Vorwort 1913-062/1928
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    VORWORT

    zu DIE PSYCHISCHEN STORUNGEN DER MANNLICHEN
    POTENZ von Dr. MAXIM. STEINER, Verlag Franz Deuticke,
    Leipzig und Wien 1913.

    Der Autor dieser kleinen Monographie, welche die Pathologie und Therapie
    der psychischen Impotenz des Mannes behandelt, gehört zu jener kleinen
    Schar von Ärzten, welche frühzeitig die Bedeutung der Psychoanalyse für
    ihr Spezialfach erkannt und seitdem nicht aufgehört haben, sich in deren
    Theorie und Technik zu vervollkommnen. Wir wissen ja, daß nur ein
    kleiner Anteil der neurotischen Leiden — welche wir jetzt als Folgen von
    Störung der Sexualfunktion erkannt haben — in der Neuropathologie selbst
    abgehandelt wird. Der größere Teil derselben fällt unter die Erkrankungen
    des betreffenden Organs, welches von der neurotischen Störung heimgesucht
    wird. Es ist nur zweckmäßig und billig, wenn auch die Behandlung dieser
    Symptome oder Syndrome die Sache des Spezialarztes wird, welcher allein
    die Differentialdiagnose gegen eine organische Affektion stellen, bei Misch-
    formen den Anteil des organischen Elements von dem des neurotischen
    abgrenzen und im allgemeinen Aufschluß über die gegenseitige Förderung
    von beiderlei Krankheitsfaktoren geben kann. Sollen aber die „nervösen“
    Organkrankheiten nicht als ein Anhang zu den materiellen Erkrankungen
    derselben Organe einer Vernachlässigung anheimfallen, welche sie bei ihrer
    Häufigkeit und praktischen Bedeutsamkeit keineswegs verdienen, so muß
    der Spezialist, sei er Magen-, Herz- oder Urogenitalarzt, außer seinen all-
    gemeinen ärztlichen und seinen Spezialkenntnissen auch die Gesichtspunkte,
    Einsichten und Techniken des Nervenarztes für sein Gebiet verwerten können.

    Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt bedeuten, wenn der
    Spezialarzt den mit einem nervösen Organleiden Behafteten nicht mehr mit

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    248 Geleitworte zu Büchern anderer Autoren

    dem Bescheid entlassen wird: „Ihnen fehlt nichts; es ist bloß nervös.“
    Oder mit der nicht viel besseren Fortsetzung: „Gehen Sie zum Nervenarzt,
    er wird Ihnen eine leichte Kaltwasserkur verordnen.“ Man wird gewiß auch
    eher vom Organspezialisten verlangen dürfen, daß er die nervösen Störun-
    gen seines Gebietes verstehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt,
    daß er sich zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an denen
    die Neurosen Symptome machen. Demnach ist vorauszusehen, daß nur die
    Neurosen mit wesentlich psychischen Symptomen die Domäne des Nerven-
    arztes bleiben werden.

    Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die Einsicht all-
    gemein wird, daß man keinerlei nervöse Störung verstehen und behandeln
    kann, wenn man nicht die Gesichtspunkte, oft auch die Technik der Psycho-
    analyse zu Hilfe nimmt. Diese Behauptung mag heute wie eine anmaßende
    Übertreibung klingen; ich getraue mich vorherzusagen, daß sie dazu be-
    stimmt ist, ein Gemeinplatz zu werden. Es wird aber ein bleibendes Ver-
    dienst des Autors dieser Schrift sein, daß er diese Zeit nicht abgewartet
    hat, um die Psychoanalyse in die Therapie der nervösen Leiden seines
    Spezialgebietes einzulassen,