiben könne, dieser Moses
    werde ewig so dasitzen und so zümen.

    Wenn wir aber die Deutung der Statue mit dem Moment vor
    dem losbrechenden Zorn beim Anblick des Götzenbildes aufgeben
    müssen, so bleibt uns wenig mehr übrig als eine der Auffassungen
    anzunehmen, welche in diesem Moses ein Charakterbild erkennen
    wollen. Am ehesten von Willkür frei und am besten auf die

  • S.

    Der Moser des Michelangelo 269

    Analyse der Bewegungsmotive der Gestalt gestützt erscheint dann
    das Urteil von Thode: „Hier, wie immer, ist es ihm um die
    Gestaltung eines Charaktertypus zu tun. Er schafft das Bild eines
    leidenschaftlichen Führers der Menschheit, der, seiner göttlichen
    gesetzgebenden Aufgabe bewußt, dem unverständigen Widerstand
    der Menschen begegnet; Einen solchen Mann der Tat zu kenn—
    zeichnen, gab es kein anderes Mittel, als die Energie des Willens
    zu verdeutlichen, und dies war möglich durch die Veranschau-
    lichung einer die scheinbare Ruhe durchdringenden Bewegung,
    wie sie in der Wendung des Kopfes, der Anspannung der Mus-
    keln, der Stellung des linken Beines sich äußert. Es sind dieselben
    Erscheinungen wie bei dem vir activus der Medicikapelle Giuliano.
    Diese allgemeine Charakteristik wird weiter vertieft durch die
    Hervorhebung des Konfliktes, in welchen ein solcher die Mensch-
    heit gestaltender Genius zu der Allgemeinheit tritt: die Atlekte
    des Zornes, der Verachtung, des Schmerzes gelangen zu typischem
    Ausdruck. Ohne diesen war das Wesen eines solchen Übermen—
    schen nicht zu verdeutlichen. Nicht ein Historienbild, sondern
    einen Charaktertypus unüberwindlicher Energie, welche die wider—
    strebende Welt händigt, hat Michelangelo geschaffen, die in der
    Bibel gegebenen Züge, die eigenen inneren Erlebnisse, Eindrücke
    der Persönlichkeit Julius”, und wie ich glaube auch solche der
    Savonarolaschen Kampfestätigkeit gestaltend.“

    In die Nähe dieser Ausführungen kann man etwa die Bemer—
    kung von Knackfuß rücken: Das Hauptgeheimnis der Wirkung
    des Moses liege in dem künstlerischen Gegensatz zwischen dem
    inneren Feuer und der äußerlichen Ruhe der Haltung.

    Ich finde nichts in mir, was sich gegen die Erklärung von
    Thode sträuben wurde, aber ich vermisse irgend etwas. Vielleicht,
    daß sich ein Bedürfnis äußert nach einer innigeren Beziehung
    zwischen dem Seelenzustand des Helden und dem in seiner Hal-
    tung ausgedrückten Gegensatz von „scheinharer Ruhe“ und „innerer
    Bewegtheit“.

  • S.

    270 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    II

    Lange bevor ich etwas von der Psychoanalyse hören konnte,
    erfuhr ich, daß ein russischer Kunstkenner, Ivan Lermolieff,
    dessen erste Aufsätze 1874. bis 1876 in deutscher Sprache ver—
    öffentlicht wurden, eine Umwälzung in den Galerien Europas
    hervorgerufen hatte, indem er die Zuteilung vieler Bilder an die
    einzelnen Maler revidierte, Kopien von Originalen mit Sicherheit
    unterscheiden lehrte und aus den von ihren früheren Bezeich-
    nungen frei gewordenen Werken neue Künstlerindividualitäten
    konstruierte. Er brachte dies zustande, indem er vom Gesamt-
    eindruck und von den großen Zügen eines Gemäldes absehen
    hieß und die charakteristische Bedeutung von untergeordneten
    Details hervorhob‚ von solchen Kleinigkeiten wie die Bildung der
    Fingernägel, der 0hrläppchen, des Heiligenscheines und anderer
    unbeachteter Dinge, die der Kopist nachzuahmen vernachlässigt,
    und. die doch jeder Künster in einer ihn kennzeichnenden Weise
    ausführt. Es hat mich dann sehr interessiert zu erfahren, daß sich
    hinter dem russischen Pseudonym ein italienischer Arzt, namens
    Morelli, verborgen hatte. Er ist 1891 als Senator des König—
    reiches Italien gestorben. Ich glaube, sein Verfahren ist mit der
    Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe verwandt. Auch diese
    ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen,
    aus dem Abhub — dem „refuse“ —— der Beobachtung, Geheimes
    und Verborgenes zu erraten.

    An zwei Stellen der Mosesfigur finden sich nun Details, die
    bisher nicht beachtet, ja eigentlich noch nicht richtig beschrieben
    worden sind. Sie betreffen die Haltung der rechten Hand und die
    Stellung der beiden Tafeln. Man darf sagen, daß diese Hand in
    sehr eigentümlicher, gezwungener, Erklärung heischender Weise
    zwischen den Tafeln und dem — Bart des zürnenden Helden
    vermittelt. Es ist gesagt werden, daß sie mit den Fingern im
    Barte wühlt, mit den Strängen desselben spielt, während sie
    sich mit dem Kleinfingerrand auf die Tafeln stützt. Aber dies

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 271

    trth offenbar nicht zu. Es verlohnt sich, sorgfältiger ins Auge
    zu fassen, was die Finger dieser rechten Hand tun, und den
    mächtigen Bart, zu dem sie in Beziehung treten, genau zu be—
    schreiben.‘

    Man sieht dann mit aller Deutlichkeit: Der Daumen dieser
    Hand ist versteckt, der Zeigefinger und dieser allein ist mit dem
    Bart in wirksamer Berührung. Er drückt sich so tief in die wei—
    chen Haarmassen ein, daß sie ober und unter ihm (kopfwärts
    und bauchwärts vom drückenden Finger) über sein Niveau her—
    vorquellen. Die anderen drei Finger stemmen sich, in den kleinen
    Gelenken gebeugt, an die Binstwand, sie werden von der äußer—
    sten rechten Flechte des Bartes, die über sie hinwegsetzt, bloß
    gestreift. Sie haben sich dem Barte sozusagen entzogen. Man kann
    also nicht sagen, die rechte Hand spiele mit dem Bart oder wühle
    in ihm; nichts anderes ist richtig, als daß der eine Zeigefinger
    über einen Teil des Bartes gelegt ist und eine tiefe Rinne in ihm
    hervorruft. Mit einem Finger auf seinen Bart drücken, ist gewiß
    eine sonderbare und schwer verständliche Geste.

    Der viel bewunderte Bart des Moses läuft von Wangen, Ober—
    lippe und Kinn in einer Anzahl von Strängen herab, die man
    noch in ihrem Verlauf voneinander unterscheiden kann. Einer der
    äußersten rechten Haarsträhne, der von der Wange ausgeht, läuft
    auf den oberen Rand des lastenden Zeigefingers zu, von dem er
    aufgehalten wird. Wir können annehmen, er gleitet zwischen
    diesem und dem verdeckten Daumen weiter herab. Der ihm ent—
    sprechende Strang der linken Seite fließt fast ohne Ablenkung
    bis weit auf die Brust herab. Die dicke Haannasse nach innen
    von diesem letzteren Strang, von ihm bis zur Mittellinie reichend,
    hat das auffälligste Schicksal erfahren. Sie kann der Wendung des
    Kopfes nach links nicht folgen, sie ist genötigt, einen sich weich
    aufrollenden Bogen, ein Stück einer Guirlande‚ zu bilden, welche
    die inneren rechten Haarmassen überkreuzt. Sie wird nämlich

    1) Siehe die Beilage.

  • S.

    272 Zur Anwendung der nychaanalysc

    von dem Druck des rechten Zeigefingers festgehalten, obwohl sie
    links von der Mittellinie entsprungen ist und eigentlich den
    Hauptanteil der linken Barth‘a'lfte darstellt. Der Bart erscheint so
    in seiner Hauptmasse nach rechts geworfen, obwohl der Kopf
    scharf nach links gewendet ist. An der Stelle, wo der rechte Zeige-
    finger sich eindrückt, hat sich etwas wie ein Wirbel von Haaren
    gebildet; hier liegen Stränge von links über solchen von rechts,
    beide durch den gewalttätigen Finger komprimiert. Erst jenseits
    von dieser Stelle brechen die von ihrer Richtung abgelenkten
    Haarmassen frei hervor, um nun senkrecht herabzulaufen, bis ihre
    Enden von der im Schoß ruhenden, geöffneten linken Hand auf-
    genommen werden.

    Ich gebe mich keiner Täuschung über die Einsichtlichkeit
    meiner Beschreibung hin und getraue mich keines Urteils dar-
    über, oh uns der Künstler die Auflösung jenes Knotens im Bart
    wirklich leicht gemacht hat. Aber über diesen Zweifel hinweg
    bleibt die Tatsache bestehen, daß der Druck des Zeigefingers der
    rechten Hand hauptsächlich Haarstränge der linken Barthälfte
    betrifft, und daß durch diese übergreifende Einwirkung der Bart
    zurückgehalten wird, die Wendung des Kopfes und Blickes nach
    der linken Seite mitzumachen. Nun darf man fragen, was diese
    Anordnung bedeuten soll und welchen Motiven sie ihr Dasein
    verdankt. Wenn es wirklich Rücksichten der Linienführung und
    Raumausfüllung waren, die den Künstler dazu bewegen haben,
    die herabwallende Bartmasse des nach links schauenden Moses
    nach rechts herüber zu streichen, wie sonderbar ungeeignet er—
    scheint als'Mittel hiefür der Druck des einen Fingers? Und wer,
    der aus irgend einem Grund seinen Bart auf die andere Seite
    gedrängt hat, würde dann darauf verfallen, durch den Druck
    eines Fingers die eine Barthälfte über der anderen zu fixieren?
    Vielleicht aber bedeuten diese im Grunde geringfügigen Züge
    nichts und wir zerbrechen uns den Kopf über Dinge, die dem
    Künstler gleichgültig waren?

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 975

    Setzen wir unter der Voraussetzung fort, daß auch diese Details
    eine Bedeutung haben. Es gibt dann eine Lösung, welche die
    Schwierigkeiten aufhebt und uns einen neuen Sinn ahnen läßt.
    Wenn an der Figur des Moses die linken Bartstränge unter dem
    Druck des rechten Zeigefingers liegen, so läßt sich dies vielleicht
    als der Rest einer Beziehung zwischen der rechten Hand und.
    der linken Barthälfte verstehen, welche in einem früheren M0-
    mente als dem dargestellten eine weit innigere war. Die rechte
    Hand hatte vielleicht den Bart weit energischer angefaßt, war bis
    zum linken Rand desselben vorgedrungen, und als sie sich in die
    Haltung zurückzog, welche wir jetzt an der Statue sehen, folgte
    ihr ein Teil des Bartes nach und legt nun Zeugnis ab von der
    Bewegung, die hier abgelaufen ist. Die Bartguirlande wäre die Spur
    des von dieser Hand zurückgelegten Weges.

    So hätten wir also eine Rückbeweg'ung der rechten Hand er-
    schlossen. Die eine Annahme nötigt uns andere wie unvermeid-
    lich auf. Unsere Phantasie vervollständigt den Vorgang, von dem
    die durch die Bartspur bezeugte Bewegung ein Stück ist, und
    führt uns zwanglos zur Auffassung zurück, welche den ruhenden
    Moses durch den Lärm des Volkes und. den Anblick des goldenen
    Kalbes aufschrecken läßt. Er saß ruhig da, den Kopf mit dem
    herabwallenden Bart nach vorne gerichtet, die Hand hatte wahr-
    scheinlich nichts mit dem Barte zu tun. Da schlägt das Geräusch
    an sein Ohr, er wendet Kopf und Blick nach der Richtung, aus
    der die Störung kommt, erschaut die Szene und versteht sie. Nun
    packen ihn Zorn und Empörung, er möchte aufspringen, die
    Frevler bestrafen, vernichten. Die Wut, die sich von ihrem Ob-
    jekt noch entfernt weiß, richtet sich unterdes als Geste gegen
    den eigenen Leib. Die ungeduldige, zur Tat bereite Hand greift
    nach vorne in den Bart, welcher der Wendung des Kopfes gefolgt
    war, preßt ihn mit eisernem Grifle zwischen Daumen und Hand-
    fläche mit den zusammenschließenden Fingern, eine Gebärde von
    einer Kraft und Heftigkeit, die an andere Darstellungen Michel—

    Freud, X. 18

  • S.

    274. Zur Anwendung der Psychoanalyse

    angelos erinnern mag. Dann aber tritt, wir wissen noch nicht
    wie und warum, eine Änderung ein, die vorgestreckte, in den
    Bart versenkte Hand wird eilig zurückgezogen, ihr Griff gibt den
    Bart frei, die Finger lösen sich von ihm, aber so tief waren sie
    in ihn eingegraben, daß sie bei ihrem Rückzug einen mächtigen
    Strang von der linken Seite nach rechts herüberziehen, wo er
    unter dem Druck des einen, längsten und obersten Fingers die
    rechten Bartflechten überlagern muß. Und diese neue Stellung,
    die nur durch die Ableitung aus der ihr vorhergehenden ver—
    ständlich ist, wird jetzt festgehalten.

    Es ist Zeit, uns zu besinnen. Wir haben angenommen, daß die
    rechte Hand zuerst außerhalb des Bartes war, daß sie sich dann
    in einem Moment hoher Affektspannung nach links herüberstreckte,
    um den Bart zu packen, und daß sie endlich wieder zurückfuhr,
    wobei sie einen Teil des Bartes mitnahm. Wir haben mit dieser
    rechten Hand geschaltet, als ob wir frei über sie verfügen dürften.
    Aber dürfen wir dies? Ist diese Hand denn frei? Hat sie nicht
    die heiligen Tafeln zu halten oder zu tragen, sind ihr solche mi—
    mische Exkursionen nicht durch ihre wichtige Aufgabe untersagt?
    Und weiter, was soll sie zu der Rückbewegung veranlassen, wenn
    sie einem starken Motiv gefolgt war, um ihre anfängliche Lage
    zu verlassen?

    Das sind nun wirklich neue Schwierigkeiten. Allerdings gehört
    die rechte Hand zu den Tafeln. Wir können hier auch nicht in
    Abrede stellen, daß uns ein Motiv fehlt, welches die rechte Hand
    zu dem erschlossenen Rückzug veranlassen könnte. Aber wie wäre
    es, wenn sich beide Schwierigkeiten miteinander lösen ließen und
    erst dann einen ohne Lücke verständlichen Vorgang ergeben
    würden? Wenn gerade etwas, was an den Tafeln geschieht, uns
    die Bewegungen der Hand aufklärte?

    An diesen Tafeln ist einiges zu bemerken, was bisher der Be-
    obachtung nicht wert gefunden wurde.‘ Man sagte: Die Hand

    1) Siehe das Detail Figur D.

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 9,7 5

    stützt sich auf die Tafeln oder: die Hand stützt die Tafeln. Man
    sieht auch ohneweiters die beiden rechteckigen, an'einander gelegten
    Tafeln auf der Kante stehen. Schaut man näher zu, so' findet man,
    daß der untere Rand der Tafeln anders gebildet ist als der obere,
    schräg nach vorne geneigte. Dieser obere ist geradlinig begrenzt,
    der untere aber zeigt in seinem vordern Anteil einen Vorsprung
    wie ein Horn, und gerade mit diesem Vorsprung berühren die
    Tafeln den Steinsitz. Was kann die Bedeutung dieses Details sein,
    welches übrigens an einem großen Gipsabguß in der Sammlung
    der Wiener Akademie der bildenden Künste ganz unrichtig wieder-
    gegeben ist? Es ist kaum zweifelhan daß dieses Horn den der
    Schrift nach oberen Rand der Tafeln auszeichnen soll. Nur der
    obere Rand solcher rechteckigen Tafeln pflegt abgerundet oder
    ausgeschweift zu sein. Die Tafeln stehen also hier auf dem Kopf.
    Das ist nun eine sonderbare Behandlung so heiliger Gegenstände.
    Sie sind auf den Kopf gestth und werden fast auf einer Spitze
    balanciert. Welches formale Moment kann bei dieser Gestaltung
    mitwirken? Oder soll auch diese; Detail dem Künstler gleichgültig
    gewesen sein?

    Da stellt sich nun die Auffassung ein, daß auch die Tafeln
    durch eine abgelaufene Bewegung in diese Position gekommen
    sind. daß diese Bewegung abhängig war von der erschlossenen
    Ortsveränderung der rechten Hand, und daß sie dann ihrerseits
    diese Hand zu ihrer späteren Rückbewegung gezwungen hat. Die
    Vorgänge an der Hand und die an den Tafelri setzeh'sich zu
    folgender Einheit zusamrhen: Anfänglich, als die Gestalt in Ruhe
    dasaß, trug sie die Tafeln aufrecht unter dem rechten Arm. Die
    rechte Hand faßte deren untere Ränder und fand dabei eine
    Stütze an dem nach vom gerichteten Vorsprung. Diese Erleichte-
    rung des Tragens erklärt ohneweiters, warum die Tafeln umge-
    kehrt gehalten waren. Dann kam der Moment, in dem die Ruhe
    durch das Geräusch gestört wurde. Moses wendete den Kopf hin,
    und als er die Szene erschaut hatte, machte sich der Fuß zum

    18'

  • S.

    276 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Aufspringen bereit, die Hand ließ ihren Grifl' an den Tafeln los
    und fuhr nach links und oben in den Bart, wie um ihr Unge—
    stüm am eigenen Leibe zu betätigen. Die Tafeln waren nun dem
    Druck des Armes anvertraut, der sie an die Brustwand pressen
    sollte. Aber diese Fixierung reichte nicht aus, sie begannen nach
    vorn und] unten zu gleiten, der früher horizontal gehaltene obere

    Fig. D Fig. 1

    Band richtete sich nach vorn und abwärts, der seiner Stütze be—
    raubte untere Rand näherte sich mit seiner vorderen Spitze dem
    Steinsitz. Einen Augenblick weiter und die Tafeln hätten sich um
    den neu gefundenen Stützpunkt drehen müssen, mit dem früher
    oberen Rande zuerst den Boden erreichen und an ihm zerschellen.
    Um dies zu verhüten, fährt die rechte Hand zurück, und ent?
    läßt den Bart, von dem ein Teil ohne Absicht mitgezogen wird,
    erreicht noch den Rand der Tafeln und stützt sie nahe ihrer
    hinteren, jetzt zur obersten gewordenen Ecke. So leitet sich das

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 277

    sonderbar gezwungen scheinende Ensemble von Bart, Hand und
    auf die Spitze gestelltem Tafelpaar aus der einen leidenschaft—
    lichen Bewegung der Hand und deren gut begründeten Folgen
    ab. Will man die Spuren des abgelaufenen Bewegungssmrmes
    rückgängig machen, so muß man die vordere obere Ecke der
    Tafeln heben und in die Bildebene zurückschieben, damit die

    Fig. 5

    vordere untere Ecke (mit dem Vorsprung) vom Steinsitz entfernen,
    die Hand senken und sie unter den nun horizontal stehenden
    unteren Tafelrand führen.

    Ich habe mir von Künstlerhand drei Zeichnungen machen
    lassen, welche meine Beschreibung verdeutlichen sollen. Die dritte
    derselben gibt die Statue wieder, wie wir sie sehen; die beiden
    anderen stellen die Vorstadien dar, welche meine Deutung postu—
    liert, die erste das der Ruhe, die zweite das der höchsten Span—
    nung, der Bereitschaft zum Aufspringen, der Abwendung der Hand

  • S.

    278 Zur Anwendung der Psythoanalyse

    von den Tafeln und des beginnenden Herabgleitens derselben. Es
    ist nun bemerkenswert, wie die beiden von meinem Zeichner
    ergänzten Darstellungen die unzutreffenden Beschreibungen früherer
    Autoren zu Ehren bringen. Ein Zeitgenosse Michelangelos,
    Condivi, sagte: „Moses, der Herzog und Kapitän der Hebräer,
    sitzt in der Stellung eines sinnenden Weisen, hält unter dem
    rechten Arm die Gesetzestafeln und stützt mit der linken
    Handdas Kinn (!), wie einer, der müde und voll von Sorgen.“
    Das ist nun an der Statue Michelangelos nicht zu sehen, aber
    es deckt sich fast mit der Annahme, welche der ersten Zeichnung
    zugrunde liegt. W. Lübke hatte wie andere Beobachter geschrieben:
    „Erschüttert greift er mit der Rechten in den herrlich herab-
    flutenden Bart . . .“ Das ist nun unrichtig, wenn man es auf die
    Abbildung der Statue bezieht, trifft aber für unsere zweite Zeich-
    nung zu. J usti und Knapp haben, wie erwähnt, gesehen, daß die
    Tafeln im Herabgleiten sind und in der Gefahr schweben, zu
    zerbrechen. Sie mußten sich von Thode berichtigen lassen, daß
    die Tafeln durch die rechte Hand sicher fixiert seien, aber sie
    hätten recht, wenn sie nicht die Statue, sondern unser mittleres
    Stadium beschreiben würden. Man könnte fast meinen, diese Au-
    toren hätten sich von dem Gesichtsbild der Statue frei gemacht
    und hätten unwissentlich eine Analyse der Bewegungsmotive der-
    selben begonnen, durch welche sie zu denselben Anforderungen
    geführt wurden, wie wir sie bewußter und ausdrücklicher auf-
    gestellt haben.
    111

    Wenn ich nicht irre, wird es uns jetzt gestattet sein, die Früchte
    unserer Bemühung zu ernten. Wir haben gehört, wie vielen, die
    unter dem Eindruck der Statue standen, sich die Deutung auf-
    gedrängt hat, sie stelle Moses der unter der Einwirkung des An-
    hlicks, daß sein Volk abgefallen sei und um ein Götzenbild tanze.
    Aber diese Deutung mußte aufgegeben werden, denn sie fand
    ihre Fortsetzung in der Erwartung, er werde im nächsten Mo—

  • S.

    Der Moses des Mühelangelo 279

    ment aufspringen, die Tafeln zertrümmern und das Werk der
    Rache vollbringen. Dies widersprach aber der Bestimmung der
    Statue als Teilstück des Grabdenkmals Julius II. neben drei oder
    fünf anderen sitzenden Figuren. Wir dürfen nun diese verlassene
    Deutung wieder aufnehmen, denn unser Moses wird nicht auf—
    springen und die Tafeln nicht von sich schleudern. Was wir an
    ihm sehen, ist nicht die Einleitung zu einer gewaltsamen Aktion,
    sondern der Rest einer abgelaufenen Bewegung. Er wollte es in
    einem Anfall von Zorn, aufspringen, Rache nehmen, an die Tafeln
    vergessen, aber er hat die Versuchung überwunden, er wird jetzt
    so sitzen bleiben in gebändigter Wut, in mit Verachtung ge-
    mischtem Schmerz. Er wird auch die Tafeln nicht wegwerfen,
    daß sie am Stein zerschellen, denn gerade ihretwegen hat er
    seinen Zorn bezwungen, zu ihrer Rettung seine Leidenschaft
    beherrscht. Als er sich seiner leidenschaftlichen Empörung über
    ließ, mußte er die Tafeln vernachlässigen, die Hand, die sie
    trug, von ihnen abziehen. Da begannen sie herabzugleiten, ge—
    rieten in Gefahr zu zerbrechen. Das mahnte ihn. Er gedachte
    seiner Mission und verzichtete für sie auf die Befriedigung seines
    Affekts. Seine Hand fuhr zurück und. rettete die sinkenden Tafeln,
    noch ehe sie fallen konnten. In dieser Stellung blieb er ver—
    harrend, und so hat ihn Michelangelo als Wächter des Grab-
    mals dargestellt.

    Eine dreifache Schichtung drückt sich in seiner Figur in verti—
    kaler Richtung aus. In den Mienen des Gesichts spiegeln sich die
    Affekte, welche die herrschenden geworden sind, in der Mitte der
    Figur sind die Zeichen der unterdrückten Bewegung sichtbar, der
    Fuß zeigt noch die Stellung der beabsichtigten Aktion, als wäre
    die Beherrschung von. oben nach unten vorgeschritten. Der linke
    Arm, von dem noch nicht die Rede war, scheint seinen Anteil
    an unserer Deutung zu fordern. Seine Hand ist mit weicher
    Gebärde in den Schoß gelegt und umfängt wie liebkosend die
    letzten Enden des herabfallenden Bartes. Es macht den Eindruck,

  • S.

    280 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    als wollte sie die Gewaltsamkeit aufheben, mit der einen Moment
    vorher die andere Hand den Bart mißhandelt hatte.

    Nun wird man uns aber entgegenhalten: Das ist also doch nicht
    der Moses der Bibel, der wirklich in Zorn geriet und die Tafeln
    hinwarf, daß sie zerbrachen. Das wäre ein ganz anderer Moses
    von der Empfindung des Künstlers, der sich dabei herausgenommen
    hätte, den heiligen Text zu emendieren und den Charakter des
    göttlichen Mannes zu verfälschen. Dürfen wir Michelangelo
    diese Freiheit minuten, die vielleicht nicht weit von einem Frevel
    am Heiligen liegt?

    Die Stelle der Heiligen Schrift, in welcher das Benehmen Moses’
    bei der Szene des goldenen Kalbes berichtet wird, lautet folgen-
    dermaßen (ich bitte um Verzeihung, daß ich mich in anachro-
    nistischer Weise der Übersetzung Luthers bediene):

    (II. B. Kap. 52.) „7) Der Herr sprach aber zu Mose: Geh’,
    Steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt
    hast, hat’s verderbt. 8) Sie sind schnell von dem Wege getreten,
    den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossen Kalb
    gemacht, und haben’s angebetet, und ihm geopfert, und gesagt:
    Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland gefühlt
    haben. 9) Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, daß es ein
    halsstarrig Volk ist. 10) Und nun laß mich, daß mein Zorn über
    sie ergrimme, und sie vertilge; so will ich dich zum großen Volk
    machen. 11) Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott und
    sprach: Ach, Herr, warum will dein Zorn ergrimrnen über dein
    Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand hast aus Ägypten—
    ]and geführt? . . .

    . 14.) Also gereuete dem Herrn das Übel, das er dräuete
    seinem Volk zu tun. 15) Moses wandte sich, und stieg vom Berge,
    und hatte zwo Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand, die waren
    geschrieben auf beiden Seiten. 16) Und Gott hatte sie selbst
    gemacht, und selber die Schrift drein gegraben. 17) Da nun Josua
    hörte des Volkes Geschrei‚ daß sie jauchzeten, sprach er zu Mose:

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 281

    Es ist ein Geschmi im Lager wie im Streit. 18) Er antwortete:
    Es ist nicht ein Geschrei gegeneinander derer die obsiegen und
    unterliegen, sondern ich höre ein Geschrei eines Siegestanzes.
    19) Als er aber nahe zum Lager kam, und das Kalb und den
    Reigen sah, ergrimmte er mit Zorn, und warf die Tafeln aus
    seiner Hand, und zerbrach sie unten am Berge; 20) und nahm
    das Kalb, das sie gemacht hatten, und zerschmelzte es mit Feuer,
    und zermalmte es mit Pulver, und stäubte es aufs Wasser, und
    gab’s den Kindern Israels zu trinken; . . .

    50) Des Morgens sprach Mose zum Volk: Ihr habt eine
    große Sünde getan.; nun will ich hinaufsteigen zu dem Herrn,
    ob ich vielleicht eure Sünde versöhnen möge. 51) Als nun Mose
    wieder zum Herrn kam, sprach er: Ach, das Volk hat eine große
    Sünde getan, und haben sich güldene Götter gemacht. 59) Nun
    vergib ihnen ihre Sünde; wo nicht, so tilge mich auch aus deinem
    Buch, das du geschrieben hast. 55) Der Herr sprach zu Mose:
    Was? Ich will den aus meinem Buch tilgen, der an mir sündiget.
    54.) So gehe nun hin und führe das Volk, dahin ich dir gesagt
    habe. Siehe, mein Engel soll vor dir hergehen. Ich werde ihre
    Sünde wohl heimsuchen, wenn meine Zeit kommt heimzusuchen.
    55) Also strafte der Herr das Volk, daß sie das Kalb hatten ge-
    macht, welches Aaron gemacht hatte.“

    Unter dem Einfluß der modernen Bibelkritik wird % uns un-
    möglich, diese Stelle zu lesen, ohne in ihr die Anzeichen unge-
    schickter Zusammensetzung aus mehreren Quellberichten zu finden.
    In Vers 8 teilt der Herr selbst Moses mit, daß das Volk abge-
    fallen sei und sich ein Götzenbild gemacht habe. Moses bittet für
    die Sünder. Doch benimmt er sich in Vers 18 gegen Josua, als
    wüßte er es nicht, und wallt im plötzlichen Zorn auf (Vers 19),
    wie er die Szene des Götzendienstes erblickt. In Vers 14. hat er
    die Verzeihung Gottes für sein sündiges Volk bereits erlangt, doch
    begibt er sich Vers 51 &. wieder auf den Berg, um diese Ver-
    zeihung zu erfiehen, berichtet dem Herrn von dem Abfall des

  • S.

    282 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Volkes und erhält die Versicherung des Strafaufschubes. Vers 55
    bezieht sich auf eine Bestrafung des Volkes durch Gott, von der
    nichts mitgeteilt wird, während in den Versen zwischen 20 und 50
    das Strafgericht, das Moses selbst vollzogen hat, geschildert wurde.
    Es ist bekannt, daß die historischen Partien des Buches, welches
    vom Auszug handelt, von noch auffälligeren Inkongruenzen und
    Widersprüchen durchsetzt sind.

    Für die Menschen der Renaissance gab es solche kritische Ein-
    stellung zum Bibeltexte natürlich nicht, sie mußten den Bericht
    als einen zusammenhängenden auffassen und fanden dann wohl,
    daß er der darstellenden Kunst keine gute Anknüpfung bot. Der
    Moses der Bibelstelle war von dem Götzendienst des Volkes bereits
    unterrichtet worden, hatte sich auf die Seite der Milde und Ver-
    zeihung gestellt und erlag dann doch einem plötzlichen Wutanfall,
    als er des goldenen Kalbes und der tanzenden Menge ansichtig
    wurde. Es wäre also nicht zu verwundern, wenn der Künstler,
    der die Reaktion des Helden auf diese schmerzliche Überraschung
    darstellen wollte, sich aus inneren Motiven von dem Bibeltext
    unabhängig gemacht hätte. Auch war solche Abweichung vom
    Wortlaut der Heiligen Schriffaus geringeren Motiven keineswegs
    ungewöhnlich oder dem Künstler versagt. Ein berühmtes Gemälde
    des Parmigiano in seiner Vaterstadt zeigt uns den Moses, wie
    er auf der Höhe eines Berges sitzend die Tafeln zu Boden schleu-
    dert, obwohl der Bibelvers ausdrücklich besagt: er zerbrach sie
    am Fuße des Berges. Schon die Darstellung eines sitzenden Moses
    findet keinen Anhalt am Biheltext und scheint eher jenen Beur-
    teilern recht zu geben, welche annahmen, daß die Statue Michel-
    angelos kein bestimmtes Moment aus dem Leben des Helden
    festzuhalten beabsichtigte.

    Wichtiger als die Untreue gegen den heiligen Text ist wohl
    die Umwandlung, die Michelangelo nach unserer Deutung mit
    dem Charakter des Moses vorgenommen hat. Der Mann Moses
    war nach den Zeugnissen der Tradition jähzornig und Aufwallungen

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 285

    von Leidenschaft unterworfen. In einem solchen Anfalle von hei-
    ligem Zorne hatte er den Ägypter erschlagen, der einen Israeliten
    mißhandelte, und mußte deshalb aus dem Lande in die Wüste
    fliehen. In einem ähnlichen Affektausbruch zerschmetterte er die
    beiden Tafeln, die Gott selbst beschrieben hatte. Wenn die Tra—
    dition solche Charakterzüge berichtet, ist sie wohl tendenzlos und
    hat den Eindruck einer großen Persönlichkeit, die einmal gelebt
    hat, erhalten. Aber Michelangelo hat an das Grabdenkmal des
    Papstes einen anderen Moses hingesetzt, welcher dem historischen
    oder traditionellen Moses überlegen ist. Er hat, das Motiv der
    zerbrochenen Gesetzestafeln umgearbeitet, er läßt sie nicht durch
    den Zorn Moses’ zerbrechen, sondern diesen Zorn durch die
    Drohung, daß sie zerbrechen könnten, beschwichtigen oder wenig—
    stens auf dem Wege zur Handlung hentmen. Damit hat er etwas
    Neues, Übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die
    gewaltige Körperrnasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt
    wird nur zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychi-
    sche Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Nieder—
    ringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer
    Bestimmung, der man sich geweiht hat.

    Hier darf die Deutung der Statue Michelangelos ihr Ende
    erreichen. Man kann noch die Frage aufwerfen, welche Motive
    in dem Künstler tätig waren, als er den Moses, und zwar einen
    so umgewandelten Moses, für das Grabdenkmal des Papstes Julius H.
    bestimmte. Von vielen Seiten wurde übereinstimmend darauf hin-
    gewiesen, daß diese Motive in dem Charakter des Papstes und im
    Verhältnis des Künstlers zu ihm zu suchen seien. Julius II. war
    Michelangelo darin verwandt, daß er Großes und Gewaltiges
    zu verwirklichen suchte, vor allem das Große der Dimension. Er
    war ein Mann der Tat, sein Ziel war angebe‚ er strebte nach
    der Einigung Italiens unter der Herrschaft des Papsttums. Was
    erst mehrere Jahrhunderte später einem Zusammenwirken von
    anderen Mächten gelingen sollte, das wollte er allein erreichen,

  • S.

    284. Zur Anwendung der Psychoanalyse

    ein Einzelner in der kurzen Spanne Zeit und Herrschaft, die ihm
    gegönnt war, ungeduldig mit gewalttätigen Mitteln. Er wußte
    Michelangelo als seinesgleichen zu schätzen, aber er ließ ihn
    oft leiden unter seinem Jähzorn und seiner Bücksichtslosigkeit.
    Der Künstler war sich der gleichen Heftigkeit des Strebens be—
    wußt und mag als tiefer blickender Grübler die Erfolglosigkeit
    geahnt haben, zu der sie beide verurteilt waren. So brachte er
    seinen Moses an dem Denkmal des Papstes an, nicht ohne Vor-
    wurf gegen den Verstorbenen, zur Mahnung für sich selbst, sich
    mit dieser Kritik über die eigene Natur erhebend.

    IV

    Im Jahre 1865 hat ein Engländer W. Watkiss Lloyd dem
    Moses von Michelangelo ein kleines Büchlein gewidmet.‘ Als
    es mir gelang, dieser Schrift von 4.6 Seiten habhaft zu werden,
    nahm ich ihren Inhalt mit gemischten Empfindungen zur Kenntnis.
    Es war eine Gelegenheit, wieder an der eigenen Person zu er-
    fahren, was für unwürdige infantile Motive zu unserer Arbeit
    im Dienste einer großen Sache beizutragen pflegen. Ich bedauerte,
    daß Lloyd so vieles vorweg genommen hatte, was mir als Ergebnis
    meiner eigenen Bemühung wertvoll war, und. erst in zweiter Instanz
    konnte ich mich über die unerwartete Bestätigung freuen. An einem
    entscheidenden Punkte trennen sich allerdings unsere Wege.

    Lloyd hat zuerst bemerkt, daß die gewöhnlichen Beschrei—
    bungen der Figur unrichtig sind, daß Moses nicht im Begriffe
    ist, aufzustehen,2 daß die rechte Hand nicht in den Bart greift,
    daß nur deren Zeigefinger noch auf dem Barte ruht? Er hat auch,

    :) W. Watkiss Lloyd, The Moses of Michelangelo. London, Williams und
    Norgate, 1865.

    z) But he is run rising ar prqmring to rin; th: bus: is fully upn'ght, run thrown for-
    ward for the alnmtion of balance przparazory far such :: mautl'lllnt . . . (p. 10).

    5) Such a description i: altagzthzr erronmus ; the fi'llns of the hard m dtmirud lgy the
    right hand, but thzy are not h4ld, nor graspzd, erwloscd nr taken hold of. They are zum
    dnairwd but momentarily —— momentan'ly mgagcd, the] are on the point of being fm far
    dismgagernm: (p. u).

  • S.

    Der Moses des Michelangelo 285

    was weit mehr besagen will, eingesehen, daß die dargestellte
    Haltung der Gestalt nur durch die Rückbeziehung auf einen
    früheren, nicht dargestellten, Moment aufgeklärt werden kann,
    und daß das Herüherziehen der linken Bartstränge nach rechts
    andeuten solle, die rechte Hand und die linke Hälfte des Bartes
    seien vorher in inm'ger, natürlich vermittelter Beziehung gewesen.
    Aber er schlägt einen anderen Weg ein, um diese mit Notwen—
    digkeit erschlossene Nachbarschaft wieder herzustellen, er läßt
    nicht die Hand in den Bart gefahren, sondern den Bart bei der
    Hand gewesen sein. Er erklärt, man müsse sich vorstellen, „der
    Kopf der Statue sei einen Moment vor der plötzlichen Störung
    voll nach rechts gewendet gewesen über der Hand, welche da-
    mals wie jetzt die Gesetztafeln hält“. Der Druck auf die Hohl—
    hand (durch die Tafeln) läßt deren Finger sich natürlich unter
    den herabwallenden Locken öffnen, und die plötzliche Wendung
    des Kopfes nach der anderen Seite hat zur Folge, daß ein Teil
    der Haarstränge für einen Augenblick von der nicht bewegten
    Hand zurückgehalten wird und jene Haarguirlande bildet, die als
    Wegspur („wake“) verstanden werden soll.

    Von der anderen Möglichkeit einer früheren Annäherung von
    rechter Hand und linker Barthälfte läßt sich Lloyd durch eine
    Erwägung zurückhalten, welche beweist, wie nahe er an unserer
    Deutung vorbeigegangen ist. Es sei nicht möglich, daß der Pro-
    phet, selbst nicht in höchster Erregung, die Hand vorgestreckt
    haben könne, um seinen Bart so beiseite zu ziehen. In dem
    Falle wäre die Haltung der Finger eine ganz andere geworden,
    und überdies hätten infolge dieser Bewegung die Tafeln herab—
    fallen müssen, welche nur vom Druck der rechten Hand gehalten
    werden, es sei denn, man mute der Gestalt, um die Tafeln
    auch dann noch zu erhalten, eine sehr ungeschickte Bewegung
    zu, deren Vorstellung eigentlich eine Entwürdigung enthalte.

    ( „ Unless clutched by a gesture so awkward, that to imagine it is
    profanation. “)

  • S.

    285 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Es ist leicht zu sehen, worin die Versäumnis des Autors liegt.
    Er hat die Auffälligkeiten des Bartes richtig als Anzeichen einer
    abgelaufenen Bewegung gedeutet, es aber dann unterlassen, den-
    selben Schluß auf die nicht weniger gezwungenen Einzelheiten
    in der Stellung der Tafeln anzuwenden. Er verwertet nur die
    Anzeichen vom Bart, nicht auch die von den Tafeln, deren Stel—
    lung er als die ursprüngliche hinnimmt„ So verlegt er sich den
    Weg zu einer Auffassung wie die unsrige, welche durch die Wer—
    tung gewisser unscheinbarer Details zu einer überraschenden Deu—
    tung der ganzen Figur und ihrer Absichten gelangt.

    Wie nun aber, wenn wir uns beide auf einem Irrwege be—
    fa'nden? Wenn wir Einzelheiten schwer und bedeutungsvoll auf—
    nehmen würden, die dem Künstler gleichgültig waren, die er
    rein willkürlich Oder auf gewisse formale Anlässe hin nur eben
    so gestaltet hätte, wie sie sind, ohne etwas Geheimes in sie hinein—
    zulegen? Wenn wir dem Los so vieler Interpreten verfallen wären,
    die deutlich zu sehen glauben, was der Künstler weder bewußt
    noch unhewußt schaffen geWollt hat? Darüber kann ich nicht
    entscheiden. Ich weiß nicht zu sagen, ob es angeht, einem Künstler
    wie Michelangelo, in dessen Werken soviel Gedankeninhalt nach
    Ausdruck ringt, eine Solche naive Unhestimmtheit zuzutrauen, und
    ob dies gerade für die auffälligen und sonderbaren Züge der
    Mosesstatüe annehmbar ist. Endlich darf man noch in aller
    Schüchtemheit hinzufügen, daß sich in die Verschuldung dieser
    Unsicherheit der Künstler mit dem Interpreten zu teilen habe.
    Michelangelo ist oft genug in seinen Schöpfungen bis an die
    äußerste Grenze dessen, was die Kunst ausdrücken kann, gegangen;
    vielleicht ist es ihm auch beim Moses nicht völlig geglückt, wenn
    es seine Absicht war, den Sturm heftiger Erregung aus den An-
    zeichen erraten zu lassen, die nach seinem Ablauf in der Ruhe

    zurückblieben.