Geleitwort zu DIE PSYCHANALYTISCHE METHODE, eine erfahrungs-wissenschaftlich-systematische Darstellung 1913-061/1928
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    GELEITWORT

    zu DIE PSYCHOANALYTISCHE METHODE, eine erfahrungs-
    wissenschaftlich-systematische Darstellung von Dr. OSKAR PFISTER,
    Pfarrer und Seminarlehrer in Zürich (Pädagogum), herausgegeben
    von Prof. Dr. Oskar Messmer, Band I. Julius Klinkhardt Verlag, Leipzig 1913.
    (Unveränderter Neudruck 1921, dritte, umgearbeitete Auflage 1924.)

    Die Psychoanalyse ist auf medizinischem Boden entstanden als ein Heil-
    verfahren zur Behandlung gewisser nervöser Erkrankungen, die man „Funk-
    tionelle“ geheißen hat, und in denen man mit stetig wachsender Sicherheit
    Erfolge von Störungen des Affektlebens erkannte. Sie erreicht ihre Absicht,
    die Äußerungen solcher Störungen, die Symptome aufzuheben, indem sie
    voraussezt, dieselben seien nicht die einzig möglichen und endgültigen
    Ausgänge gewisser psychischer Prozesse, darum die Entwicklungsgeschichte
    dieser Symptome in der Erinnerung aufdeckt, die ihnen zugrunde liegenden
    Prozesse auffrischt und sie nun unter ärztlicher Leitung einem günstigeren
    Ausgang zuführt. Die Psychoanalyse hat sich dieselben therapeutischen Ziele
    gesetzt wie die hypnotische Behandlung, die sich, von Liébault und Bern-
    heim eingeführt, nach langen und schweren Kämpfen einen Platz in der
    nervenärztlichen Technik erworben hatte. Aber sie geht weit tiefer auf die
    Struktur des seelischen Mechanismus ein und sucht dauernde Beeinflussun-
    gen und haltbare Veränderungen ihrer Objekte zu erreichen.

    Die hypnotische Suggestionsbehandlung hat seinerzeit sehr bald das ärzt-
    liche Anwendungsgebiet überschritten und sich in den Dienst der Erziehung
    jugendlicher Personen gestellt. Wenn wir den Berichten Glauben schenken
    dürfen, hat sie sich als wirksames Mittel erwiesen zur Beseitigung von
    Kinderfehlern, störenden körperlichen Gewöhnungen und sonst unreduzier-
    baren Charakterzügen. Niemand nahm damals Anstoß daran oder verwunderte


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    sich über diese Erweiterung ihrer Brauchbarkeit, die uns allerdings erst
    durch die psychoanalytische Forschung voll verständlich geworden ist. Denn
    heute wissen wir, daß die krankhaften Symptome oft nichts anderes sind
    als die Ersatzbildungen für schlechte, d. i. unbrauchbare Neigungen, und
    daß die Bedingungen dieser Symptome in den Kindheits- und Jugendjahren
    konstituiert werden, – zu denselben Zeiten, in welchen der Mensch Objekt
    der Erziehung ist, – mögen nun die Krankheiten selbst noch in der Jugend
    hervortreten oder erst in einer späteren Lebenszeit.

    Erziehung und Therapie treten nun in ein angebbares Verhältnis zu-
    einander. Die Erziehung will dafür sorgen, daß aus gewissen Anlagen und
    Neigungen des Kindes nichts dem Einzelnen wie der Gesellschaft Schädliches
    hervorgehe. Die Therapie tritt in Wirksamkeit, wenn dieselben Anlagen
    bereits das unerwünschte Ergebnis der Krankheitssymptome geliefert haben.
    Der andere Ausgang, nämlich, daß die unbrauchbaren Dispositionen des
    Kindes nicht zu den Ersatzbildungen der Symptome, sondern zu direkten
    Charakterperversionen geführt haben, ist für die Therapie fast unzugänglich
    und der Beeinflussung durch den Erzieher meist entzogen. Die Erziehung
    ist eine Prophylaxe, welche beiden Ausgängen, dem in Neurose wie dem in
    Perversion, vorbeugen soll; die Psychotherapie will den labileren der beiden
    Ausgänge rückgängig machen und eine Art von Nacherziehung einsetzen.

    Angesichts dieser Sachlage drängt sich von selbst die Frage auf, ob man
    nicht die Psychoanalyse für die Zwecke der Erziehung verwerten solle wie
    seinerzeit die hypnotische Suggestion. Die Vorteile davon wären augenfällig.
    Der Erzieher ist einerseits durch seine Kenntnis der allgemeinen menschlichen
    Dispositionen der Kindheit vorbereitet, zu erraten, welche der kindlichen
    Anlagen mit einem unerwünschten Ausgang drohen, und wenn die Psycho-
    analyse auf solche Entwicklungsrichtungen Einfluß hat, kann er sie in
    Anwendung bringen, ehe sich die Zeichen einer ungünstigen Entwicklung
    einstellen. Er kann also am noch gesunden Kinde prophylaktisch mit Hilfe
    der Analyse wirken. Anderseits kann er die ersten Anzeichen einer Ent-
    wicklung zur Neurose oder zur Perversion bemerken und das Kind vor der
    weiteren Entwicklung zu einer Zeit behüten, wo es aus einer Reihe von
    Gründen dem Arzt niemals zugeführt würde. Man sollte meinen, eine solche
    psychoanalytische Tätigkeit des Erziehers – und des ihm gleichstehenden
    Seelsorgers in protestantischen Ländern – müßte Unschätzbares leisten und
    oft die Tätigkeit des Arztes überflüssig machen können.

    Es fragt sich nur, ob nicht die Ausübung der Psychoanalyse eine ärzt-
    liche Schulung voraussetzt, welche dem Erzieher und Seelsorger vorenthalten

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    bleiben muß, oder ob nicht andere Verhältnisse sich der Absicht wider-
    setzen, die psychoanalytische Forschung voll verständlich geworden ist. Denn
    ich bekenne, daß ich keine solchen Abhaltungen sehe. Die Ausübung der
    Psychoanalyse fordert viel weniger ärztliche Schulung als psychologische
    Vorbildung und freien menschlichen Blick; die Mehrzahl der Ärzte aber
    ist für die Übung der Psychoanalyse nicht ausgerüstet und hat in der
    Würdigung dieses Heilverfahrens völlig versagt. Der Erzieher und der Seel-
    sorger sind durch die Anforderungen ihres Berufes zu denselben Rücksichten,
    Schonungen und Enthaltungen verpflichtet, die der Arzt einzuhalten ge-
    wohnt ist, und ihre sonstige Beschäftigung mit der Jugend macht sie zur
    Einfühlung in deren Seelenleben vielleicht geeigneter. Die Garantie für eine
    schnellere Anwendung des analytischen Verfahrens kann aber in beiden
    Fällen nur von der Persönlichkeit des Analysierenden heigracht werden.

    Die Annäherung an das Gebiet des Seelisch-Abnormen wird den analy-
    sierenden Erzieher nötigen, sich mit den dringendsten psychiatrischen Kennt-
    nissen vertraut zu machen und überdies den Arzt zu Rate zu ziehen, wo
    Beurteilung und Ausgang der Störung zweifelhaft erscheinen können. In
    einer Reihe von Fällen wird erst das Zusammenwirken des Erziehers mit
    dem Arzte zum Erfolge führen können.

    In einem einzigen Punkte wird die Verantwortlichkeit des Erziehers die
    des Arztes vielleicht noch übersteigen. Der Arzt hat es in der Regel mit
    bereits erstarrten psychischen Formationen zu tun und wird in der fertig
    gewordenen Individualität des Kranken eine Grenze für seine eigene Leistung,
    aber auch eine Gewähr für dessen Selbstständigkeit finden. Der Erzieher aber
    arbeitet an plastischem, jedem Eindruck zugänglichem Material und wird
    sich die Verpflichtung vorzuhalten haben, das junge Seelenleben nicht nach
    seinen persönlichen Idealen, sondern vielmehr nach den am Objekt haften-
    den Dispositionen und Möglichkeiten zu formen.

    Möge die Verwendung der Psychoanalyse im Dienste der Erziehung bald
    die Hoffnungen erfüllen, die Erzieher und Ärzte an sie knüpfen dürfen!
    Ein Buch wie das Pfisters, welches die Analyse den Erziehern bekannt
    machen will, wird dann auf den Dank später Generationen rechnen können.