S.
SÁNDOR FERENCZI †
Zuerst veröffentlicht in „Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse“, Bd. XIX, 1933.Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Wünschen wohlfeil ist, und darum
beschenken wir einander freigebig mit den besten und wärmsten Wünschen,
unter denen der eines langen Lebens voransteht. Die Zwiewertigkeit gerade
dieses Wunsches wird in einer bekannten orientalischen Anekdote aufgedeckt.
Der Sultan hat sich von zwei Weisen das Horoskop stellen lassen. Ich preise
dich glücklich, Herr, sagt der eine, in den Sternen steht geschrieben, daß
du alle deine Verwandten vor dir sterben sehen wirst. Dieser Seher wird
hingerichtet. Ich preise dich glücklich, sagt auch der andere, denn ich lese
in den Sternen, daß du alle deine Verwandten überleben wirst. Dieser wird
reich belohnt; beide hatten der gleichen Wunscherfüllung Ausdruck gegeben.
Im Jänner 1933 mußte ich unserem unvergeßlichen Freund K a r l
Abraham den Nachruf schreiben. Wenige Jahre vorher, 1925, konnte
ich Sándor Ferenczi zur Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres be-
grüßen. Heute, ein kurzes Jahrzehnt später, schmerzt es mich, daß ich auch
ihn überlebt habe. In jenem Aufsatz zu seinem Geburtstag durfte ich seine
Vielseitigkeit und Originalität, den Reichtum seiner Begabungen öffentlich
rühmen; von seiner liebenswerten, menschenfreundlichen, allem Bedeutenden
aufgetanen Persönlichkeit zu sprechen, verbot die dem Freund geziemende
Diskretion.
Seitdem das Interesse für die junge Psychoanalyse ihn zu mir geführt
hatte, haben wir viel miteinander geteilt. Ich lud ihn ein, mich zu be-
gleiten, als ich 1909 nach Worcester, Mass., gerufen wurde, um dort während
einer Festwoche Vorlesungen zu halten. Des Morgens, ehe meine Vor-
lesungsstunde schlug, spazierten wir miteinander vor dem Universitätsgebäude,
ich forderte ihn auf, mir vorzuschlagen, worüber ich an diesem Tage redenS.
398 Gedenkartikel
sollte, und er machte für mich den Entwurf, den ich dann eine halbe
Stunde später in einer Improvisation ausführte. In solcher Art war er an
der Entstehung der „Fünf Vorlesungen“ beteiligt. Bald darauf, auf dem
Kongreß zu Nürnberg 1910, veranlaßte ich ihn, die Organisation der
Analytiker zu einer internationalen Vereinigung, wie wir sie miteinander
ausgedacht hatten, zu beantragen. Sie wurde mit geringen Abänderungen
angenommen und ist noch heute in Geltung. In den Herbstferien mehrerer
aufeinanderfolgender Jahre verweilten wir zusammen in Italien und mancher
Aufsatz, der später unter seinem oder meinem Namen in die Literatur ein-
ging, erhielt dort in unseren Gesprächen seine erste Gestalt. Als der Welt-
krieg ausbrach, unserer Bewegungsfreiheit ein Ende machte, aber auch unsere
analytische Tätigkeit lähmte, nutzte er die Pause, um seine Analyse bei
mir zu beginnen, die dann durch seine Einberufung zum Kriegsdienst unter-
brochen wurde, aber später fortgesetzt werden konnte. Das Gefühl der
sicheren Zusammengehörigkeit, das sich unter soviel gemeinsamen Erleb-
nissen zwischen uns herausbildete, erfuhr auch keine Störung, als er sich,
leider erst spät im Leben, an die ausgezeichnete Frau band, die ihn heute
als Witwe betrauert.Vor einem Jahrzehnt, als die „Internationale Zeitschrift“ **Ferenczi** ein
Sonderheft zum 50. Geburtstag widmete, waren die meisten der Arbeiten
bereits veröffentlicht, die alle Analytiker zu seinen Schülern gemacht haben.
Aber seine glänzendste, gedankenreichste Leistung hatte er noch zurück-
gehalten. Ich wußte darum und mahnte ihn, im Schlußsatz meines Bei-
trags, sie uns zu schenken. 1934 erschien dann sein „Versuch einer Genital-
theorie“. Das kleine Buch ist eher eine biologische als eine psychoanalytische
Studie, eine Anwendung der Gesichtspunkte und Einsichten, die sich der
Psychoanalyse ergeben hatten, auf die Biologie der Sexualvorgänge, des
weiteren auf das organische Leben überhaupt, vielleicht die kühnste An-
wendung der Analyse, die jemals versucht worden ist. Als Leitgedanke wird
die konservative Natur der Triebe betont, die jeden durch äußere Störung
aufgegebenen Zustand wiederherstellen wollen; die Symbole werden als
Zeugen alter Zusammenhänge erkannt; an eindrucksvollen Beispielen wird
gezeigt, wie die Eigentümlichkeiten des Psychischen die Spuren uralter
Veränderungen der körperlichen Substanz bewahren. Wenn man diese Schrift
gelesen, glaubt man, zahlreiche Besonderheiten des Geschlechtslebens zu ver-
stehen, die man vorher niemals im Zusammenhang hatte überblicken können,
und man findet sich um Ahnungungen bereichert, die tiefgehende Einsichten
auf weiten Gebieten der Biologie versprechen. Vergeben, daß man schonS.
399 Gedenkartikel
heute zu scheiden versucht, was als glaubhafte Erkenntnis angenommen
werden kann und was nach Art einer wissenschaftlichen Phantasie zukünftige
Erkenntnis zu erraten sucht. Man legt die kleine Schrift mit dem Urteil
beiseite: das ist beinahe zuviel für einmal, ich werde sie nach einer Weile
wieder lesen. Aber nicht mir allein geht es so; wahrscheinlich wird es
wirklich einmal eine „Bioanalyse*“ geben, wie Ferenczi sie angekündigt hat,
und die wird auf den „Versuch einer Genitaltheorie“ zurückgreifen müssen.
Nach dieser Höchstleistung ereignete es sich, daß der Freund uns langsam
entglitt. Von einer Arbeitssaison in Amerika zurückgekehrt, schien er sich
immer mehr in einsame Arbeit zurückzuziehen, die doch vorher an allem,
was in analytischen Kreisen vorgiel, den lebhaftesten Anteil genommen
hatte. Man erfuhr, daß ein einziges Problem sein Interesse mit Beschlag
belegt hatte. Das Bedürfnis zu heilen und zu helfen war in ihm über-
mächtig geworden. Wahrscheinlich hatte er sich Ziele gesteckt, die mit
unseren therapeutischen Mitteln heute überhaupt nicht zu erreichen sind.
Aus unversiegten affektiven Quellen floß ihm die Überzeugung, daß man
bei den Kranken weit mehr ausrichten könnte, wenn man ihnen genug
von der Liebe gäbe, nach der sie sich als Kinder gesehnt hatten. Wie das
im Rahmen der psychoanalytischen Situation durchführbar sei, wollte er
herausfinden, und solange er damit nicht zum Erfolg gekommen war, hielt
er sich abseits, wohl auch der Übereinstimmung mit den Freunden nicht
mehr sicher. Wohin immer der von ihm eingeschlagene Weg geführt hätte,
er konnte ihn nicht zu Ende gehen. Langsam enthüllten sich bei ihm die
Zeichen des schweren organischen Destruktionsprozesses, der sein Leben
wahrscheinlich schon jahrelang beschattet hatte. Es war eine perniziöse
Anämie, der er kurz vor Vollendung des 60. Jahres erlag. Es ist nicht
glaublich, daß die Geschichte unserer Wissenschaft seiner vergessen wird.
freudgs12
397
–399